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ORGIASTOS Labans Neugeburt in
Ascona Während
seiner Zeit in Ascona zwischen 1915 und 1918 hat Laban rund ein Dutzend
Tanzdichtungen geschaffen, die meistenteils auch aufgeführt wurden:
Hymne vom
„Traum der Erde“ – Fiur-Schöpfungsmythos – Das Fest – Die Geburt des
Menschen –
Anarchos – Der mystische Schrei – Sonnenfest – Die Wunderblume – Die
Tänzer vom
Berg und andere. Hauptfigur in ‚Anarchos’ ist Orgiastos – und im
Zeichen des
Orgiastischen, das im Tanz sich offenbart, steht letztlich die ganze
Reihe.
Rudolf von
Laban:
Die Geburt des Menschen Ein Tanzdrama, entstanden um 1916 auf dem Monte Verità Brechet die Fesseln / Brechet den Zwang / … (30) Freiheit! Unermesslichster aller Gedanken! Wahrwort ohne Gesetzesform … (31) Fruchtbare, gefesselte / Gewalten! Tobet hernieder! Jahrtausende alte Schande / Gehemmter, Geknechteter / Seelenwünsche – Erschreckend ist euer grausames Sausen! Und aller Kriege / Gezügelter Jammer / Gehemmter Brand Was ist er? … Und was ist alle Freudelust Der Ruhe Der Weichlichkeit / gegen die harte Stärke Der Klarsehenden Lügenlosen Menschen! … (33) Fahret hin! Ihr Tröpfe und Gespenster! Den Menschennamen Schändende! … (34) Auf! Ihr starken Brüder! Zündet den Funken! Wecket das Unheil! Entfesselt das Geschlecht / Der Geknechteten./ Heiligt die Freien. … Auf! Ihr Brüder! … (35) Lasset Arm / Und Auge und Schrei / Nicht mehr rasten / Bis der Brand brennt / Bis das Ungeheuerliche / Reinigende / Durch die Welt tost. … (36) Das große Wehe seh’ / ich nur / Und ahne bloß den Schimmer / Neuer Welten / kommender Lande – Ob ich das Lichte / sehe. Ob mein Leib ins Kommende / Land geht – Ob ich im Sturm zerbreche / Ob ich vergehe – Ich zünde den Brand / Und schleudere die Fackel / Und fache das Lodern … Auf! Ihr starken Brüder! Zündet und fachet / Den lodernden Brand. Stürzet wie wildeste / Wasserwogen / Über Atmendes und Totes. Brechet aus! Aus den Gefängnissen / Des steinharten Zwanges. Öffnet den Schlund – Aus dem die Gluten / Wild quellen werden / kochend, spritzend / Fauchend. Und überhallet / Die wütende Entladung / Mit eurem Schrei. Dem Schrei des Menschen. Dem starken Odem / des Kommenden. Der Quelle hoher Leuchtender Wahrer Menschenart! (37) Anmerkungen:
Entstanden
um 1916. Die Verwandtschaft, Nähe, ja, Übereinstimmung mit Gesinnung
und
Sprache Gräsers ist augenfällig, bei genauerem Hinsehen auch die
Unterschiede. Das
Feindwort bei beiden: „Zwang, Zwinger, Zwangsangst“. Gräser: „Ohne
Zwang!“ –
„Zwings, der Gescheitheitsteifel“ Die Feuermetaphorik:
„Brand, Brände, Flamme, Funken, Lodern, Zünden, Fachen, Brennen,
Fackel, Feuer,
Glühen, Gluten, Blitz“. Bei Gräser dito, doch verwendet er
bezeichnenderweise
nicht die theatralisch-pathetische „Fackel“. „Herz, Blut,
Seele“: Bei Gräser dito. „Quelle und
Schrei“: Bei Gräser dito. Anruf an
die „Brüder“: Bei Gräser ebenso, aber öfter „Freunde, Gesellen“. Gegen
„Gesetzesform“ und „gebundenes Gewissen“. Bei Gräser dito. Gegen
„zwingendes Gesetz, Sklaven, Knechte, Geknechtete“. Gräser ebenso. Für
„Freiheit, Kraft, Geist, Liebe, Bekennen, Empörung, Mut, Strömen,
Baukraft,
Erkennen, Trunkenheit, Begeisterung, Reinigung, Tat“. Gräser dito. Lieblingsworte:
„frei, wahr, wild, glühen, blühen, quellen, strömen, singen, wachsen,
erstehen“. Wie bei Gräser. Ausblick
auf das „Kommende neuer Welten“, den
„starken Odem des Kommenden“, auf den „Menschensohn“. Gräser: „Zeichen
des
Kommenden, Erdsternsohn“! Handelt es
sich einfach um den Gemeinwortschatz pathetischer Idealisten und
Empörer? – Das
ist die Frage. Nicht mehr als die übliche Sprache der Expressionisten?
– Das
wäre zu untersuchen. Auf den ersten Blick jedenfalls zeigt Labans
Dichtung das
Gräsersche Profil – in pathetisch-rhetorischer Übersteigerung. Es ist,
als
wenn Gräsers langsam und stetig
gewachsene Überzeugungen in Laban eine explosive Befreiung ausgelöst
hätten. Dass dies
der Fall ist, zeigt ein Vergleich mit einer früheren Dichtung von
Laban: ‚Zwischen den
Schatten’, entstanden um 1914. Hier zeigt sich
Laban noch als ein Zerrissener, ein
verzweifelt
Suchender, mit seinem Schatten Kämpfender. „Ich
erkannte im Lustschatten die Verworfenheit meiner Sinne. Von fernher,
aus
frühester Jugend, wogte ihre Gier. Genießen, Genießen, schrie es von
jung auf
in meinen Gedärmen“ (S. 43). Sein Schatten spricht zu ihm: „Ich bin die
Seele
deiner getöteten Lust“ (44). Von
diesem Dämon befreit er sich im Text von 1916, er gibt der
getöteten Lust freien Lauf, er wagt, sich zu ihr zu bekennen, er wird
der von
schöpferischer Energie, von Laune, Übermut und Einfällen überströmende
Mensch,
als den ihn seine Schüler beschreiben. Und er, der sich bis 1914 mühsam
mit
Studenten- und Faschingsbällen in München durchgeschlagen hatte, wird
der
mitreissende Erfinder und Inszenator einer neuen Tanzkunst, die vom
Monte
Verità ihren Ausgang nimmt. Der Berg war ihm ein Ort der Befreiung, der
Wandlung geworden.
Sein Text
ist rauschhaft, aggressiv, mit Spitzentönen von Hass, die bei Gräser gänzlich fehlen. Bei Laban ein Durchbruch,
ein
Dammbruch, ein hochzischendes Strohfeuer der Begeisterung bis an den
Rand des
Fanatischen, ungebremste Selbstüberschätzung und Überhebung – während
Gräsers
Kraft gelassener, milder, bodensicherer auftritt. In
dieser Zeit lässt sich Laban einen langen Bart wachsen – der
bald wieder fällt. Ernährt sich vegetarisch. Legt Gärten an, versucht
mit
seiner Liebes- und Leibeskommune teilweise Selbstversorgung durch
Selbstarbeit
(Gartenarbeit, Hauswirtschaft, Handwerk). Äußerste Einfachheit und
Genügsamkeit:
eine seiner Schülerinnen haust in einer Klavierkiste. Er inszeniert den
Höhepunkt seines Sonnenfest-Spiels auf der Wiese vor Gräsers Höhle.
(Die Wiese
war Gräsers durch Schenkung erworbener Grundbesitz!)
Sein eigener Tanzstil ohne Musik und mit
Neigung zum Nackttanz entspricht den Gräserschen Vorgaben (balabiott!).
Seine
Schülerin und Mitarbeiterin Marie Wiegmann verkehrte freundschaftlich
im Hause
Gräser. Er selbst scheint sich zurückgehalten zu haben, vielleicht um
sich
seine Eigenständigkeit zu bewahren.
Chorisches
Tanzspiel Entstanden
zwischen 1915 und 1918 in Ascona Wo bist du, Fiur, ersehntes Fest? Wo bist du Freude? Und wahres Freudeleid? Wo? Sage, rufe, dass ich dich hole, dass ich dich gebe den Harrenden! … Wenn die Lust des Lebens ihr Feuer zu dem Glitzern der Lüfte mengt, wenn die Kraft des Wirkens zu der Schönheit der blühenden Gärten steht – wenn der Geist der Weisheit in seliger Freude erscheint. Seht, seht, dann ist er da! Der heilige Tanz des Freudeleides! … Frei, Frei ist Fiurs Welt. Fiur! Lösender! Festlich Freudleidender! Du nahst und sprichst das Geheimnis ... Dreiheit! Das heilige Fest … unseres inneren Tanzes! Hier ist das Fest! Aus dem
Kommentar von Evelyn Dörr: Fiur
symbolisiert ähnlich dem „Zarathustra“ eine Art von
„orgiastischem Welterlöser“, einen „Dionysos-Fiur“. … Fiur ist der
„lächelnde
Weise“, der von den Musen … mit Tanz, Poesie und Musik und mit ihrer
ewig-weiblichen Liebe „genährt“ wurde. … Diese „Dreiheit“, die
symbolisch auch
für die Symbiose von Natur, Kunst und Freiheit steht, erzeugt „Fiur“. …
Die immer stärker und weiter
anschwellenden
chorischen Gesänge (künden) von der Ankunft des Welterlösers … Dieser
weltersehnte „neue Mensch“ … erscheint. Mit „großen Gebärden“ lenkt er
den
Tanz, ordnet das Geschehen. Aus
Rudolf Laban: Das choreographische
Theater. Kommentiert von Evelyn Dörr. Norderstedt 2004. S. 19-28 Fiur-Schöpfungsmythos Tanzdichtung 11
Im Stück spielt … Fiur die Hauptrolle. 12
In Labans französischen Notizen heißt es: „Erdenzucht ist Dienen der
Menschenzucht, dem Menschenziel“. Laban meinte damit, dass das „Chaos“
der
entfesselten Natur in eine in sich harmonische Ordnung zurückgeführt
werden
soll. Die Mittlerin für diese Transformation – von Chaos in Kosmos –
war für
Laban die Kunst. 14 Mechanos
herrscht
als Zerbrecher der Liebe … 16 Mechanos ist Herr über das Grab der Erde,
und er
wacht darüber, dass es sich nicht erfülle, was Osge träumend denkt:
„Einst wird
es Dämonen geben, Fiur-Menschen, deren Wille stark wie das springende
Tier,
deren Fühlen sanft wie die wuchernde Pflanze, deren Wissen klar wie der
klingende Kristall ist“. 16
Laban … sprach der Erde eine Art von Bewusstsein zu. Er glaubte, genau
wie
andere Romantiker, dass jeder Teil der Natur durch eine Art „der
‚Sympathie’
mit allen anderen verbunden“ sei, und schrieb: „ Zur Erde. Liebehass –
Stolzdemut – Lustleid sind die Eigenschaften der Mutter Erde … Die
Heimkehr des
Geschöpfes zum Gott Vater, der idealen Einheit, beginnt durch Besinnung
auf den
eigenen Kern. … Die Hölle des Vergessens unserer wilden Primitivität
scheint
vergangen zu sein. Es gibt Menschen, die das Licht der Schönheit sehen.“ Aus
Rudolf Laban: Das choreographische Theater. Kommentiert von Evelyn
Dörr.
Norderstedt 2004. S. 11-18 Bühnenskizze
von Laban Anarchos Bühnentanzspiel Entstanden um
1916 auf dem Monte
Verità 38 Das
Tanzspiel weist den Choreographen auch
als Theosophen aus, der an ein allen Religionen zugrunde liegendes
Gesetz
glaubt. Denn laut Laban kann keine Religion die alleinige Wahrheit für
sich
beanspruchen: allein im Tanz offenbart sich das „kosmische Gesetz“.
39 „Das höchste Gesetz, das gesetzlose Gesetz … 40 Ihr findet’s nur im Leben, Schönheit, Sein. Im Wechsel, Wandel, im Irren, in der Tat! … Wahr sprichst du, Orgiastos … Statt tollem Zeugen und Herrschaft männlicher Gewalt Wird listige Liebe, Weiberahnen, hoher Schoß der tiefsten Sinne Walten über der Welt. … Polyandrische Liebe!“ Aus Rudolf Laban:
Das choreographische Theater. Kommentiert von Evelyn Dörr. Norderstedt 2004. S. 38-40 Rudolf
Laban: Tanzende Dreiheit |
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