Monte
Verità,
Erotik und Spiritualität
Die
Soziologen Max
Weber und Winfried Gebhardt über
die Anachoreten von Ascona
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1994 |
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2005 |
Winfried
Gebhardt sieht „die Kerntruppe der ‚Monteveritani’ als Beispiel
einer Gemeinschaft, die sich dem Prinzip des ‚Charisma als
Lebensform’ verpflichtet weiß“ (S. 151) – nach seiner
Darstellung in einer
Linie mit Mönchtum und
Täufertum. Welch hohe Ehre! Eine solche Gemeinschaft entstehe, so seine
Theorie, aus dem Bestreben, ein charismatisches Urereignis vor der
Veralltäglichung zu schützen: durch Absonderung, Askese und strenge
Regeln. Und
der moderne Fall, der idealtypische Musterfall sogar für die
Alternative
Bewegung, sei eben der Monte Verità.
So
weit,
so gut. Aber welches Charisma, welches Urereignis liegt ihm zugrunde?
Gebhardt
kann keines finden, jedenfalls kein individuelles. In seiner
Verlegenheit sucht
er es in Kollektiven: in dem der Lebensreform und dem der Bohème. Er
schreibt,
auf Max Webers Definitionen sich berufend, der Bohème ein „Charisma der
Vernunft“ zu, kommt dann aber zu dem Ergebnis: „Das Charisma der
Bohème ist vor allem ein Charisma der individuellen Negation, der
individuellen
Zerstörung, der individuellen Verweigerung … letztendlich … ein
Charisma
der individuellen Verzweiflung“ (157). Otto Gross nennt er zwar einen
„der führenden Theoretiker der deutschen Bohème“
(154), geht aber dann doch nicht so weit, ihm
ein gemeinschaftstiftendes Charisma zuzuschreiben. Ebenso legt er der
Lebensreform-bewegung ein kollektives Charisma bei, ohne auch hier
einen einzelnen
herausragenden Träger nennen zu können, nennen zu wollen. Für seine
Theorie ein
arges, ein peinliches Manko.
Dabei
hat
es solche „Urereignisse“ auf dieser Seite sehr wohl gegeben. Die
„Erleuchtung“ Diefenbachs ist genau auf den 28.Januar 1882 datiert
und in einer ekstatisch zu nennenden Niederschrift bezeugt. Gusto
Gräsers
geistiger Durchbruch im Frühjahr 1899 hat sich in einem Gemälde
niedergeschlagen, das mit spirituellen Symbolen – Kreuz, Lebensbaum,
Dornenkrone, Schwert, Engeln und Dämonen – geradezu übersät ist. Beide
„Erleuchtungen“ – wie immer sie zu bewerten sein mögen, aber
doch charismatische Erfahrungen – haben Gemeinschaftsbildungen zur
Folge
gehabt: hier die Lebensgemeinschaft ‚Humanitas’ von Diefenbach,
erst in Höllriegelskreuth bei München, dann auf dem Himmelhof bei Wien
angesiedelt;
dort die Liebeskommune gräserischen Zuschnitts auf dem Monte Verità von
Ascona.
Gebhardt
kennt diese Ursprünge nicht, konnte sie nicht kennen, da ihre
Bezeugungen zu
seiner Zeit noch nicht veröffentlicht waren. Immerhin hat er sie
theoretisch
vorausgesetzt und damit gewissermaßen vorausgesagt. Mangels greifbarem
Befund
gerät er allerdings auf Abwege, nimmt an, die Anarchobohème im
allgemeinen und
Landauers Schrift ‚Durch Absonderung zur
Gemeinschaft’ seien für den Monte Verità
grundstiftend
gewesen. Die anarchistischen Bohemiens stießen aber erst 1904 zum Monte
Verità,
vier Jahre nach dessen Gründung im Jahre 1900, und Landauers Schrift
entstand
erst 1903.
Eine
weitere Folge der arg einseitigen Quellenlage: Zwar nennt er Karl
Gräser den
radikaleren Denker (als Oedenkoven, 165), nennt auch Gusto mit Linse
das
„Urbild des wandernden Suchers und Gurus“ (263), stellt dann aber
doch Oedenkovens Naturheilanstalt in den Vordergrund.
Zunächst.
Denn dann kommt er zu einer überraschenden Wendung, überraschend im
Kontext
seines Themas „Gemeinschaft“. Denn wie schon Mühsam im Jahre 1905,
so gelangt nun auch Gebhardt zu dem Schluss, dass lediglich die
„Sezessionisten“ – nämlich Karl und Gusto Gräser, Jenny
Hofmann und Lotte Hattemer - ihre Ursprungsideale rein bewahrt hätten
(167).
Nicht in einer Gemeinschaft sondern als Einsiedler, als die säkularen
„Anachoreten von Ascona“ (168). Und er verteidigt diese
Entscheidung als konsequent und zeitgemäß. Denn „in Zeiten einer
forcierten
Individualisierung … in Zeiten sich entwickelnder weltanschaulicher
Pluralität … in solchen Zeiten wird die Verwirklichung der Idee einer
weltanschaulich geschlossenen, sozial und kulturell homogenen
‚Gemeinschaft’ zunehmend schwieriger“ (169). Dazuhin fehle
der zu Bewahrung von Gemeinschaft notwendige feindliche Außendruck. „Es
existiert kein ‚Gewissheitszentrum’ mehr, das
‚Ausgrenzungen’ vornimmt, weltanschauliche Gegner als ‚Häretiker’
bekämpft … Der Weg, den die ‚säkularen Anachoreten’ vom Monte
Verità einschlugen, nämlich unter völligem Verzicht auf jede Art von
‚Gemeinschaft’
ihr ‚Ideal’ radikal alleine und für sich zu leben … war durch
diese gesellschaftlichen Entwicklungen vorgezeichnet und scheint … der
einzig konsequente gewesen zu sein“ (169f.).
Das
sind
treffende Beobachtungen, zugleich ein fast schon paradoxes Ergebnis
seiner
Untersuchung. Das ursprünglich erstrebte Ideal wäre demnach – und ist
tatsächlich – nicht durch eine äußerlich organisierte Gruppe
verwirklicht
worden sondern durch eine Reihe von „Eigenen“ und Freien, die der
Gräserschen
Maxime folgten, nichts anderes als sie selbst zu sein.
So weit
und schon besser. Gebhardt hätte aber noch weiter gehen können, weiter
gehen müssen.
Er schreibt nämlich über diese
„Anachoreten“ oder „Sezessionisten“:
„Sie
… lebten … ihr Ideal eines einfachen, harmonischen, nur dem
Augenblick geweihten, sich selbst genügsamen Lebens absoluter Armut und
fanatischer Kulturverachtung … in der selbstgewählten Absonderung
einfacher Erdhütten, dafür aber im Einklang mit der ‚Natur’“
(167). Und weiter: „Von der räumlichen Absonderung über die Verachtung
materieller und kultureller Güter … und die Vernachlässigung
alltäglicher
Bedürfnisse bis hin zu einer dem Augenblick geweihten Lebensführung
lassen sich
zahlreiche Parallelen zu den frühchristlichen Eremiten ziehen“ (168).
Auch ein anarchistischer Grundzug sei beiden gemein, und auch sie
hätten
„ – wie die frühchristlichen Eremiten – neugierige,
bewundernde oder gläubige Besucher“ empfangen (ebd.).
Hätte -
nach solchen Befunden - Gebhardt nicht zu dem Schluss kommen müssen,
dass hier,
bei den „Anachoreten“, die charismatische Gemeinschaft zu finden
sei, die er suchte, und nicht in der Naturheilanstalt von Oedenkoven?
Und hätte
er nicht zu dem Schluss kommen müssen, dass in dem Sucher, Guru und
Wanderprediger Gusto Gräser der charismatische „Führer“, der
Prophet dieser Gemeinschaft zu erkennen sei? Er hätte ja nur bei seinem
Meister
Max Weber und dessen Definitionen nachschlagen brauchen, um zu
erkennen, dass
er in ihm, Gräser, die reine Gestalt eines Propheten (im Weberschen
Sinne) vor
Augen hatte.
Die
prophetische Gemeinde, schreibt Weber in ‚Wirtschaft und
Gesellschaft’, sei „eine emotionale
Vergemeinschaftung
… dem ‚Propheten’ entsprechen die ‚Jünger’
… Es gibt keine ‚Anstellung’ …. Sondern nur Berufung
… Es gibt kein ‚Gehalt’ und keine ‚Pfründe’.
Sondern die Jünger oder Gefolgen leben … in Liebes- bzw.
Kameradschaftskommunismus aus den mäzenatisch beschafften Mitteln. Es
gibt kein
Reglement … sondern (es) … gilt … der Satz: ‚es steht
geschrieben, - ich aber sage euch’; der genuine Prophet … schafft,
fordert neue
Gebote … kraft konkretem
Gestaltungswillen … Die charismatische Herrschaft ist … der
traditionalen … schroff entgegengesetzt … ist … spezifisch
irrational im Sinne der Regelfremdheit … stürzt (innerhalb ihres
Bereichs) die Vergangenheit um und ist in diesem Sinn spezifisch
revolutionär“
(WG 180f.).
Könnte
es
eine bessere Beschreibung des Gräserschen Daseins und Soseins geben?
Wort für
Wort trifft sie genau auf ihn und den Kreis seiner Freunde. Sie passt
aber
nicht auf Henri Oedenkoven und dessen Sanatorium. Gebhardt hätte nur
bei Weber
weiterlesen müssen:
„Reines
Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd.
Es konstituiert, wo es auftritt, einen ‚Beruf’ im emphatischen Sinn
des Worts: als ‚Sendung’ oder innere ‚Aufgabe’“
(WG 181).
Dieser
einzige Satz hätte genügt um zu erkennen, dass es im Streit der
Gräsergruppe
mit Odenkoven um die Selbstbehauptung einer charismatisch-prophetischen
Gemeinschaft gegen ihre Veralltäglichung ging. Kaum hatte Oedenkoven
von den Sezessionisten
sich getrennt, stand die (Wieder-)Einführung von bezahlten
Angestellten, von
Technik, von Hierarchie, von allem Drum und Dran der
„Veralltäglichung“, d. h. der Anpassung an das allgemein Übliche,
auf der Tagesordnung.
Kurz:
Mit
der Anwendung Weberscher Kategorien auf Gusto Gräser und seine Gesellen
erhellt
Gebhardt das Wesen dieser Gemeinschaft auf die denkbar treffendste
Weise
– hätte es erhellt, wenn er seinen Ansatz konsequent zu Ende geführt
hätte. Auch für ihn gilt – und in weit stärkerem Maße -, was er Martin
Green vorhält: Er „löst sich nicht immer von der
Hofmann-Oedenkovenschen
Interpretationsvorgabe“ (Gebhardt 265).
Geben
wir
zuletzt noch einmal Max Weber das Wort:
„Das
Charisma ist die große
revolutionäre Macht in
traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls
revolutionierenden Macht der ‚ratio’ …. kann
Charisma eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder
Begeisterung
geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung
unter
völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen
Lebensformen
und zur ‚Welt’ überhaupt bedeutet“ (WG 182).
Winfried
Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen
Lebens.
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1994. Schriften zur Kultursoziologie,
Band 14, 295
Seiten.
Max
Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden
Soziologie.
Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2005, 1138 Seiten.
Zitate:
Winfried
Gebhardt in Charisma als
Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens. Berlin
1994:
Die
hier
genannten, explizit „charismatischen“ Merkmale gelten, wie gesagt,
nur für einen kleinen, radikalen Teil der Lebensreformbewegung …
„Revolutionäre“ Absichten waren nur bei einer verschwindend kleinen
Minderheit festzustellen. …
(Das)
Charisma der Lebensreformbewegung …
läßt sich … als ein … „Charisma der Wiedergeburt“
bezeichnen. (159)
Karl
Gräser war also der radikalere Denker, er suchte den absoluten Bruch
mit der
„alten Welt“ und ihren Vorstellungen von Eigentum und Kultur, blieb
seinem „Willen zum bedingungslosen Austritt aus der normierten
Kultur“ treu, orientierte sich an „urkommunistischen Ideen“
und widersetzte sich allen Kompromissen. Er und seine Lebensgefährtin
Jenny Hofmann
setzten ihren ganzen Stolz darin, alles was sie zum Leben benötigten,
selbst
herzustellen. Sie wollten sich mit den primitivsten Bedarfsmitteln
begnügen und
lehnten es prinzipiell ab, sich auch nur im mindesten
auf kapitalistische Geld- und Tauschbeziehungen einzulassen. (165f.)
Die
Sezessionisten Karl Gräser, Jenny Hofmann und Lotte Hattemer (blieben)
fest
entschlossen, ihre Ursprungsideale „rein“ zu bewahren. Sie
verließen zwar das Gelände des gemeinsam begonnenen Siedlungsprojekts,
nicht
aber den Monte Verità. Sie siedelten sich in der Nähe der
Oedenkovenschen
Besitzung an und lebten hier ihr Ideal eines einfachen, harmonischen,
nur dem
Augenblick geweihten, sich selbst genügsamen Lebens absoluter Armut und
fanatischer Kulturverachtung – Jenny und Karl gemeinsam, Lotte alleine,
jeweils in der selbstgewählten Absonderung einfacher Erdhütten, dafür
aber im
Einklang mit der „Natur“. Ihr Beispiel wirkte ansteckend. Von
überall her zogen „Kulturmüde“ und „Zivilisationsgeschädigte“
nach Ascona, um hier auf eigener Parzelle dem Beispiel Gräsers
nachzueifern.
… Auch „Gusto Gräser“ zog es für eine gewisse Zeit wieder
zurück nach Ascona, wo er in einer Erdhöhle Zuflucht fand. …
E. Dennert …
bezeichnete
sie als die „Anachoreten von Ascona“. Und in der Tat trifft diese
Bezeichnung den Kern des Phänomens. Von der räumlichen Absonderung bis
hin zu
einer dem Augenblick geweihten Lebensführung lassen sich zahlreiche
Parallelen
zu den frühchristlichen Eremiten ziehen. (167f.)
Joachim
Radkau
in Max
Weber. Die Leidenschaft des Denkens.
München Wien 2005:
Die
Zeit um 1900
markiert einen
Höhepunkt der Naturheil- und Lebensreform-Evangelien. … Sie öffneten
einen
neuen Zugang zur Religionsgeschichte; und Max Weber gehörte zu denen,
die
diesen Impuls, auf eigene Erfahrung gestützt, aufzunehmen wußten. (584)
Auf dem
Monte Verità tritt Weber das Vegetariertum … in Verbindung mit freier
Liebe und Nacktkultur entgegen. (584)
Nicht
die
Reform der Lebensweise als solche bringt die Lebenswende; das gelingt
erst in
Verbindung mit der Liebe: Diese Erfahrung muß für Weber eindrucksvoll
und
elementar gewesen sein. Sie spiegelt sich von da an in seiner
Religionssoziologie: Die ursprüngliche Kraft der Religion entspringt
nicht der
asketischen Lebensmethodik als solcher, sondern nur jener Askese, die
ein
Ausdruck des religiösen Enthusiasmus und „Liebeskommunismus“, der
spirituell-erotischen und ekstatischen Religiosität ist.
Auf dem
Monte Verità bei Ascona … findet er die vegetarische Askese in
nicht-asketischer Verbindung. Da sieht er wie im Kaleidoskop die
gesamten
Lebensreformbewegungen seiner Zeit vor sich … auf dem „Berg der
Wahrheit“, dem Heiligen Berg der Jünger der „Mutter Erde“.
(588)
Mit
diesem Naturmenschentum kann sich ein Teil von ihm identifizieren. Auf
seine
Art ist ja auch er ein Aussteiger; und zunehmend fesseln ihn andere
Menschen,
die sich der Alltagswelt entziehen. Das „Außeralltägliche“ wird zum
Weberschen Reizwort. … Der Berg ist ein wahres Labor für das, was
geschieht,
wenn sich Außeralltägliches, Enthusiasmus, Weltverneinung zur Bewegung
zu
formieren sucht. (589)
Besitzt
das Charisma-Konzept irgendeine Logik, die sich aus Webers allgemeinen
Vorstellungen … herleiten läßt? Augenfällig ist auf den ersten Blick
der
Widerspruch zu den Vorgängen der Rationalisierung und Bürokratisierung,
die
Weber allenthalben erkennt. Für ihn gibt es jedoch etwas im
menschlichen Wesen,
das gegen die Entzauberung und Veralltäglichung, gegen die dem
Individuum
angelegten Zwangsjacken rebelliert. Und es ist dieses Außeralltägliche,
Leidenschaftliche,
Ekstatische, an keine ängstlichen Rücksichten Gebundene, das in der
Geschichte
die Macht der Gewohnheit durchbricht und das Neue schafft: Das ist die
Verbindung zu Webers Grundanschauung. (603)
Wieso
verbringt Weber zweimal im Frühling ohne Marianne einen ganzen Monat in
Ascona?
Ging es ihm wirklich, wie Sam Whimster meint, am Anfang „offensichtlich
in erster Linie um Ruhe und Erholung“? Für Weber war Ascona damals
jedoch
kein Urlaubsort wie jeder andere. … Über die Sub- und Gegenkultur auf
dem
Monte Verità muß er, schon bevor er dorthin fuhr, bestens Bescheid
gewußt
haben. (590)
Der
große
Entzauberer sehnt sich, wenn auch etwas verschämt, nach einer
Wiederverzauberung der Welt; und der Zauberstab ist die Liebe. Zugleich
kommt
auch der Entzauberer in ihm am Monte Verità auf seine Kosten … (591)
In jene
Vorkriegsjahre fällt die Entstehung der berühmten Zwischenbetrachtungen
zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, die für
den neueren
Weberkult ein ähnlich heiliger Text wurde, wie dies die Protestantische
Ethik für den älteren war. … Wenn er später
gegenüber Else von
der Zwischenbetrachtungs-Euphorie
(wörtlich:
„Zwischenbemerkungs-Euphorie“) spricht, (wird klar): daß sich Weber
damals ungeachtet aller Klagen und Querelen in einem euphorischen
Zustand
fühlte, die Euphorie von Erotik getragen wurde und sich die Erlösung
mit der
Erleuchtung, mit geistiger Klärung verband.
Der
elfte
Paragraph der Religionssozologie Religiöse Ethik und
„Welt“ steht der Zwischenbetrachtung inhaltlich
nahe
… Nach einigen Umwegen nähert er sich im zweiten Teil beider Texte der
Beziehung zwischen Erlösung und Erotik, streckenweise in einem
grandiosen
Crescendo. … Es ist in der Tat ein Dokument der Erleuchtung, wo eine
Vielfalt von Ideen zu einer gedrängten Gedankenfülle zusammenschießt …
(597)
„Die
höchste Erotik steht mit gewissen sublimierten Formen heroischer
Frömmígkeit im
Verhältnis gegenseitiger psychologischer und physiologischer
Vertretbarkeit.
… Im Einklang steht der erotische Rausch … nur mit der
orgiastischen, außeralltäglichen, aber in einem besonderen Sinne
innerweltlichen, Form der Religiosität. .. (I/19, 508-510)
Zwischen
dem „Orgiasmus“ der religiösen Ekstase und dem sexuellen Orgasmus
wird der Übergang fließend. (598f.)
Weber
hatte entdeckt, daß Erotik und Spiritualität sich wechselseitig
steigern. (599)
Edith
Hanke in Prophet
des
Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen
Diskussion der
Jahrhundertwende. Tübingen 1993:
Die
beiden "arationalen und antirationalen" Sphären, Erotik und Ästhetik,
bildeten sich - so Weber - unter den Bedingungen der Moderne zu
eigenständigen
Wertbereichen aus. Dem modernen Menschen verhießen sie die
"innerweltliche
Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des
theoretischen und praktischen Rationalismus". Sie seien Ausdruck einer
zunehmenden Verinnerlichung und Subjektivierung der Kultur. Weber hatte
hier
sicherlich den George-Kreis, aber auch die Künstlerkolonien in
Schwabing und
auf dem Monte Verità vor Augen, wo Kunst und Erotik als
lebensbestimmende Werte
verwirklicht wurden. (202)
In
der [nach 1913 niedergeschriebenen!]
"Zwischenbetrachtung" arbeitete Weber die inhaltlichen Spannungen
zwischen dem weltflüchtigen Christentum und der Kultur der Moderne
heraus.
Hinter der Chiffre der akosmistischen Brüderlichkeitsethik verbargen
sich
zentrale Aussagen des tolstoianischen Christentums. … die Ethik Leo
Tolstois wurde als Infragestellerin und Gegnerin der abendländischen
Kultur -
oder in Webers Worten: des okzidentalen Rationalismus - logisch
durchdacht. Dem
Kapitalismus und dem empirischen Rationalismus setzte sie eine
spezifisch
russische Brüderlichkeits- und Naturethik entgegen. (208)
Edith
Hanke in Andreas Schwab und Claudia
Lafranchi (Hg.): Sinnsuche und Sonnenbad.
Experimente in Kunst
und Leben auf dem Monte Verità. Zürich 2001:
Webers
Briefe aus Ascona machen uns zu Zeugen eines fortgesetzten Gesprächs
über
moralisch richtiges Handeln und dessen manchmal irrationale Folgen. Er
berichtete seiner Frau Marianne von den Gesprächen mit einigen der
Anarchisten
in Ascona. Dabei hielt er die tiefen Überzeugungen fest, welche die
Anarchisten
antrieben. (43f.)
Männer
wie Frick und Otto Gross waren in Webers Sprache Weltverbesserer,
ein Typus, den er bewunderte. Doch er verlangte von ihnen die Reife, zu
erkennen, dass ihre Utopie der Gemeinschaft unmöglich war, und den Mut,
die
Anpassung an die Welt zu verweigern. (58)
Max
Weber, zitiert in Marianne Weber: Lebensbild
(1984), S. 614f.:
„Entweder
– oder! Entweder dem Uebel nirgends
mit
Gewalt widerstehen, dann aber: - so leben wie der heilige Franz und die
heilige
Klara, oder ein indischer Mönch, oder ein russischer Narodnik (?).
Alles andere
ist Schwindel oder Selbstbetrug. Es gibt für diese absolute
Forderung nur den absoluten
Weg: den des Heiligen.“
Edith
Hanke in Sinnsuche
und Sonnenbad, S. 57:
Gusto
Gräser verkörperte diese Praxis …
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