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Die Idylle in Falterau
































































































































































































































Idylle und Gefahr

Gusto Gräser in der Falterau


Über das Leben in der Falterau von Degerloch erfahren wir einiges durch einen Freund der Familie. Der Rechtsanwalt, Schriftsteller und Verleger Dr. Alfred Daniel (geb. 1886) war in Gräsers Stuttgarter Zeit von 1913 bis 1915 sein engster Berater und Helfer. Er verteidigte ihn mehrfach vor Gericht. Seine Protestschrift gegen Gräsers Ausweisung von 1915 ließ er als Flugschrift verbreiten. Wie sein Freund verweigerte er den Kriegsdienst, verlor dadurch sein Anwaltspatent. Nach dem Krieg ging er als Helfer und Berater der Gefangenen ins Zuchthaus von Ludwigsburg. Er war maßgeblich beteiligt am Aufbau der Chris-trevolutionären Bewegung, die ein radikales Tatchristentum vertrat, und wurde Redakteur ihrer Zeitschrift ‚Weltwende’. In seinem Buch ‚Ur und Kultur’ gab er 1920 eine von Gräsers Denken beeinflusste Auslegung des Neuen Testaments. Als Verfasser von geistespolitischen Schriften griff Daniel noch in die Debatten der Sechzigerjahre ein.  Hier seine

Erinnerungen an Gusto Gräser

von Alfred Daniel

Meine Erinnerung an Gusto Gräser geht fünfundsechzig Jahre, also bis zum Jahre 1913 zurück. Ich hatte mich damals, 27jährig und eben verheiratet, in Stuttgart als Rechtsanwalt niedergelassen. Politisch stand ich ziemlich weit links, trat infolgedessen der sozialdemokratischen Partei bei und verteidigte alle Strassenbahner, die wegen Verkehrsgefährdung vor den Strafrichter kamen.

Damals begegnete mir in den Strassen Stuttgarts die Täufer-Johannes-Gestalt Gusto Gräsers, in härenem Gewand, mit fliegenden Haaren, in Sandalen, mit einem grossen Netz über der Schulter, in welchem Druckschriften verstaut waren. Von meiner Studentenzeit her war ich mit Leo Tolstoi und Walt Whitman vertraut und so musste mich Gräser auf den ersten Blick faszinieren.

Ich suchte ihn in seiner Wohnung in dem Höhenvorort Degerloch auf, wo er am Ortsrand nahe des Waldes mit Frau und sieben Kindern in einem etwas verfallen aussehenden Anwesen "hauste". Seine Frau Elisabeth, eineinhalb Köpfe kleiner als er, war wohl Rheinländerin von Geburt, und hatte die fünf älteren Kinder in die Gemeinschaft mitgebracht, nur die zwei Jüngsten waren Gusto-Kinder. Während Gräser selbst zwar innerlich fröhlich, aber äusserlich ernst und nicht besonders kontaktfreudig schien, war ihr Heiterkeit angeboren; ihre Zunge konnte sehr scharf werden und ihrer Schlagfertigkeit war nicht leicht einer gewachsen. Er gab zwar den Ton an, aber sie dirigierte. Das "Naturmenschen"-Idyll in der Falterau erregte natürlich im braven Degerloch einiges Aufsehen, die Eltern in wilder Ehe lebend, die "armen" Kinder der Schule entzogen!

Die Familie lebte äusserst einfach von dem Wenigen, was die Mal- und Dichtkunst des Vaters einbrachte. Seine Sprüche

Ach, nach froher Güte sehnet jede Brust:
Du, dein Urtheil hüte, wenn du richten musst,
lerne tiefer lesen, hemme den Verdacht:
Maske, nicht das Wesen ist die Niedertracht.

und seine Zeichnungen schilderten das Einfache Leben, etwa in Erinnerung an die Lebensweise, wie sie der Amerikaner Thoreau in seinem Buch 'Das Leben in den Wäldern' dargestellt hat.

Ausser Thoreau war Walt Whitman ein Vorbild Gräsers; mit dem Whitman-Übersetzer Johannes Schlaf, damals wohl in Weimar wohnend, war er persönlich bekannt und in Freundschaft verbunden. Zu Thoreau und Walt Whitman gesellte sich als Dritter Emerson, dessen Schriften damals im Verlag Diederichs in Jena herauskamen, und die Schriften Lagardes, die in der Jugend viele Leser fanden.

Wenn viele Stuttgarter über die "Graeserei" die Nase rümpften, so gab es auch sehr viele, die sich an der frisch-fromm-fröhlichen Art der Gräserfamilie freuten. Und so erzielte er oder - noch leichter: sie - mit den Werken, selbst gedruckt und vervielfältigt, guten Absatz.

Gräser hatte eine ganze Anzahl "Anhänger" gefunden. Ich erinnere mich, wie er des Sonntags seine "Gemeinde" im Bopserwald, hoch über der Stadt, um sich versammelte. Passanten gesellten sich hinzu, und so mögen oft 50 oder 60 Personen dem Redner gelauscht haben, der da wie ein wiedergekommener "Bergprediger" mit seiner sonoren, weithin schallenden Stimme redete - ein unvergessliches Bild!

Auch einer anderen Veranstaltung aus jener Zeit kann ich mich erinnern: In den eleganten 'Teestuben auf der Königsstrasse' hatte Gräser ein paar Dutzend Menschen um sich versammelt, um ihnen aus dem TAO TE KING des Laotse vorzulesen.

Das ging monatelang so hin, Gräser gehörte zum Strassenbild von Stuttgart. Aber als dann der Krieg ausbrach, mehrten sich die Widerstände, die Behörden schalteten sich ein. Der Stadtdirektor war zwar ein Mann, der mit sich reden liess, aber er hatte das Gesetz auf seiner Seite, und er war auch nur ein kleines Rädchen an der grossen Maschine: Es kam nicht auf die Gesinnung, sondern auf die Staatsangehörigkeit an. Gräser konnte als unerwünschter - wie es hiess: "lästiger" - Ausländer ohne Angabe von Gründen einfach abgeschoben werden.

Ich selber, Tolstoianhänger, mit dem sehr freiheitlich denkenden und redenden Dichter von Warmbronn, Christian Wagner, befreundet, konnte Gräser nicht vor der Ausweisung bewahren. Und so vollzog sich das Trauerspiel, die Familie musste ins Ungewisse ins Ausland.

Gräser hat wie auf mich so auf viele in der damaligen, hochbewegten Jugend Einfluss ausgeübt, unter anderen meines Erachtens sehr stark auf Muck Lamberty und seine Schar.

Alfred Daniel

Zwei Gräserfreunde: der Rechtsanwalt Alfred Daniel und
 der Maler Hermann Bühler um 1916 in Stuttgart

Aus der Verteidigungsschrift von Alfred Daniel
gegen die Ausweisung Gusto Gräsers:

Gräser ist Dichter.... Ist nun aber Gräser ein Dichter, so kann man verlangen, dass seine Eigenart als der Quell seines Schaffens - wenn nicht geschätzt und gefördert - so doch wenigstens nicht bedrängt wird. Statt dessen hat die Behörde Gräser - ich weiss nicht, wie viele Male - gestraft, weil er seine Schriften ohne behördliche Erlaubnis verteile. Die behördliche Erlaubnis aber, um die G. nachgesucht hat, wurde ihm verweigert, von der Stadtdirektion Stuttgart zuletzt mit der Begründung: "Es liege keine Bedürfnis für seine Schriften vor." ...

Wie weltenweit die Behörden von einem Verständnis G's entfernt waren, enthüllt mit greller Deutlichkeit das fast naive Wort in den Akten gegen ihn: "Er gehe keinem geordneten Erwerb nach." Allerdings! welch Vergehen, dass ein deutscher Dichter im Zeitalter des Amerikanismus nicht einem geordneten Erwerb nachgeht - womöglich mit Reklame, Schreibmaschine und doppelter Buchführung! Dieselbe Behörde übrigens, die G. einen Strick daraus dreht, dass er nicht einem Erwerb nachgehe, hat diesen Mann viele Male bestraft, weil er "gewerbsmässig" seine Schriften vertreibe. Wie reimt sich das? ...

Gräser lebt mit seiner Frau in freier, staatlich nicht sanktionierter Ehe. Aus dem hohen ethischen Gedanken heraus, ein Beispiel dafür zu geben, dass Liebe stärker bindet als Gesetz. Trotzdem sprechen die Akten von G's Frau als von seiner "Konkubine". ... Das Konkubinat G's fungiert mit als Hauptgrund im Ausweisungsbefehl. Das ist deshalb sehr befremdlich, weil die Akten lange Ausführungen darüber enthalten, die Bevölkerung, insbesondere die Nachbarschaft G's, nehme an seinem ehelichen Verhältnis keinen Anstoss und ein Einschreiten sei deshalb (leider, leider!) nicht möglich. ...

Wenn wir Gräser oben einen Dichter genannt haben, so trifft diese Bezeichnung seine wahre Eigenart nur, wenn man sie in dem hohen Sinne nimmt: Dichter = Priester. Seine nächsten geistigen Verwandten sind Thoreau und Whitman. Nicht der Literatur will er sich ergeben, sondern - mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüte - dem Leben. Er ist religiös nicht wie der Durchschnittsmensch nur in einem umschränkten Bezirk seines Daseins (sonntags von 9 bis 10 Uhr oder so) sondern - man kann wohl sagen - in jedem Augenblick und in allen Äusserungen seines Lebens. Sein Fall ist darum eine neue Bestätigung des alten Erfahrungssatzes: dass der auf dem Gewaltprinzip beruhende Staat Menschen von starker religiöser Eigenbewegung nicht zu ertragen vermag. ...

Das dem Rang nach untergeordnete Prinzip aber ist das äussere Ordnungsprinzip des Staates. "Der Geist wehet von wannen er will." Er ist - was er war und sein wird - der in Wahrheit eigentliche Gesetzgeber! ...

Stuttgart, Mitte August 1915                                           Rechtsanwalt Dr. Alfred Daniel

(Alfred Daniel:
Ein offenes Wort zum Fall Gräser. Als Privatbrief gedruckt. Stuttgart,  Mitte August 1915)


Hier folgt Daniels Verteidigungsschrift vollständig als Kopie:






















































































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