Darin
der Aufsatz von Hermann
Müller:
Gusto Gräser – S.27-36,
Herausgegeben vom Mindener Kreis |
Gusto
Gräser - grüner Prophet aus Siebenbürgen heute wird auch meins gesungen, spitzt die Ohren, liebe Jungen, denn Euch ist mein Lied geweiht. Eh Euch frisst der Anstaltsjammer auf der engen, langen Bank, in der Formelfolterkammer - horcht, gehorchet meinem Sang! Die
Natur hat ihn gerettet. Als der
Fünfzehnjährige unter der Fuchtel der Lehrer stand, unter dem Druck der
Schule,
Prüfungen nicht bestand, schlechte Noten nach Hause brachte, da
flüchtete er in
seiner Not sich in den Wald.
Wenn
in
ihrem Frühlingskleide draussen jubelte Natur -
an die Tafel mit der Kreide musst ich arme Kreatur. Musst mit bangen Seelenqualen sagen, was mein Herz nit wusst, bleiche Ziffern, graue Zahlen musst ich da ins Schwarze malen, und zum Roten glühte Lust! Aber Herzfarb war verboten, ward gescholten, war die Schuld. Und nach alten kalten Noten, nach Geschichten, nach den Toten musst ich treiben Totenkult. … Endlich schwänzt ich in die Wiesen, nach dem Bächlein, in den Wald: Da gab's keine „Analysen", da bekam mein Geist Gestalt - da entschied ich: Hol's der Geier! Und - so - ward - ich - frei - und - freier. Endlich fiel ich aus den Krallen, denn ich hatte noch Gewicht - endlich bin ich durchgefallen … Eine
Grunderfahrung, die
seine Zukunft bestimmte. Das Durchfallen und Durchbrennen wurde ihm zur
Lebenslosung. Die Grundmelodie war ange-stimmt: Nicht in der Kultur –
in der
Natur finde ich mein Heil. Er hat dann das Durchfallen und Durchbrennen
fleissig geübt. Bei mehreren Lehrmeistern, an der Kunstgewerbeschule in
Wien,
schliesslich sogar bei einem Meister, der selbst Naturapostel war, bei
dem
Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach. Auch aus dessen
Humanitas-Gemeinschaft auf dem Himmelhof bei Wien – einer alternativen
Künstlerkommune – flüchtete er nach wenigen Monaten. Damit war freilich
schon
eine neue Stufe erreicht: Natur allein (in einem äußeren Sinn als
Licht, Luft,
Sonne, Grün) genügt nicht. Es muss hinzukommen die Freiheit des Selbst.
Die
innere Natur: der Drang, der aus mir heraus will, die Stimme des
Herzens.
Beides verbindet sich unauflöslich in seinem Denken und Dichten. Das
macht
seine Eigenart aus. Naturdichter
gibt es zu
Tausenden. Das Schwärmen in Mondschein-, Waldes-, Meeresstimmungen
gehört zum
Grundbestand aller Lyrik ebenso wie die Beschreibung von Landschaften,
Gewächsen, Wanderungen und Wetterlagen. Aber Gusto Gräser ist kein
„Gräserbewisperer“,
auch wenn sein Name dies nahelegt. Er ist kein Stimmungsdichter (aufs
Ganze
gesehen) und kein Landschaftschilderer. Natur ist ihm fast immer ein
Gegenbild
zur (damaligen, in überholten Traditionen erstarrten) Kultur. Natur ist
ihm
Programm, Fanfare, Kampfruf. Zuerst und zunächst aber Erlebnis einer
Befreiung.
Hinter
mir der Stuben Staub - Leben!
frisches Leben! Dieser
Jubelruf geht durch viele seiner frühen Gedichte. In der Bergwelt
des Tessin zumal, in der kaum berührten Wildnis zwischen Felsen,
kleinen Seen,
Wasserfällen, Farn- und Kastanienwäldern, atmet er auf. In
die Wildnis sinnt mein Sehnen,
wo frohrohes Leben quillt … Er
wird ein Sänger und
Lobredner der Wildnis. Nicht aus Schönheitsgenuss allein, sondern weil
sie die
Wildnis der eigenen Seele weckt, das Unbewusste in ihr, das Verdrängte
und
Verschlossene. Wildnis ist Therapie – für ihn selbst zunächst, dann
aber als
Botschaft auch für seine Mitwelt, für die Gesellschaft, für unsere
Kultur. An
der Wildnis kann sie genesen, zu ihrer eigenen inneren Natur
zurückfinden.
Darum gilt es nicht nur, sie zu erhalten, es gilt – und das ist seine
eigenste
Aufgabe -, sie ins Wort und ins Bild zu bringen. Welt
– wer kann dich wie dein
Hochwald loben
in der schauerschönen Sommernacht, dieser duftvoll funkelsternereichen Wandernacht voll deiner Wunderzeichen? Helle spür ich meinen Mut entfacht! Heilge Speise hast du mir gespendet, als dein Bote heute ausgesendet ward ich, künden deine Waltemacht … Und
weniger romantisch, dafür deutlicher,
nüchterner, härter in späteren Jahren: Sag,
wollen wir um
Herrschaft-Bombast weiter wüten, wetten –
oder den Wald mit aller Erd, des Erdsternmenschseins heitre Würde retten - ??? Allso: Aus allem Stückwerk zu dem großen Ganzen, aus allem Wirrwarr in die Reihe tanzen!? Er
ist wirklich ein Apostel der
Natur. Und dies nicht nur in Worten sondern in seinem ganzen Tun und
Trachten.
Zum Beispiel in seiner eigenartigen Tracht, die allen bürgerlichen
Gewohnheiten
ins Gesicht schlägt, ihn gesellschaftlich isoliert aber auch
heraushebt: als
einen wieder lebendig gewordenen „Rübezahl“, als Waldmenschen und
Waldgeist,
als den sprichwörtlichen „Naturmenschen“. Als solcher predigte er auch
ohne
Worte, war Wald und Wildnis in eigener Gestalt, erschreckte den in
seiner
Uniformierung gefangenen Bürger. II
Die Jugendbewegung Mit
den Wandervögeln war das
eine andere Sache. Die hoben ihn früh auf ihren Schild, jedenfalls ihr
progressiver Teil. Schon 1907 sah ihn ein Roman „im Übergang zur
Prophetenrolle“ (Gustav Naumann: Vom Lärm auf dunklen Gassen).
„Wahrlich, ein Wegweiser
und Prophet, den wir brauchen!“ schrieb Johannes Schlaf. Und der
Wandervogelführer Walter Hammer pries ihn 1912 in seinem Nietzschebuch:
„Ich
will Dir einen Namen nennen, dem Du als
Wandervogel schon begegnet bist: Gusto
Gräser. Ein ganzer Kerl! … Gräser ist einer der
wenigen
urwüchsig schaffenden Dichter unserer Zeit, ein Prachtmensch im Sinne Nietzsches“ (Walter Hammer: Nietzsche
als Erzieher. Leipzig: Hugo Vollrath, 1914. S.
43f.).
Seine
Gedichte erschienen als
„Wandervogelfutter“ in den Blättern der Jugendbewegung. Friedrich
Muck-Lamberty gründete einen „Freundeskreis für Gusto Gräser“, dem u.
a. auch
Hans Paasche angehörte. Als Gräser aus Sachsen wegen „Verbreitung
unzüchtiger
Schriften“ – er hatte seine zweijährige Tochter nackt fotografiert! –
aus
Sachsen ausgewiesen wurde, behängten die Leipziger Wandervögel (Erich
Matthes,
Rudolf Mehnert u. a.) seinen Wohnwagen mit Korsetten und Büstenhaltern
und begleiteten
ihn so mit Klampfenklang und Hallo bis zur Stadtgrenze. In Jena gab es
eine
Protestausstellung zu seinen Gunsten und bekannte Persönlichkeiten wie
Richard
Dehmel, Arno Holz, Ferdinand Avenarius, Hans Thoma und Gerhart Hauptmann setzten sich für ihn ein. Im
Pferdewagen von München nach
Berlin, 1911 Nachdem
er 1912 auf seiner Deutschlandfahrt im
grünen Planwagen in Berlin angekommen war, fand er schnell Freunde im
Aufbruch-Kreis um Wyneken und Landauer. Die protestierten dann 1915
gegen seine
Ausweisung aus Deutschland. Einer von ihnen, der Wandervogelführer
Jakob
Feldner, Sohn des gleichnamigen
Fidusfreundes,
ging 1916 illegal in die Schweiz, um im Auftrag der Berliner
Freistudentenschaft
Friedenskontakte mit dem „feindlichen“ Ausland zu knüpfen. Er besuchte
Gusto
Gräser und Romain Rolland, wurde Mitarbeiter von Ernst Bloch bei der
Freien
Zeitung, dann Akteur in der Münchner Revolution. Seine Kampfschrift
gegen die
Militarisierung der deutschen Jugend – ‚Deutsche Jugend und
Weltkrieg’ - wurde von der Herresleitung sofort
beschlagnahmt und
vernichtet. Dieses Dokument des Widerstands ist bis heute selbst in der
Geschichte der Jugendbewegung unbekannt geblieben. Vom Monte Verità
schrieb er
am 16. September 1916 jubelnd an den in seinem Vaterland zum Tode verurteilten Romain Rolland: „Wie
könnte man es nur laut,
meilenweit schreien? … Das Deutschland, das von dieser Jugend und
diesen
Gedanken getragen wird, ist nicht tot. Es lebt! Es lebt gesund! … Das
kommende Deutschland wird durch uns, durch die deutsche Jugend, durch
den
trotzig übriggebliebenen Rest nicht Totgeschossener frei werden. … Noch
gibt es
Leute, die für ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit, ihre freie Erziehung
zu
kämpfen wissen. Kämpfen ohne eisernes Kreuz, ohne Ehrenlegion,
aber
kämpfen im Lichte einer besseren, kommenden Zeit. Kampf gegen den Krieg:
das ist es, was wir wollen und predigen.“ (Romain Rolland: Zwischen den
Völkern, Bd. II, S.380; Unterstreichungen im Original) Er
hatte Gusto Gräser
getroffen und vermutlich auch dessen
Freund Hermann Hesse. Gräser war erst wenige Tage zuvor aus der
Gefangenschaft in Siebenbürgen zurückgekehrt, wo er wegen
Kriegsdienstverweigerung er-schossen werden sollte, dann aber ins
Irrenhaus
gesteckt worden war. Um ihn sammelten sich Kriegsgegner aus ganz
Europa: Ernst
Bloch, Hans Arp, Hugo Ball, Klabund, Emmy Hennings, Claire und Ivan
Goll und
andere. Ascona wurde eine Zitadelle des Widerstands gegen den Krieg,
zugleich
ein Zentrum der oppositionellen Künstler: Die Dadaisten feierten dort
ihre
Feste zusammen mit den Tänzern und Reformern vom Monte Verità.
Höhepunkt wurde
das „Sonnenfest“ von 1917 vor der Felsgrotte Gusto Gräsers, ausgeführt
von
seinen Tänzerfreunden Rudolf von Laban und Mary Wigman. Durch sie und
Isadora
Duncan wurde der Berg zum Geburtsort des Ausdruckstanzes. Durch Mary Wigman wurde er als „modern dance“ in der
ganzen Welt bekannt. Ein
Stützpunkt dieses
„anderen Deutschland“ war das Haus Neugeboren in Monti über Locarno.
Die
Besitzerin gehörte dem Bund der abstinenten Wandervögel an, verehrte
Hesse und
lud ihn und andere Pazifisten – Gusto Gräser, Ernst Bloch, Klabund - als Gäste in ihr Anwesen. Hesse war schon
1907 ein Jünger des Siebenbürgers geworden, hatte mit ihm in seiner
Felsgrotte
zusammengelebt. Unter dem Druck des Krieges vertiefte sich ihre
Freundschaft.
Gräser wurde zum Vorbild für Hesses
Meistergestalten
von ‚Demian’ bis zum ‚Glasperlenspiel’. In der Flugschrift
‚Zarathustras
Wiederkehr’ von 1919 legte er seinen nach Deutschland zurückkehrenden
Freund
den Wandervögeln ans Herz, ihnen, die „alle im Beginn ihrer Jugendzeit
in
Zarathustra den Propheten und ihren Führer gesehen“ und über ihn
gesprochen
hatten „auf ihren Wanderungen in Heide und Gebirg, und in nächtlichen
Zimmern
bei Lampenschein“ (GW X,467). Beim
Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner, Oktober 1913 „Ein
Foto zeigt eine Gruppe am
Waldrand, ins Gespräch vertieft. Darunter zwei Paradiesvögel: ein
älterer Mann
mit schulterlangen Haaren, Stirnband, langem Bart, barfüssig. Gusto
Gräser. Der
Naturmensch. Gründer der Kommune auf dem Monte Verità, dem Berg der
Wahrheit im
Tessin, Pazifist und Vordenker einer grünen Gegenkultur. Ihm lauschend,
ebenfalls langhaarig, mit einem Stirnband aus Vogelbeeren, gekleidet in
einen
Anzug aus rotem Samt mit Kniebundhosen und weissem Schillerkagen,
Alfred
Kurella, genannt Teddy. 18 Jahre alt, Wandervogel aus Bonn. Den Anzug
für das
Hohe-Meissner-Fest hatte er sich vom Honorar eines von ihm
herausgegebenen
Lautenbuches gekauft“ (Ulrich Grober) Aber
nur Wenige
verstanden, wer mit diesem „Zarathustra“ gemeint war. Zu diesen Wenigen
gehörte
sein Freund Muck-Lamberty. Der brach 1920 mit einer „Neuen Schar“ von
fünfundzwanzig
jungen Männern und Mädchen zu einem Wanderzug durch Thüringen auf. Mit
Tanz,
Spiel und Gesang sollten die Menschen aus ihrer Routine gerissen und in
das
„festliche Dasein“ (Laban) geführt werden. Zehntausende schlossen sich
ihnen
an. Gräser sprach an ihren Lagerfeuern.
„Ganz
Thüringen tanzt!“ schrieb fasziniert Eugen Diederichs. Als aber Muck
mit zwei
Frauen zugleich Kinder zeugte, da schlug die klassische Moralklappe zu
– Muck
wurde aus Thüringen ausgewiesen, Gräser verhaftet, die Schriften über
diesen
„Kreuzzug der Liebe“ (Lisa Tetzner) und „Kreuzzug der Fröhlichkeit“
(Werner
Helwig) wurden aus den Archiven der Jugendbewegung entfernt, Muck und
Gräser
für Jahrzehnte tabuisiert. Dafür wurde der Zug der Neuen Schar durch
Hermann
Hesse als „Morgenlandfahrt“ ins dichterische Gleichnis, ja in den
Mythos
erhoben – als ein „Blumenfest“ der „untrennbar vereinigten Brüderschaft“ vom Monte Verità (GW VIII, 347), als ein „Zug
nach Osten“ (333), in die „Heimat und Jugend der Seele“
(338), als eine „Welle im ewigen Strom der
Seelen … nach Morgen, nach der Heimat“ (329). „Revolution der Seele“
war der
Kampfruf der Neuen Schar gewesen. Die
Neue Schar mit ihrem weißen
Fähnlein. Sie schliefen in den Wäldern, arbeiteten bei Bauern.
Muck predigte von Kirchenkanzeln, die Schar inszenierte Tanz- und Blumenfeste. Ein
anderer Vorstoß ging von
Berlin aus. Wandervögel aus dem Aufbruch-Kreis unter Führung von Hans
Koch
ließen sich von dem Monteveritaner Oskar Maria Graf nach Bayern locken.
Graf
verschaffte ihnen das Geld zum Aufbau der Landkommune Blankenburg. Doch
auch
dieses Experiment wurde – trotz der Fürsprache einer geistigen Elite –
polizeilich unterdrückt. Ein
dritter Vorstoß ging von
Stuttgart aus. Die Gräserfreunde Willo Rall und Hermann Bühler, zwei
Maler,
gründeten die Künstlersiedlung „Freistatt“ im Schwäbischen Wald.
Folgesiedlungen
umfassten zeitweise bis zu hundert Mitglieder. Mit ihnen verbunden
gründete
Albrecht Leo Merz die freie Kunstschule Merz, aus der die heutige
Stuttgarter
Hochschule für Gestaltung hervorgegangen ist. Nach
Aufenthalten in der
Schweiz und in Dresden kehrte Gräser 1926
nach München
zurück, wurde aber sofort verhaftet und sollte
als „staatsgefährlicher Rumäne“
aus dem ganzen Deutschen Reich
ausgewiesen werden. Durch die Fürsprache von Thomas Mann und anderer
prominenter Schriftsller – „Dieser Mann ist reinen Herzens und liebt
Deutschland“ (Mann) – konnte Gräser dann wenigstens in Preußen bleiben,
in Berlin.
In monatelangen Redereihen warnte er 1928 vor dem heraufziehenden NS.
„Groß
kann ein Volk nur in der Tiefe werden /
… Stell dich nicht hoch, o Volk, sonst muss dich Neid
zernichten, / halt
klein, halt tief, so wirst Du – bist Du groß. / … Weil es sich unten
hält,
wird’s Unterhalt und frohe Kraft und Nahrung vielen Völkern.“ Sein
Schwiegersohn sollte eine Tagung der
Artamanen beobachten. Dessen Bericht von Pfingsten 1929 war eindeutig:
„Stahlhelm,
Wotansgläubige, Jugend-Turnerbund u.s.w., also, ich will es mal so
ausdrücken:
‚säbelrasselnde Jugend!’‚ Das Wort ‚Rache’ das oft ausgesprochene
Wort. Ich
habe darunter gelitten, wie ich am Pfingstfeuer die vielen Racheschwüre
mit
anhören mußte. Nicht auszudenken, was wird, wenn sich diese Gedanken
vermaterialisieren sollten. ... Gut war die Tagung, indem man sah - - -
so geht
es nicht … Nicht Rache sondern
Liebe
!” 1928
in Berlin Die
Massen aber liefen dem
Trommler zu. Gräser, in dessen Versammlungen die jungen Leute mit
Schillerkragen und langem Haar saßen, „überhaupt Menschen, die aus den verbittertsten Kreisen des Proletariats
stammen, (manche der langhaarigen Gestalten trägt das Abzeichen der
zerbrochenen
Gewehre der Kriegsgegner)“ (Karl Otto Paetel im
Deutschen Tageblatt, 5. Januar 1928), verlor nach und nach
seine Zuhörerschaft.
Er entschliesst sich, da er kein Gehör mehr findet, zu einer
symbolischen
Aktion: „Er hat vor … Eselskarren anschaffen, durch die Lande ziehen“
(Brief
von Henri Joseph vom 4. 2. 1930). Und das tut er auch. Mit einem jungen
Freund,
Otto Großöhmig, unternimmt er die Eselfahrt durch Deutschland. Sie
endet 1933
im KZ (Mitteilung des mit Großöhmig befreundeten Paul Buscher). Nach
dem Krieg
setzten Großöhmig und Buscher die Fahrt mit dem Eselwagen fort. Wieder
hieß ihr
Eselchen Fanny und wieder verbreiteten sie die Schriften von Gusto
Gräser. Ein
Sohn von Gusto und ein Sohn von tusk und ossy – sie hatten sich
gefunden. „Wie
einst Hermann Hesse zu Füßen Gusto Gräsers, in jener Wohnhöhle am Fuße
des
Monte Verità bei Ascona, seine Straßen sah, auf denen er wandern und
wandeln
müsse, so saßen wir damals zu Füßen ‚ossy’ Beckes, in seinem Grünen
Bunker am
Waldberg hinter der Glör“ (Paulus Buscher: Das Stigma, 215). Auf den
illegalen
Flugblättern der Widerstandsgruppe um Buscher finden wir Gusto Gräsers
Haus-
und Heilszeichen: den Fünfstern, das Pentagramm. Großöhmig wurde 1979
ein
Mitbegründer der „Grünen“. Gräsers
Tochter
Gertrud hatte 1930 mit Henry Joseph und dem Maler Max Schulze-Sölde die
Landkommune „Grünhorst“ vor den Toren Berlins gegründet. Sie wurde zu
einem Treffpunkt
der Wandervögel und der Biologischen Bewegung um den Biosophen Ernst
Fuhrmann. An
Pfingsten des selben Jahrs lud
Schulze-Sölde zu einer
„Religiösen Woche“ nach Hildburghausen ein: „In unheimlicher Weise
mehren sich
die Anzeichen des drohenden Chaos in unserem Volke“ (Aufruf). Die
freireligiösen Kräfte jeder Art sollten sich in einem „letzten
Aufgebot“ verbünden
mit den freischwebenden, linksliberalen Sozialisten und „die große Einheit im
Inneren finden“, nicht zuletzt in ihren gemeinsamen „ökologischen“
Überzeugungen. In ihrer Zeitschrift ‚Der Dom’ von 1930 lesen wir die
Namen
dieser frühen rot-grünen Koalition: Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig, Karl
Otto
Paetel, Muck-Lamberty, Henry Joseph, Max Schulze-Sölde, Gusto Gräser
und andere.
Die Biosophen hatten ihr Organ in der Zeitschrift ‚Gegner’, zu deren
Herausgebern Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig, Franz Jung und Harro
Schulze-Boysen
gehörten. Hugo Hertwig, ehemaliger Spartakist und Landkommunarde,
schreibt am
17. 11. 1935 in sein Tagebuch: „Je mehr die Massenbewegungen wachsen,
desto
mehr interessiere auch ich mich für die
Einzelgänger – die letzten Wilden – Vertreter der Wildnis – oder
besser:
Bekenner der Wildnis. … Leider gibt es für uns, sobald wir bekannt
werden, nur
Naturschutzparks = Konzentrationslager.“ Und am 29. 7 1936: „Heute kam
auf
diesem Wege z. B. der alte Gräser zu mir … ein guter Kerl mit wirklich
menschlichem Empfinden. … Er sieht wie ein alter gutmütiger u.
abgelebter
Indianer aus - viel Aufsehen. Alle Leute bleiben stehen“. Für diese Leute war die Siedlung Grünhorst ein Stück konkrete Utopie gewesen: ein Modell, ein Ort der Gespräche und der Zusammenarbeit. Als Otto Groß-öhmig, aus der Haft entlassen, 1936 nach Grünhorst zurückkam, um Gräser aufzusuchen, fand er nur noch verkohlte Reste vor. Grünhorst war abgebrannt. III
Die Naturpropheten Nun
mag man fragen: Was hat
dies alles mit dem Naturerlebnis der Jugendbewegung zu tun? – Sehr
viel. Denn
am Beispiel Gusto Gräsers zeigt sich: Nicht die Jugendbewegung, wohl
aber die
Naturpropheten hatten ein klar umrissenes, praktikables und
gesellschaftlich
relevantes Bild von „Natur“. Und sie haben damit wesentlich auf die
Jugendbewegung eingewirkt. Die
Naturpropheten: damit
ist der Maler und Kulturreformer Karl Wilhelm Diefenbach gemeint und
seine
Schüler Johannes Guttzeit und Gusto Gräser. Am Rande und mit Abstrichen
auch
der Maler Fidus. Sie begnügten sich nicht mit gefühliger Naturromantik,
ihnen
ging es um einen radikalen Umbau unserer Kultur. Und dies auf allen
Gebieten
des Lebens: Ernährung, Kleidung, Wohnen, Sexualität, Wirtschaft,
Gesellschaft,
Staat und Religion. Ihr Grundimpuls: Schonung alles Lebendigen, deshalb
kein
Töten ohne Not, keine Kriegs-beteiligung. Die
Naturpropheten gehörten
nie offiziell der Jugendbewegung an, aber sie haben sie, direkt und
indirekt,
zu ihren besten Taten beflügelt. Die Tagung auf den Hohen Meißner von
1913 war
eine Initiative der Lebensreformer unter den Wandervögeln, und ihre
Gesinnung
hat sich in der berühmten „Meißnerformel“ niedergeschlagen. Wohl
möglich, dass
im Hintergrund Gusto Gräser der eigentliche Stichwortgeber gewesen war,
durch
seine mannigfachen Begegnungen mit Wandervögeln in den Jahren 1911 und
12. So
war es selbstverständlich, dass er auf dem Berg erschien und redete,
umringt
und bewundert von den rebellischen Geistern unter den Jungen: Kurella,
Mehnert,
Hans Paasche, Muck, Walter Hammer. Hammer hatte schon 1907, als
Neunzehnjähriger, über den Monte Verità geschrieben, Hans Blüher hatte
dort
1908 sein Erweckungserlebnis gehabt. Muck-Lamberty war seit 1907 mit Gräser befreundet, ebenso Georg Stammler. Dessen
im Geiste
Gusto Gräsers verfasste Mahnschrift ‚Worte an eine Schar’, wurde nach
dem
Krieg, zusammen mit ‚Zarathustras Wiederkehr’, das Grundbuch für die
Neue Schar
von Muck. Über den Einfluss, den Fidus auf die Jugendbewegung hatte,
muss man
keine Worte verlieren. Am stärksten jedoch war die Wirkung von Hermann
Hesse,
der in seinen Büchern den namentlich ungenannten Freund in vielfältigen
Variationen der Jugend vor Augen stellte. Wie Fidus malerisch das
Kultbild
einer ganzen Generation geschaffen hat, so Hesse literarisch. Der
Sonnenwanderer,
Naturbursche und Lichtanbeter – er steht noch am Ende des
‚Glasperlenspiels’. IV
Gräsers Natur-Religion Gräsers
Naturbild hat wenig
mit Stimmung zu tun, umsomehr mit Denken und Schau. Er wendet sich
kritisch
gegen die Naturfeindschaft sowohl der christlich-platonischen wie der
modernen
technisch-wissenschaftlichen Tradition. Berechnet
ihr’s? – Dass ihr’s nit brecht!
Leben folgt keinem Ziffernknecht. Seine Dichtung schafft einen neuen Mythos. Natur ist nicht im Begriff zu fassen, Urwesen
des Lebens, Allmuttergeduld,
das pflechtet uns, fern aller pflichtigen Schuld, fern allem Zählen und Zielen, hinein ins gewaltige Spielen O Menschenkind im Sternweltenschoß … Es
ist nicht die barmherzige Mutter Maria, die
er beruft, nicht die grausame Kali-Durga und auch nicht die
vielbrüstige Diana
von Ephesus. Keine Fruchtbarkeits- und keine Gnadengöttin. Gräser
schafft ein
neues, ein modernes Bild der Allmutter: Sie warnt und schützt vor der
Verführung in kalte Wissenschaft, in „Ratzrationalität“. "Herein,
herein,"
ruft 's Allmaidmütterlein … in ihrer Hütten mitten in der Welt wildwonnig wohnend, all Krumb und Krank zu junger Schöne schonend, bis wiederwohl es ihr ins Herz gefällt! Hei, wie das biengleich aus-ein-tänzeltummelt, allsingsangseelig immersammelsummelt - ein Tausendsaus, ein sommerduftig urfideles Haus! Nur angepocht! „Herein, herein, Ihr gwissensbissig Wissenschaft-Verirrten! Lasst hier uns mal, fern Hirnverbranntheit Quaal, mit Wesenssaft, mit Lebensfrucht bewirten, mit Mahl, mit Mahl!“ Seine
Muttergestalt hat
viele Namen. Er nennt sie „Urgroße Mutter“, „Mutter Not“, „Mutter
Treu“,
„Allweltmutter“, „Allweltmütterlein“, aber so gut wie nie „Mutter
Natur“. Der
geläufige Name „Mutter Natur“ bezeichnet die Außenwelt. Seine Urgroße
Mutter
ist Innenwelt und Außenwelt und Überwelt: ist Ethos, Eros und Kosmos
zugleich.
Sie ist auch Wahrheit, von der gesagt wird: Immer
ruft sie alle ihre
Kinderlein tiefheim zu sich, dass sich keins in Trug verliere, keins in Gscheitelkeit erfriere - Menschenkind, auch dich, auch Dich! Ein
anderes
Symbol für sein mütterliches und polares Weltbild ist der Weltenbaum
oder
Lebensbaum. In seiner Gestalt entfaltet und schließt sich Welt und
Bewusstsein
in immerwährendem Kreislauf: vom Samen zum Baum, vom Baum zu Samen; aus
der
Einheit in die Vielfalt, aus der Vielfalt in die Einheit. Lebt
doch
imgrund
nur - eine -Welt, tief, still, gewaltig, vielgestaltig in einen Wonnewunderkugel- Weltenbaum gesellt, der zweiget, dreiet, wirbeldreht, hah, trilliont, sich trennt, sich paart, sich hasst, sich liebt, heissfeurig freudger nur zusammenwandelwohnt im Sam, Allhochzeitsam, Urfreunds Paarheiterkeit! Von
einem „Naturverhältnis“
möchte man in seinem Fall kaum noch sprechen. Hier geht es um das
Verhältnis
des Menschen zum Ganzen, damit letztlich um Religion. Er spricht
deshalb –
dichterisch, nicht als Prediger – von „Erdsternreligion“. Sein Suchen
nach dem
Grund der Natur hat ihn erst zum Selbstgrund und dann zum Urgrund
geführt. Gräser ist Mystiker. Seine
Bildsprache ist aber nicht die
des Kreuzes oder anderer traditioneller Chiffren sondern die des Baumes
und des
Waldes. Er ist – als „Baumgeist“, „Waldgeist“ und „Weltwirt“ - ein
Mystiker der
Natur. Heihoh,
Baumgeist – fideles Haus, bau s’Notnest,
bau’s!
In knorrgen Kronen, in der Armut Schoß, wie arm so warm, so wunder- wunne-groß, drein unsres Heiteren Glückvöglein horsten, umwogt, umwallt von Grüngoldseligkeit, draus Urdung fällt, draus Ursam fällt, der Felsensprenger, der, wie er Stein geborsten voll Stillgewalt, mit Wonne birst den lumpigen Asphalt - - - „Ping pink Triuring“ – grüßt schon ein Vögelein - ! – Hei, glückhaft Ding! Sein
Baumgeist sprengt den
Asphalt, sprengt den Beton einseitiger Verstandes-besessenheit und
öffnet die
Lichtung zum Geist. Die Wissenschaft hat unsere Welt verändert, hat einen früher nicht vorstellbaren Reichtum und Komfort geschaffen. Eine Sinngebung des Lebens, wie sie einstmals die Religionen geboten haben, kann sie nicht bieten. Die Religionen ihrerseits sind in überholten, wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Weltbildern befangen. In der Dichtung Gusto Gräsers, die Ursymbole der Menschheit neu belebt - den Weltenbaum, die Heilige Hochzeit, das Heilige Mahl, die Große Mutter, den Wirweltreigen, die Weltmusik - , und zwar in der Sprache und im Geist unserer Zeit, in dieser seherischen Dichtung wird ein Gegenbild aufgerichtet zu den naturzerstörerischen Kräften in Vergangenheit und Gegenwart. In seiner Dichtung geht es um mehr als ästhetischen Genuss, um mehr als Kunst. Er will nicht unterhalten sondern umgestalten – unsre Welt, zuallererst aber uns selbst. |