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Pressestimmen: Stuttgarter Zeitung -  Stuttgarter Nachrichten - Esslinger Zeitung
 
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„Ich rede! Komm zu Mir! Eine Heilssuche“

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Gusto grüßt von Stuttgarts Rampe,
jung, gesund und ohne Wampe,
fröhlich, mutig, sprungbereit.
Seine Losung:
ERDSTERNZEIT!
 
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Stuttgarter Zeitung; 19.05.2007 , Seite 34
Wonnewunderkugel-Weltenbaum
Das Nacktstück "!ICH rede! Komm zu MIR!!! Eine Heilssuche" ist in der Rampe
uraufgeführt worden

Wenn Schauspieler im Theater hüllenlos auftreten, fragen sich Zuschauer oft, warum. In dem Stück "!ICH rede! Komm zu MIR!!! Eine Heilssuche" spielen die vier Akteure bis auf klobiges Schuhwerk splitterfasernackt. Und
das leuchtet in der Produktion, die jetzt im Theater Rampe uraufgeführt wurde, absolut ein. Denn die vier Herren auf der Bühne sind ja Freigeister. Wenn Gusto Gräser (Kurt Grünenfelder) begeistert "Freibad! Mit reinem
Körper!" kräht, passt sein kleidungsfreier Körper wunderbar zu diesem Anti-Spießer- Schlachtruf. Der Psychoanalytiker Otto Gross (Nicolas Rosat) fordert lauthals, man müsse die angeblich krank machende Familie
zerschlagen. Gross' Körper bebt, und dabei schlenkert sein Gemächt vor sich hin.

Ein nackter Mann wirkt halt bisweilen einfach lächerlich, so lächerlich wie das großspurige Getue der vier Weltverbesserer, die alle historische Figuren sind. Gross fordert freie Sexualität. Der Berufsvagabund Gregor Gog
(André Becker) möchte alle Minderheiten akzeptieren, "sogar die Hasen". Thomas Hechelmann spielt schön eklig den faschistoiden Louis Haeusser, der sich zum Übermenschen stilisiert. Und der rührende Esoteriker Gusto Gräser erträumt sich einen "wirbeldrehenden Wonnewunderkugel- Weltenbaum".

Das Credo der vier? "Wir wollen die Welt verändern." Achtzig Prozent des Textmaterials, das die Regisseurin Christina Rast gemeinsam mit dem Ensemble erarbeitet hat, sind Zitate der vier schrägen Antibürger aus dem
ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts. "Wähle dich selbst", steht auf einem Spruchband oder "Die Welt geht unter." Da entstehen Bezüge zum Selbstverwirklichungsmilieu der siebziger Jahre und zur Gegenwart. Das
Stück hat sogar etwas mit Stuttgart zu tun. Gregor Gog lebte in Sonnenberg und organisierte 1929 auf dem Killesberg das Erste internationale Vagabundentreffen.

Bierernst ist diese Inszenierung nicht gestrickt. Das Publikum kichert knapp zwei Stunden lang vor sich hin, etwa wenn die vier Herren erst "Wir-Gefühl" und Freundschaft feiern, sich aber später hauen und würgen. Christina Rast schafft es, mit viel Slapstick die Luft aus den Texten der vier Utopisten herauszulassen. Doch Rast veralbert sie allzu sehr. Der widerständige, die Gesellschaft radikal in Frage stellende Impetus der Bohemiens war bis auf Haeussers autoritäre Fantasien doch auch respektabel.

Tolle Schauspielerei bietet Kurt Grünenfelder. Wie eine Mixtur aus Mick Jagger und einem Ausdruckstänzer der zwanziger Jahre hüpft er über die Bühne und kündet als Gusto Gräser von "holder Dreifalt", die "aus Unheimschutt Urheimathütte schafft". Das Publikum spendete der neuen Rampe -Produktion einen langen Applaus

Weitere Aufführungen heute sowie am 19., 29., 30. und 31. Mai

Von Cord Beintmann

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Stuttgarter Nachrichten; 15.05.2007 , Seite 16
"Welch ein Willen, gesellschaftlich etwas zu bewegen"
Die Regisseurin Christina Rast erklärt, wie vier selbst ernannte Heilsbringer den Weg auf die Bühne des Theaters Rampe finden

ICH rede! Komm zu MIR!! Eine Heilssuche" heißt ein Theaterprojekt, das an diesem Donnerstag um 20 Uhr im Theater Rampe uraufgeführt wird. Ein Gespräch mit der Regisseurin Christina Rast.

Frau Rast, wer ist das ICH Ihrer Heilssuche und was für ein Heil erwartet uns?

Da muss ich ein wenig ausholen. Die Intendantin Eva Hosemann hatte mir vor einigen Jahren davon erzählt, dass Stuttgart zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art Sammelbecken für sehr viele sehr interessante selbst ernannte
Heilige war. Es gab viele Wanderprediger, Gurus, Barfußpropheten. 1929 wurde in Stuttgart ein Obdachlosenkongress abgehalten. Es ist erstaunlich, wie viele Strömungen und Weltverbesserungsansätze und Ideologien es gab. Manche wollten zurück zur Urmutter, es gab Nationalisten, Anarchisten, Faschisten, Dadaisten . . .

Und die alle rufen ,Komm zu mir'?

Wir konzentrieren uns auf vier Positionen, die von verschiedenen Figuren verkörpert werden. Auf die damals noch junge Psychoanalyse in Gestalt von Otto Gross, auf die Esoterik in der Person von Gusto Gräser sowie auf
Gregor Gog, der lange in Stuttgart tätig war und die "Bruderschaft der Vagabunden" gegründet hat, er trägt individual- anarchistische Züge, später wurde er Kommunist. Louis Haeusser ist der Vierte, der in Stuttgart sehr
aktiv war, er predigte völkisches Gedankengut und warb für ein starkes Deutschland, aber ohne ein explizites Feindbild zu propagieren. Und natürlich glauben alle, die Weltformel gefunden zu haben.

Viel Theorie, wie wird daraus ein Theaterabend und kein soziologisches Seminar?

Wir erarbeiten den Abend in einem Work in Progress. Jeder Schauspieler hat sich mit einer Ideologie vertraut gemacht und sich durch einen riesigen Packen Material gearbeitet. Am Anfang spazierte jeder Schauspieler mit
einem Papierberg über die Bühne. Diesen unglaublichen Gedankenwust haben wir verdichtet, achtzig Prozent des Textes sind Originalzitate, den Rest haben wir erfunden. Wir verzichten dabei weit gehend auf Biografisches und
lassen die Ideologien der Figuren auf der Bühne aufeinanderprallen: Vier Männer, die zusammenkommen, um zunächst gemeinsam etwas zu verändern, doch dann entdecken, dass jeder völlig andere Ideen hat. Ich halte es für
wichtig, sich nicht über die Figuren lustig zu machen, gleichwohl aber zu zeigen, wie absurd es ist, wie die Männer mit ihren größenwahnsinnigen Ideen die Welt erlösen wollen.

Es ist seither viel Zeit vergangen, die meisten Heilsversprechen haben sich inzwischen als obsolet erwiesen. Was sagen uns die Kämpfe dieser vier Männer heute noch?

Wir wollen kein Exotenkabinett präsentieren. Im besten Fall sieht der Abend so aus, dass vier Figuren den Zuschauer mit auf eine Reise nehmen, dass sie zeigen, mit welchem Impetus, mit welchem Willen, gesellschaftlich etwas zu bewegen, sie durchs Leben gegangen sind - und auch wie traurig diese großen Weltverändererer mit ihren Ideen gescheitert sind. Man kann an so einem Abend sehr viel über Geschichte erzählen und über Menschen, über den doch grundsätzlich zu begrüßenden Willen zur Veränderung, zur Verbesserung gesellschaftlicher Missstände - auch wenn natürlich an die großen Heilsversprechen heute keiner mehr glaubt.

Fragen von Nicole Golombek

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Heimat- und hüllenlos

„Ich rede! Komm zu Mir! Eine Heilssuche“ am Stuttgarter Theater Rampe uraufgeführt

Esslinger Zeitung 24.05.2007

Von Petra Bail

Stuttgart - Nackt und bloß, wie der Herr sie schuf, stehen die vier Männer am Bühnenrand und schleudern ihre Parolen ungebremst ins Publikum. Alles was sie am Leib haben, sind Socken und festes Schuhwerk. Aber im Leib, da brennt das Feuer, da lodert die helle Wut, die blanke Verzweiflung, die schiere Not. Die schreien sie heraus, bis sich feine Schweißperlen an allen Körperstellen bilden. Rampe-Chefin Eva Hosemann hatte die Idee, das Wirken der vier exzentrischen Schwadroneure auf die Bühne zu bringen. Das Konzept stammt von Christina Rast, die auch Regie führte und den Schauspielern viel Freiheit zur individuellen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Figur einräumte. „Ich rede! Komm zu mir! Eine Heilssuche“ wurde jetzt am Theater Rampe uraufgeführt.

Kampf den Konventionen

Am augenfälligsten ist die Nacktheit, die immer ungünstig wirkt, so ins Rampenlicht gezerrt. Da werden die Menschen in den Zuschauerreihen mit prallen Bäuchen, schlaffem Fleisch und Behaarung an der falschen Stelle konfrontiert. Diese Hemmschwelle zu überwinden erfordert Mut. Doch was kümmert einen Revolutionär Konventionen? So selbstverständlich sind André Becker als Gregor Gog, Kurt Grünenfelder als Gusto Gräser, Thomas Hechelmann als Louis Haeusser und Nicolas Rosat als Otto Gross in ihre zweite Haut geschlüpft, dass man das fehlende Kostüm irgendwann zwar nicht mehr wahrnimmt. Die Frage drängt sich allerdings auf: Wird das Stück durch die fehlenden Textilien interessanter oder hätte es sich auch ohne optischen Kick selbst getragen? Von dem Moment an beginnen die Worte zu wirken. Die unterschiedlichen Parolen und Phrasen prallen mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander, ebenso wie die verschiedenen Welten, in denen die Träumer leben. Dabei verfolgen sie ein und das selbe Ziel: die Welt zu verbessern. Trotz einiger Gemeinsamkeiten wie Gefängnis- und Anstaltsaufenthalte finden die vier keinen Konsens. Ihre Ansichten sind nicht kompatibel, was Christina Rast körperbetont umsetzt als Handgemenge, Beißen, Schlagen auf einer fast leeren Bühne, die mit Sprüchen gepflastert ist (Franziska Rast). Das Scheitern der wahrheits- und heimatsuchenden Anarchisten ist programmiert. „Jeder lebt in seiner Welt und meine ist die Richtige.“


Das Stück hat keine stringente Handlung. Collagenartig verschachtelt Christina Rast einzelne Handlungsstränge ineinander, die aus leidenschaftlichen Monologen oder schlachtartigen Diskussionen bestehen, überwiegend Originalzitate der historischen Figuren.Da ist beispielsweise Gusto Gräser, 1879 in Siebenbürgen geboren, ein besessener Wanderer, auf der Suche nach Heimat: „Mein Los sei ein Heimat-Los.“ Der Bettnässer und Kriegsdienstverweigerer erklärte Stuttgart zur Hauptstadt der Bewegung zur Erneuerung der Welt: „Meine Herzgegend“. Um 1913 hält er jeden Sonntag im Bopserwald seine „Waldandachten“. 1933 kommt er ins KZ, wird entlassen und stirbt einsam und verarmt 1958 bei München. Nicolas Rosats Gross kennt den Grund des globalen Scheiterns: Das „Wir“, das es nicht gibt. „Wir alle sind unglücklich, wir alle mussten untergehen.“ Der österreichische Arzt, Psychiater und Anarchist, 1877 geboren, gründet die „Hochschule zur Befreiung der Menschheit“ im Wald von Ascona. André Becker als Gog ist ein extremer Freidenker, der sich in keinerlei konventionellen Zwängen verstrickt. Louis Haeusser hingegen hat lange eine bürgerliche Existenz. 1881 in Bönnigheim geboren, absolviert er eine Kaufmannslehre in Stuttgart. Später vertreibt er Champagner, hat pekuniäre Probleme und gerät mit dem Gesetz in Konflikt. Hechelmann spielt den vielleicht charismatischsten Anarchisten mit Nachdruck. Als gerapter Variante erklingt sein skandierender Ruf nach Redefreiheit für Haeusser. Nahe am Größenwahnsinn stirbt der barfüßige „Prophet der Wahrheit“ als gebrochener Mann 1927 in Berlin. Zwischen 1900 und 1929 streiften diese ideologischen Strömungen und ihre Verbreiter Stuttgart, wodurch das bemüht zeitlose Stück geographisch verortet ist. Hier spielt sich der verbale Schlagabtausch ab, der dem Publikum in 90 Minuten einiges an Konzentration abverlangt. Auch wenn sich nicht alles einordnen lässt, ist man am Ende gefangen von der Leidenschaft und der Intensität eines ungewöhnlichen Bühnenstücks, das wohl auch mit Kleidern funktioniert hätte.

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