5. 8. 13
Eröffnung Selas, dass sie wohl als
Seelenfreundin, nicht aber als Weib an meine Seite treten könne ...
Heilung
ihrer kranken Schwester durch ihren Anschluss an mich ...
5. 8. 1913
Heute vor einem Jahr bin ich vor der
rasenden Brutalität meines Sohnes Helios gegen mich von hier weg nach
Palermo
geflüchtet. Heute früh verließ ich nach völlig schlafloser Nacht mein
Lager in
der freudigen, belebenden Hoffnung, in einer Stunde die Bestätigung der
Aussicht zu erhalten, die mir gestern abend in der feierlichen Stille
und
Einsamkeit der Malerplatte zuteil geworden war: ein Weib gefunden zu
haben, das
zusammen mit seiner Schwester mein schreiendes Bedürfnis nach
sympathischer
weiblicher Umgebung zu befriedigen vermöchte. Nach 3stündigem
beängstigendem
Warten kommt Sela Tannenberg, gerade in dem Augenblick, als Lilli mir
das
Frühstück brachte. Der wütende Kampf ihres jungen Hundes gegen die
Katze ...
sowie das feindselige Verhalten Lillis gegen den Hund und dessen Herrin
brachten zunächst einen schrillen Mißton in meine bebende
Hoffnungsstimmung.
Wahrhaft entsetzt aber und aus dem Hoffnungshimmel,(447) in
welchem ich die schlaflose Nacht
verbracht, gestürzt wurde ich durch die Eröffnung Selas, daß sie wohl
als
Seelenfreundin, nicht aber als Weib an meine Seite treten könne und daß
ihre
Schwester ebenfalls völlig unfähig eines solchen Gefühls für einen Mann
sei.
[Geschwärzt:
Sie hat seit dem Tode ihres Vaters (vor 6 Jahren) "Stimmen" gehört
und Eindrücke empfangen, nach welchen sie überzeugt sei, daß sie von
einer
höheren Macht geführt werde, die sie von allem Sinnlichen weg zu
reissen ...(unleserlich)
… Übersinnlichen leite. Diese Überzeugung sei durch die Worte, die
persönlich
zu ihr gesprochen ... Dr. R. Steiners so
sehr... daß sie nichts ... abzubringen vermöge.]
Auf meine
Vorstellung ihres herzlichen,
sich hingebenden Entgegenkommens vom gestrigen Abend (das sie schon
seit 5
Tagen in mehrmaligen vergeblichen Versuchen, mich zu Hause zu treffen,
mir
bezeigen wollte) erklärte sie, daß sie sich, weil elastischer und
impulsiver
als ihre Schwester, zuerst durch meinen Antrag beglückt gefühlt habe,
umsomehr
als sie schon nach ihrem ersten gemeinsamen Besuch mit ihrer Schwester
dieser
beigestimmt habe, daß sie beide meine Klage über meine Einsamkeit
befriedigen
könnten, und daß sie gestern abend, überwältigt von der Großartigkeit
des Ortes
und meiner Worte, mir an die Brust gesunken sei; daß sie dann aber in
der auch
für sie schlaflosen Nacht wieder "zu sich selbst", d.h. wieder zum
Bewusstsein gekommen sei, (geschwärzt: daß sie ja im Reich des
Überirdischen
lebe und deshalb sich keiner körperlichen Liebe hingeben dürfe.) Sie
habe es
sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihre leidende Schwester zu pflegen und
sei
bereit, auch mir eine mütterlich-schwesterliche Pflege zu Teil werden
zu
lassen, soweit sich dies mit der Pflege ihrer Schwester vereinigen
ließe. Sie
glaube aber nicht, daß ihre Schwester sich in meine gewaltigen
Verhältnisse
einzuleben und daß sie mir an Arbeitshilfe gar das zu bieten vermöge,
was ich
von ihr erwarte.
Ich war
sprachlos über solche gänzliche
Ignorierung aller meiner Vorstellungen gerade über die Heilung ihrer
kranken Schwester durch ihren Anschluß an mich,
ohne welchen diese trotz aller aufopfernden Pflege nicht gesunden wird.
(448)
Den Brief
nachmittags zu schreiben
wurde ich gehindert durch den Besuch der Leipziger Lehrerin,
[geschwärzt: Marie
Schede], 48 Jahre alt, humorvoll und künstlerisch gebildet, die schon
tags
zuvor meine Ausstellung besichtigt hatte und jetzt mit höchstem
Interesse in
meine Werkstätte kam. Sie spielte und sang mir vor, als ob sie
altbekannt mit
mir wäre, während ich mich, essend, auf meinem Lager ausruhte. (449)
[Eintragung
von Marie Schede, von Diefenbach „Eiszapfen“ genannt:] Brrrrr:
Meister D. hatte mir eben erzählt, daß er früher alle Menschen "Du (?)"
genannt habe. I. weil er den grammatic. Unsinn der "Sie" Anrede und
II. die darin liegende conventionelle Fremdstellung der Menschen nicht
mitmachen wollte. - M.Eiszapfen. (450)
Dann
war Mme Claparède aus Genf mit ihrer Tochter gekommen,
die ich zum "Cap Diefenbach" führen wollte. Die Leipzigerin [Marie
Schede] schloß sich diesem Gange an ... Am Polyphem erklärten alle mit
Ausnahme
der Tochter von Mme Claparède und der Leipzigerin, daß ihnen der Weg
zum Cap D.
zu weit und zu gefährlich sei, worauf wir uns veraschiedeten und ich
mit der
Lehrerin allein weiter ging.
11. 8. 13
Enttäuschung meiner Hoffnung auf
Anschluss der beiden Schwestern Tannenberg ... da sie ebensowenig wie
jene sich
ein Doppelverhältnis zu mir, das ich von Natur aus für möglich und
berechtigt
halte, zu denken vermag.
13. 8. 13
Besuch bei den
Schwestern Tannenberg (5 Seiten)
25. 10. 13
Später kam Sela ...Vor ihrem Weggehen
gab sie mir einen Pack der von Mathilde Scholl herausgegebenen
'Mitteilungen an die anthroposophische Gesellschaft',
dabei erklärend, daß diese nur an "Eingeweihte", die Theosophie
würdigende
Personen weitergegeben werden dürften, weshalb sie dieselben seither
auch mir
vorenthalten habe. -
Die junge
Schweizerin [Josephine Rikli]
war nicht gekommen und kam auch während des ganzen Tages nicht, was mir
peinlich und nur (630) dadurch erklärlich wurde, daß auch sie sich
bestürzt
gefühlt haben könne über meinen ihr gemachten Antrag. - Die theosoph.
Mitteilungen erregten mein höchstes Interesse; waren es doch gerade
diejenigen
Veröffentlichungen über den mir durch Frau Poolmann-Mooy und
Dr.Kubylinssky
mitgeteilten Bruch zwischen Dr. Rudolf Steiner und Mrs. Annie Besant
(Adyar auf
Ceylon).
24. 10. 13 ...
ausser der imponierenden
Persönlichkeit Dr. Steiners der ideale ... Charakter Selas, die wie ein
Engel
mich Antitheosophen seit 5 Wochen
pflegt ...
26. 10. 13
... Dann kam Sela, die mir ein sehr gutes Bild
von Dr.Rudolph Steiner mitbrachte ... Erst gegen Abend kam die
Schweizerin [ Josefine Rikli] ...
27. 10. 13Tagebuch:
Nur noch meine
Lebensgeschichte, kein anderer Gedanke und vor allem kein anderes Wort
mehr über meine Lippen!
(Tgb
31, S. 642)
30.
10. 13
Tagebuch: Nachts 3 Uhr. Ich kann nicht
mehr schlafen, trotzdem ich bis 11 Uhr gestern Abend im
Convers.-Lexikon
gelesen, um mich zu betäuben. Ein schwer gedrückter Tag lag hinter mir.
Die theosophische "Übersinnlichkeit" d.h.
Überirdischkeit Sela's, die sie auf der einen Seite befähigt, mir
engelhaft jeden Dienst in hingebender Weise zu tun, läßt sie mich wie
eine
kalte gefühllose Sphinx anstarren, wenn ich sie umarmend küsse, was sie
geduldig sich tun läßt, ja selbst erwidert, weil es mir "Bedürfnis"
sei auf dem "irdischen Plane", auf welchem ich mich noch befände.
Wahrlich, dies ist der Gipfel höllischer Schicksals-Ironie, nach
solchen
abstoßenden Erfahrungen mit dem Weib, die ich unter verzehrendem
Verlangen mein
ganzes Leben hindurch machen mußte (mit geringen Ausnahmen) jetzt ein
Weib um
mich zu haben, das außer seelischer höchster Liebenswürdigkeit und
Natürlichkeit einen so edel gebauten Leib besitzt, daß der Künstler in
mir
danach verlangt, denselben ohne Hüllen zu schauen, mich allein durch
das
Anschauen zu erquicken in der entsetzlichen Öde meines
Lebendig-begraben-seins
und dieses entzückend kindlich-naive schöne Weib durch den
theosophischen
Wahnsinn derart erfüllt zu sehen, daß es sich mit heroischer
Selbstbeherrschung
meiner bis dahin hingebend geduldeten und erwiderten Umarmung
entwindet, wenn
jeder Nerv danach verlangt, es ganz zu genießen! Tantalusqualen bei
Sysiphus-Arbeit!
(Tgb
Nr.31, S.657)
Mit
vorstehenden beiden Schreiben hat
heute morgen Sela
ihren mir durch 2 Monate hindurch
geleisteten Samariter-Dienst abgeschlossen.(661) ...
Porträt Steiners ... sein Bild lebensgroß malen möchte (662)
...
30. 10. 13
Sela
Tannenberg
an Elfriede Hartmann,
Neapel:
Liebes
Fräulein, die geplante Reise
M.D's nach Deutschland
hat sich als unausführbar erwiesen und
er ist genötigt hier auszuharren und seine Verhältnisse von hier aus zu
ordnen.
Die Lage, in der sich augenblicklich befindet, ist die denkbar
schwierigste,
aber er trägt sie mit Geduld, ein Beispiel gebend denen, die ähnliches
durchmachen müssen, wie auch Sie. Es hat M.[Meister] beruhigt durch
Karl Gleissner,
der in treuer Anhänglichkeit seit 1
1/2 Jahren zu ihm steht und ihn vor einigen Wochen hier auf 3 Tage
besucht hat,
zu hören, dass er in dem Hause Ihrer Herrschaft freundschaftlich
verkehrt und
dieselbe als human denkend bezeichnet. ...
Seit 8 Tagen verlässt M. auf einige Stunden das Bett und sehnt sich
darnach
bald wieder schaffen zu können.
(Tgb
31, S.660)
30. 10. 13
Sela
Tannenberg
an Karl Gleissner,
Neapel:
Sie haben
wohl jeden Tag eine
Benachrichtigung über den Tag und die Stunde der Abfahrt des Meisters
erwartet.
Die Ausführung des Dädalusflugs
hat sich aber als unausführbar
erwiesen und sieht sich der M. gezwungen, trotz der denkbar
schwierigsten Verhältnisse
seiner Lage auch weiter hier auszuharren.
(Tgb
31, S.660)
31.
10. 13
In traulicher Umarmung besprachen wir
unsere Stellung
zu einander, die ihrem Herzen nicht minder tief gewurzelt ist als in
dem
meinigen ... stand doch noch kein Weib meinem innersten Empfinden so
nahe wie
sie.
(Tgb 31, S.665)
4.
11. 13
Hierauf mußte ich aus dem Munde Selas das
tausendmal
mir vorgehaltene Philister-Urteil nochmals anhören, daß sie kein
zweites Bild
anfangen würde, ehe nicht das erste vollendet sei.
(Tgb
31, S.685)
5.
11. 13
Etwas weniger hoffnungslos betrachte ich
die Stellung
Stellas zu mir. Marie Schede an meiner Seite würde sie oder wenigstens
ihre
Kinder für mich retten; Sela Tannenberg ist dazu nicht
fähig.
(Tgb
31, S.691)
24. 11. 13 Als
ich mir heute morgen,
eben erwachend, die Schlaftrunkenheit aus den Augen rieb, trat,
unhörbar, Sela
vor mich hin. ... Sie reichte mir - nicht die Hand sondern die beiden
Briefe
mit den Worten: "ich habe beim Lesen dieser Briefe denken müssen: 'es
fiel
ein Reif in der Frühlingsnacht' und schaute mich dabei mit starren weit
aufgerissenen Augen an, wie angewurzelt am Fußende meines Bettes stehen
bleibend. Auch dies hatte ich erwartet und war in Ruhe, wenn auch
schmerzlich
bewegt, darauf gefaßt. Ehe sich unser Lebensabschied vollzöge, (809)
nach einer
1/4 jährigen so innigen Stellung zueinander ... (810) ... indem ich ihr
den
Brief von Elfriede Hartmann zu lesen gab und ihr danach sagte, daß die
Abels es
übernommen habe, mit derselben in Neapel ihren Anschluß an mich zu
besprechen
und in die Wege zu leiten.
(Tgb
31, S.810)
Grausamer
als ein Tiger ist das Weib,
durch Eifersucht zur Bestie geworden! Und auch Du, Sela, die Du mich
wie ein
Engel vom Himmel gepflegt hast, der ich heute noch in Gedanken die
Hände küsse
in unverlierbarer Dankbarkeit für das, was Du mir in diesen 3 Monaten
als
Samariterin geboten hast, auch Du kannst Dich nicht, trotz den höheren
selbstlosen Sphären Deines theosophischen Wahnes, erheben über eine
solche
Bestien- und Philister-Weiblichkeit! ...
Die
Empfindung eines letzten
Abschiedskusses und einer letzten Abschieds-Umarmung zuckte durch unser
beider
Gehirn - im Augenblick, als ich sie zum letzten Mal an meine Brust
ziehen
wollte, klopfte - ein Deus ex machina - Schafheitlin, der
Weibverächter, meinen
Namen rufend an der äußeren Türe. ... Nach einem nochmaligen
virbrierenden
Handdruck ging Sela hinaus, um Schafheitlin zu öffnen und zugleich
dabei sich
zu entfernen. (814)
6. 12. 13
Da ich wieder seit mehreren Tagen nicht
mehr an der Luft war und ich nicht zu befürchten brauchte, Helios auf
der
Straße zu begegnen (!), begleitete ich Sela bis in die Nähe ihrer
Wohnung ...
(Tgb
31, S.873)
9. 12. Abends
Als ich
gestern Sela den Brief an
Elfriede H. diktiert hatte, war ich so müde im Kopf, daß ich nicht
aufzustehen
vermochte. Sela nahm den Aufsatz mit nach Haus, um ihn dort ins Reine
zu
schreiben. Nach meinem Mittagessen verfiel ich in bleiernen Schlaf,
nach
welchem ich mich aufraffte, um wenigstens noch eine Stunde zu malen.
Der Sturm
heulte mit immer steigender
Wut, das ganze Meer war mit Schaumwellen bedeckt, der Wind blies durch
die
geschlossenen Fenster und Türen hindurch, sodaß der Aufenthalt in
meiner
Werkstätte höchst ungemütlich war.
Es trieb
mich zum Meer hinunter zur
Nordseite, wo die Brandung am heftigsten sein mußte. Auf die Arme der
beiden
jungen Leute gestützt sprangen wir im Laufschritt die Treppenstraße
hinunter,
zum Kopfwackeln der uns begegnenden Capresen und Fremden. Auf der
ebenen Straße
erklärte ich Gleißner des "Faust" dritten Teil von Deutobald
Allegorowitsch
Symbolizetti Mistifizinski, den er sich kaufen will.
Auf den
einsamen Wegen zwischen
Gartenmauern lief der Riese Spener wie ein kleiner Junge einem Hund
nach, der
heulend vor dem Ungeheuer das Weite suchte. Gleißner zeigte mir das
Haus, in
welchem Stella mit ihren Kindern den Sommer über gewohnt hat, während
das obere
Haus leer stand; es habe nur 100 L. gekostet. Mich kostete es mehr.
Den
schmalen Fußpfad zum Meer hinunter
mußten wir hinter einander gehen. Als wir zum letzten Teil der steilen
Standtreppe kamen, packte uns der Sturm von unten her derart, daß wir
uns kaum
aufrecht halten konnten. Das Meer bot das gewaltigste Schauspiel
entfesselter
Naturgewalten. In langen schweren Zügen rollten die Wellen heran, um an
den
Trümmern des alten Tiberius-Palastes schäumend zu zerschellen. Auch der
Contrast der Farben war großartig: gegen Ischia der noch glühende
Reflex der
untergegangenen Sonne, vor uns der weiße Gischt des tobenden Meeres,
das sich
schwarz-grün heranwälzte und hinter uns stand der Mond fast voll am
Himmel.
Ich
bedauerte, die Schwestern
Tannenberg nicht eingeladen zu haben (887) zu diesem Schauspiel und
beschloß,
dies noch jetzt zu tun, um im Mondschein nochmals denselben Weg mit
ihnen zu
machen. Auf der Piazza trennte sich Graser von uns, der wieder den
Küchenjungen
spielen mußte. Gleißner fror, daß er schlotterte; er hatte keinen
Mantel bei
sich.
Von den
Schwestern Tannenberg war nur
die jüngere zu Haus, die uns einlud, in das geheizte Nebenzimmer zu
kommen und
sich förmlich schüttelte, als ich den Zweck meines Kommens aussprach;
sie wähle
sich, um die Brandung zu sehen, einen ruhigeren Tag; vielleicht würde
ihre
Schwester mitgehen, die sei aber bei Frln. Huber. Wenn auch nicht
unfreundlich,
so war das Wesen der jüngeren Schwester doch nicht derart, daß ich Sela
erwarten wollte. Über meine Schilderung, wie ich schon als Knabe die
entblößte
Brust dem Sturme auf dem eigens dazu erstiegenen nächsten Berge der
Umgegend
entgegengehalten, schüttelte sie den Kopf - ein mit jeder Faser mir
widerstrebendes Philister-Wesen, während Sela, wäre sie nicht so sehr
von dem
Wahn der Theosophie durchdrungen, mit mir durch Dick und Dünn gehen
würde. ...
Der Sturm
tobte die ganze Nacht, daß
ich nur wenig schlafen konnte. Eiskalt bläst der Wind durch meine
Werkstätte
und meinen Wohnraum, die Türen klappern, das Feuer wird als stinkender
Rauch
aus der Aschentüre herausgeblasen - da soll ich in meinem Zustand das
Bett
verlassen und malen! Die Katze wärmt meine eiskalten Füße. Ich erwarte
Sela zum
Schreiben weiterer drängender Briefe, die ich vom Bett aus diktieren
kann. (888)
9.
XII. Abends.
Sela kam
erst gegen 11 Uhr, sich
entschuldigend, sie sei schon seit 9 Uhr unterwegs und habe einen Gang
machen
müssen, über welchen sie nicht reden könne (!), der sie so lange
aufgehalten.
Ich wollte die kurz bemessene Zeit nicht zu einer Inquisition benutzen
und ließ
deshalb diese auffallende Bemerkung für jetzt unbeachtet. ... An dem
Bild für
Herrn von Blücher war noch die Schlange und einige
Schatten an dem Körper des Kindes auszuführen, was mir bis 5 Uhr
gelang. ...
(891) Wie zu meiner Belohnung kam Sela in dem
Augenblick, als ich den letzten Pinselstrich gemacht, sodaß sie das
Bild
noch vor Dunkelheit kritisch betrachten konnte. Ihr Schweigen mußte ich
mir als
Zeichen deuten, daß sie jetzt nichts mehr an dem Bild auszusetzen fand.
Wieder
um einen Stein leichter, verließ ich, auf ihren Arm gestützt, meinen
Kerker;
noch begleitet von Gleißner, dem Helios oben seine Mißbilligung
ausgesprochen,
daß ich bei so schneidend scharfem Nordwind ausgehe bei meinem
Brustleiden; er
glaubte Gleißner sei die Veranlassung zu diesem "unvernünftigen"
Gang, worüber dieser ihn aufklärte. Er ahnt nicht, wie er mir meine
Werkstätte
zum Kerker, zur Grabeshöhle gemacht hat, aus der es mich mit Gewalt
hinaustreibt
in die freie Natur, und gar zu dem gewaltigen Schauspiel heftigster
Meeresbrandung, dem Sinnbild meines Lebenskampfes. ...
Es war
dunkler wie gestern, poetischer
und der Mond günstiger. Sela war noch nie am Bagno di Tiberio, worüber
Gleißner
sich wunderte. Er ahnt nicht, welche ernste Pflichtnatur Sela ist. Als
wir auf
dem schmalen Fußpfad hintereinander gehen und dabei abwärts steigen
mußten,
wurde mir schwindlich, und als uns am Rand des Meeresufers der Sturm
packte,
mußte mir Sela die Hand reichen, um ohne Gefahr die steile Treppe
hinunter zu
kommen zum Strande. Bei jeder Biegung machten wir halt, um
auszuruhen,und dabei das Toben unter unseren Füßen zu betrachten. Wenn
auch nicht mehr ganz so heftig wie gestern, bot das Meer uns unten am
Strand,
wo ich mit Sela mich an eine antike Mauerruine anlehnte, während
Gleißner noch
weiter kletterte, auch heute ein gewaltiges, aufregendes Schauspiel.
Wie aus
einem Munde sprachen wir es aus, ohne Meer nicht mehr leben zu können.
Sela ist
am Meeressstrand in Rußland geboren und groß geworden.
Wir standen
lange schweigend neben
einander; ich küßte ihr beim Weggehen still die Stirne. Sie war heute
schwarz
gekleidet und verschleiert wie eine Nonne. (892)
10. 12.
Tagebuch:
In jähem
Aufraffen stand ich heute morgen schon eine Stunde an der Staffelei,
als Sela um 1/2
10 Uhr kam. Ich gab ihr den Brief meiner Jugendfreundin Wagner zu lesen
und
danach Informationen zu dessen Beantwortung ...
Als sie den
Brief vollendet, sagte ich
ihr, daß ich unbedingt mit Abels sprechen müsse, welche, da sie nach
Helios'
Weggang die Ausstellung verwalten wolle, jetzt die Vermittlung der
nötigen
geschäftlichen Abmachungen zwischen mir und Helios übernehmen müsse,
worauf sie
mir sagte, daß Helios bei jeder Zusammenkunft äußere, er müsse mit mir
persönlich das Unternehmen für Kairo besprechen, andernfalls sei
dasselbe
unmöglich. Sie habe ihm darauf erklärt, daß jede seiner Begegnungen mit
mir
mich derart aufrege, daß ich unfähig
werde zum Reden und zum Arbeiten; er solle ihr das Wesentliche kurz
aufschreiben und erklären, damit sie es mir übermitteln könne, was sie
gerne
tue; er habe dies versprochen, aber nicht gehalten. Sie habe ihm
gesagt, daß
Abels ihn überschätzt habe, daß er ein schwacher Charakter und jetzt so
leidend
sei, daß auch ihn jede Begegnung mit mir aufrege und zur Heftigkeit
verleite,
welche ich nicht mehr ertrüge und deshalb für uns beide vermieden
werden müsse.
... Aus dem selben
Grund sowie aus Vorkommnissen über welche zu reden sie kein Recht habe
(!),
halte sich auch Abels seit einigen Tagen von ihm fern. -
Welch'
heillose Situation! (Tgb Nr.31,
S.897)
11. 12. 13
Gegen
5 Uhr
kam Sela mit der Abels, welcher ich sagte, daß ich sie jetzt in der
Dämmerung hätte aufsuchen wollen, da ich sie dringend sprechen müsse.
Sie fühlt
sich elend, übermüdet, unfähig mit Helios weiter zu verhandeln. Sein
Rasen
lähmt Alle. Ich müsse direct mit ihm
verkehren, wenn mir dies persönlich nicht möglich sei, dann schriftlich
durch
[Georg] Graser (!)
.
(Tgb
Nr.31, S.899)
Als ich zur
Charakterisierung und
Erklärung der Trotz-Stellung Helios' gegen mich seit 22 Jahren die
Handlungsweise seiner Mutter in der Nacht vor seiner Geburt schildern
wollte,
wurde ihr übel; sie lief, meine Begleitung abwehrend, hinaus, von Sela
gefolgt,
die gleich darauf zurückkam, ein Glas Wasser zu holen.
Mit
zitternder Hand mußte ich bei fast
völliger Dunkelheit noch einige durch den Besuch unterbrochene
Pinselstriche an
dem kleinen Bilde machen, um Härten nicht antrocknen zu lassen. Mein
Kunstschaffen seit 38 Jahren! Und dabei solche Kritik meiner
Rückständigkeit
gegen "Fidus"! Es ist zum Wahnsinnig-Werden.
Nach kurzer
Zeit kamen die beiden
Freundinnen wieder in meine Werkstätte zurück, jede ihr Päckchen
holend. ...
Sela versprach, heute morgen wiederzukommen. Ja, ich
"verbrauche viele Menschen"! -
Mir drehte
sich alles um mich. Ich ließ
mir durch Graser die Schuhe wechseln, den Wintermantel umhängen und
suchte,
gestützt auf seinen Arm, Erholung im Freien von der Höllenmarter meines
Hauses.
Ein großartiger Himmel - Nachsonnenuntergang und spiegelglattes Meer
ließ mich
den Weg zur Piccola Marina ... [unleserlich] ... nehmen. Allein mit mir
und ...
[unleserlich] ... zu Bett!
(Tgb
Nr.31, S.900 - letzte Eintragung
von der Hand Dfbs!)
11. 12. 13
Sela Tannenberg an Johannes Vogler,
Dresden:
Als
Pflegerin Dfbs während seiner
3monatlichen Bronchitiserkrankung ...
und dies gerade an dem Tage, an dem ich seiner Frau nach Wien
geschrieben hatte,
dass sie sich gedulden müsse, bis er das Monatsgeld für sie und ihre
Schwester
anderweitig aufgetrieben haben würde.
... Sela Tannenberg
(Tgb
Nr.31, S.901 - ENDE)
15. 12. 13
Früh 6 Uhr
stirbt Diefenbach.
Maria
Miradois
berichtet in ihrem capreser Erinnerungsbuch 'Villa Monacone.
La Casa dei Pazzi' , aus der Zeit nach dem Krieg, daß
Sela Tannenberg als Krankenpflegerin ein karges Dasein friste:
Es ist eine
Baltin aus alter vornehmer
Familie, die durch die furchtbare russische Revolution ihr ganzes
Vermögen
verloren hat ... Sie war eine Freundin des bekannten Malers und
Naturphilosophen Diefenbach, bei dessen Todesstunde sie zugegen war und
auf
dessen Wunsch Beethoven spielte.
30. 12. 13
Sela Tannberg an Marie Schede:
Zuletzt, in
der allerletzten Stunde sprach er ja kaum, ob er
da den Ernst der Situation erfasst hat, wer weiss es? Am Montag
Morgen sagte er mir noch: "Was glaubst Du, wie lange werde ich
denn dieses Mal wieder liegen müssen?
Vor einer Woche wird kaum daran zu denken sein, dass ich vor meiner
Staffelei
stehen kann. Und ich habe doch so dringende Arbeiten! " -
-
22. 12. 13
Adolf
Schafheitlin an Marie Schede:
Ja, was
haben wir verloren! Und wäre
unser Freund wenigstens dahingegangen, wie ein schöner Sonnenuntergang;
aber
ach, sein Tod war, wie sein Leben, ein Sturm: unter plötzlich
auftretenden,
gewaltigen Schmerzen.
Nur vier
Tage war D. krank, aber wie!
Und doch fiel in seinen schrecklichen Todeskampf noch ein Sonnenstrahl.
Eine zufällig
hier anwesende freiwillige Krankenpflegerin aus Danzig, deren
Bekanntschaft ich
schon vor 4 Wochen gemacht, war die letzten Tage um ihn. Zu ihr sagte
er noch:
"Ich werde wohl diesmal nicht durchkommen; dann drücken Sie mir die
Augen zu!" Und dies wird das herrliche Mädchen wohl auch getan haben.
Ausserdem war noch um ihn die treue Seele, Frl. Tannenberg, und auch
Helios.
Am 10.
Dezember ging der kaum von einer
Bronchitis Genesene bei furchtbarem Nordoststurm an den Hafen herunter,
als
echte Künstlernatur das grossartige Schauspiel des empörten Meeres zu
geniessen. Zwei Tage darauf brach die Krankheit aus. So ward der arme
Freund
ein Märtyrer seiner Künstlernatur. Ein heftiger Darmkatarrh und wohl
auch
Bauchfellentzündung ging über am zweiten Tage in unstillbares Erbrechen
von
Galle (und Schlimmerem). Am Montag früh fing er an, bewusstlos zu
werden, am
Abend starb er in völliger Erschöpfung. - Ich glaube, unser Freund ward
auch
ein Märtyrer seiner extremen Vegetarier-Idee.
Ich werde
den Verlust unseres Freundes
nie verschmerzen.
Der Sohn
Lucidus kam aus München;
Stella mit ihren beiden ältesten Söhnen aus Positano, wo sie jetzt
wohnen. Der
Mann soll gegenwärtig in Oesterreich sein. -
Ich habe in
der Leichenhalle auf dem
protestantischen Teil des Friedhofes an der Bahre die öffentliche
Ansprache
gehalten, und glaube so, meinem Freunde noch ein Zeichen meiner
Verehrung und
Liebe gegeben zu haben. Die irdische Hülle Diefenbachs soll in Rom oder
Mailand
durch Kremation aufgelöst werden. ...
Auf meinen
Rat wurde ein Bildhauer aus
Neapel beordert und die Totenmaske aufgenommen. Sie ist gut gelungen,
aber ach,
wie schmerzvoll. Wir wollen ihn nur sehen, wie wir ihn gewohnt waren:
strahlend
in Kraft und Lebenslust, ein Held.
(LZ)