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Was ist es mit Gusto Gräser?

Von  Emil Neugeboren  (1870-1955) *)


Der sächsische Maler und Dichter Gusto Gräser ist in der vorigen Woche von der Hermannstädter Polizei ausgewiesen worden. Dies ist ihm unter genau denselben Umständen auch an anderen Orten widerfahren, so zum Beispiel in Leipzig. Aus diesem Grunde wäre es ungerecht, der Hermannstädter Polizeibehörde ihr Vorgehen besonders zu verübeln. Sie sah sich für verpflichtet an, einzugreifen, weil verschiedene Herren mit überempfindlichem Ordnungssinn an dem Auftreten Gräsers "Anstoß genommen" hatten. In Leipzig mag es ähnlich gewesen sein. Aber da sich in Leipzig einige Männer Gräsers angenommen und gegen das Vorgehen der Polizei Verwahrung erhoben haben, zu denen nicht geringere Leute wie Gerhard Hauptmann, Rich. Dehmel, Friedrich Naumann und Ferdinand Avenarius gehörten, so erscheint die Schlußfolgerung zulässig, daß der "Anstoß" nicht das einzige Wort ist, das zu Gusto Gräser gesagt werden kann und daß bei der Beurteilung dieses vielfach Abgeschobenen der Polizeigesichtspunkt nicht der allein maßgebende sein muß.

Was ist es also mit Gusto Gräser? Ich sehe in ihm ein verkörpertes Symbol für gewisse Stimmungen, von denen niemand unter uns modernen Zivilisationsmenschen ganz frei ist. In uns allen lebt in hunderttausend verschiedenen Gradabstufungen je nach dem Wesen und den Lebensverhältnissen des Einzelnen, nach Alter und Zeitumständen, eine Sehnsucht aus der Enge und Gebundenheit, in die wir hineingesetzt sind, hinaus zur freien, belebenden, Friede bringenden, Ruhe spendenden, erlösenden Natur, von der wir, unserm harten Menschen-berufe folgend, so weit, ach so weit abgedrängt und entfernt werden. Dieses Sehnsuchtsgefühl ist uralt, so alt, wie die menschliche Natur, und es ist auch nicht erst jetzt entdeckt worden. In allen Jahrhunderten hat es Leute gegeben, die mit weithinschallender Stimme den Ruf erhoben: "Zurück zur Natur!" und den Versuch gemacht haben, der Menschheit aus der Qual und dem Wirrsal des Kulturlebens den Weg dahin zu weisen. Denken wir an Rousseau im 18., Leo Tolstoi im 19. Jahrhundert! ...

Gräser will, soviel ich weiß, nicht Prediger und Prophet des Natur-zustandes sein. Er weiß zu gut, daß eine größere Gemeinschaft von Leuten, die so leben, wie er, nicht bestehen könnte. Noch viel weniger ist er Sozialreformer. Er trägt nur einfach eine starke und tiefe Empfindung für die Naturwidrigkeit, in der wir alle leben, in der Seele, und da er ohne Zweifel eine nicht gewöhnliche dichterische Begabung hat, so ringt diese Empfindung in ihm nach künstlerischem Ausdruck. Er arbeitet, vielleicht weniger nach einem bewußten Plan, als einem dunkeln Drange folgend, mit den Mitteln der lyrischen Dichtung, indem er die Stimmung, die in ihm selbst lebt und ihre Spannkraft ausübt, auf andere zu übertragen sucht und indem er die Sehnsucht darnach, was er Heimat nennt, nach einem freien, friedlichen, einfachen, vernunft-gemäßen Leben am Busen der Natur, im trauten Verein mit den "Brüdern im stillen Busch, in Luft und Wasser" in seinem ganzen Leben und Auftreten zu verkörpern trachtet.

Wer ihn im grellen Tageslicht in auffälliger, theatralischer Kleidung durch das Gewühl unserer Gassen gehen sieht, oder das manchmal dunkle Wortgepränge seiner Verse liest, wird nicht viel Eindruck bekommen. Aber draußen in Feld und Wald, wenn er mit seiner wohlklingenden, tiefen Stimme die Verse selbst vorträgt oder seine eigenartigen Gedanken ausspricht, da wirkt er ohne Zweifel stimmungsvoll und künstlerisch, da ist seine Erscheinung ein menschgewordener Sehnsuchtsruf nach einem verlorenen Paradies unter Gottes blauem Himmel.

Emil Neugeboren in: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt vom 13. Mai 1916


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*) =  Emil Neugeboren (1870-1955), geboren in Hermannstadt, Schriftsteller und Journalist, war
        seit 1900 Hauptschriftleiter (Chefredakteur) des Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatts daselbst.
        Zahlreiche Veröffentlichungen. Möglicherweise besteht Verwandtschaft zu der Gräserfreundin
        Albine Neugeboren in Locarno-Monti, die aus Siebenbürgen stammte.