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Anton Losert

Neben dem Maler Karl Wilhelm Diefenbach hatte der Berufsschullehrer und ehemals sozialdemokratische Wanderredner Anton Losert entscheidenden Einfluss auf den Weg von Gusto Gräser. Die beiden lernten sich im Herbst 1898 in Diefenbachs Himmelhof-Gemeinschaft kennen. Die urchristlich-radikalen Anschauungen von Losert, der dem ‚Bruderbund’ von Johannes Guttzeit angehörte, wirkte offenbar stark auf den bereits zu Diefenbach in Opposition stehenden Siebenbürger. Zusammen rebellierten sie gegen den autoritären Führungsstil ihres Meisters und schieden im Streit aus seiner Gemeinschaft. Gräser hat während seiner ersten Wanderschaft im Sommer 1899 seinen Freund Losert in Eppan bei Meran besucht. Über spätere Verbindungen ist nichts bekannt.


Die Zeitschrift des "Bruderbunds" von Johannes Guttzeit

Gräser mit Losert (im Hintergrund) auf dem Himmelhof 1898



Die Zeitschrift des "Bruderbunds" von Johannes Guttzeit
Gräser mit Losert (im Hintergrund) auf dem Himmelhof 1898


Mit Losert für einen urchristlichen Diefenbach

Kurz bevor Diefenbach im Frühsommer 1895 Wien verließ, um sich auf die Wanderung durch die Alpen nach dem Süden zu machen, erreichte ihn die Zusendung eines jungen Schriftstellers. Ein gewisser Anton Losert in Salzburg schickte ihm die Nummer 21 seiner 'Blätter für Sozialreform'. Losert war anscheinend durch die Münchner Ausstellung von 1890 auf Diefenbach aufmerksam geworden und hatte in ihm einen Geistesverwandten erkannt. Ein Briefwechsel bahnte sich an; auch hielt Losert für nötig, dem damals im Karwendelgebirge sich aufhaltenden Meister seine standesamtliche (nicht aber kirchliche!) Trauung mitzuteilen: Hinweis darauf, daß er die kirchenkritische Einstellung Diefenbachs kannte und teilte.

Er selbst verstand sich als Christ im Sinne der Bergpredigt und scheint einer Gemeinschaft angehört oder nahegestanden zu haben, zu der auch Elisabeth Guttzeit und ihr Lebensgefährte Wilhelm Walther zählten. (Vermutlich handelte es sich um den von dem ehemaligen Offizier Johannes Guttzeit um 1885 gegründeten „Bruder-Bund“, früher "Pythagoräer-Bund". Der Einfluß und das Vorbild von Tolstoi mag in diesem Bund wirksam gewesen sein.) Man sprach sich als "Bruder" und "Schwester" und mit "Du" an, benutzte  zeitweise eine stark vereinfachte Rechtschreibung und lebte einer schwärmerischen christlich-reformerischen Gesinnung. Dies geht u.a. aus den Briefen hervor, die Wilhelm Walther schon kurz nach seinem Eintreffen auf dem Himmelhof  im August 1898 an Losert richtete. Darin preist er Diefenbach in den höchsten Tönen als einen Nachfolger Christi und lädt den "lieben Menschenbruder" Losert zum Kommen ein. Es könne für ihn keinen besseren Platz geben.

Und Losert kommt umgehend, schließt sich am 27. August der Humanitas-Gemeinschaft an. Er ist zunächst von Diefenbach und seinem Himmelhof derart angetan, daß er auch anderen dieses "Paradies" erschließen möchte und seine Bekannten zum Herkommen ermuntert. Die Begeisterung scheint nicht lange vorgehalten zu haben. Bereits 12 Tage später "entläßt" der Meister, zusammen mit der Familie Walther und Gusto Gräser auch den Schriftsteller Anton Losert. Und dies, obwohl ihm dieser Neuzugang zunächst als eine willkommene Bereicherung erschienen war. Ob die Initiative zu diesem Hinauswurf von Diefenbach ausging, ist freilich fraglich. Nach der Tagebuchaufzeichnung einer Jüngerin hat sich Losert "in einer ganz niedrigen, pöbelhaften und opponierenden Weise entfernt" (Anna Bayer, S.9), womit sich die angebliche "Entlassung" als Aufstand eines Kritischgewordenen entpuppt. Nimmt man die ausgiebig belegte gleichzeitige Opposition Gusto Gräsers gegen den Meister hinzu und zieht außerdem in Betracht, daß beide auch nach ihrem Austritt in Verbindung blieben, so wird klar, daß Gräser und Losert sich in gemeinsamem Widerspruch gegen Diefenbach gefunden hatten.

Was hat sie verbunden? Woran entzündete sich ihre Kritik? Eine direkte Aussage Loserts liegt uns nicht vor, doch lassen sich Schlüsse ziehen aus einer Schrift, die er - erstaunlicherweise noch nach seinem Ausschluß! - zur Verteidigung Diefenbachs geschrieben hat. Darin zeichnet er ein Bild seines einstigen Meisters, das dem Dargestellten nicht ganz geheuer sein konnte. Diefenbach predige wie Jesus das Reich Gottes; er lebe wie die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde: "sie säen nicht, sie ernten nicht ... und unser himmlischer Vater ernährt sie". Er weist damit den Vorwurf der Bettelei, des "Nichtstuns und Dochlebens", wie ihn Xaver von Gayersperg in einem scharfen Presseartikel gegen Diefenbach erhoben hatte, nicht etwa zurück, nein, er nimmt das Betttelrecht in herausfordernder Weise in Anspruch. Gelderwerb sei Sünde, sei die Erbsünde, Geld das teuflische Mittel der Gottentfremdung. Diefenbach sei berufen,  in diesem Sinne ein "Meister des Nichtstuns" zu sein.

"Ihr sollt weder Gold, noch Silber, noch Geld in eurem Gürtel haben, auch keine Tasche auf dem Weg, noch zwei Röcke, noch Schuhe, noch Stab; denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert." "Gehet hin und prediget das Himmelreich" - - Nicht mehr, nicht weniger tut Diefenbach. Und wenn man ihn nun lästert ...  darum weil er tut, was die Apostel des Herrn getan, der hat in Diefenbach den Apostel des Herrn gelästert. Und Diefenbach polizeilich aus dem Lande weisen, darum weil er nach der Lehre Jesu lebt und lehrt, heisst Jesum Christum polizeilich aus dem Lande weisen. ...

Immer und immer, mit tausend Stimmen, soll es hinausgerufen werden in alle Welt: "Erwerb" ist Kain, Erwerb ist Sünde; wir - Arbeiter im Sinne Jesu - sind berufen, "Meister des Nichtstuns" im Sinne des "Erwerbens" zu sein. Erwerb ist Erbsünde. Das "Geld" aber - die goldenen Eierlein, die der Erwerb, die gierig scharrende höllische Henne, legt - ist das teuflische Mittel der - Gottentfremdung.

Mit dieser Darstellung schießt Losert zweifellos über die Intentionen des Verteidigten weit hinaus. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren - zumal in Anbetracht seiner Opposition und seines Weggehens vom Himmelhof -, daß Loserts Kampfschrift nach beiden Seiten ausschlägt, daß sie den Angreifer aber zugleich auch den Verteidigten treffen soll, als Mahnung: so solltest du sein, so müßtest du denken und handeln, wenn du deinem eigenen hochgesetzten Anspruch gerecht werden willst. Wir wissen, daß Gräser, jedenfalls in seinen frühen Jahren, den selben Standpunkt vertreten und auch gelebt hat: Geld ist des Teufels, "wir" gedeihen auch ohne Geld. Er ging also in dieser radikal urchristlichen Gesinnung mit Losert völlig  einig. Und wenn dieser die bekannte Anweisung Jesu' an seine Jünger zitiert, daß sie besitzlos wandernd zu den Menschen gehen und weder Gold noch Silber noch Geld in ihrem Gürtel tragen sollen, dann hat Gräser diese Forderung wörtlich genommen und, wenige Monate später, in die Tat umgesetzt.

Er ist dennoch nicht als ein Jünger und Apostel Jesu aufgetreten, sondern, wenn auch unausgesprochen, als ein Apostel der Diefenbachschen Natur-Religion. In dem halben Jahr zwischen seinem Ausscheiden vom Himmelhof und dem Beginn seiner Wanderschaft muß er eine kritische Besinnung durchgemacht haben, die etwa  so gelautet haben könnte: Was Diefenbach tut, ist eine Halbheit, ist inkonsequent. Er verwirft diese Kultur, diese Gesellschaft, diesen Staat, die ganze Zivilisation - und bedient sich zugleich -  und das in raffinierter und hartnäckiger Weise - ihrer Mittel und Möglichkeiten. Ein Prophet der Liebe, der Selbstbescheidung und der Gewaltlosigkeit, der in herrschaftlicher Villa wohnt, gegen seine Feinde und selbst gegen seine eigenen Anhänger Polizei und Justiz zur Hilfe ruft, der alle Welt bis hin zum Kaiser mit untertänigen oder fordernden Bittschriften überschüttet, der jedes Mittel zur Selbstreklame nutzt, der laufend Zahlungs- und Leistungsversprechungen abgibt, von denen er wissen muß, daß er sie nur zum geringsten Teil, wenn überhaupt, wird einlösen können, der ständig die große Wendung und Rettung, seine eigene nämlich,  verspricht, während es ebenso ständig mit ihm bergab geht, der unausgesetzt mit seinen Leiden und mit Anklagen gegen die böse Welt beschäftigt ist und darum leider nur wenig Zeit für seine Schüler hat - ein solcher selbsternannter "Prophet" und "Erlöser der Menschheit" kann weder mich noch sonst jemand auf die Dauer überzeugen. Und doch leuchtet mir die Richtigkeit und Notwendigkeit seiner Botschaft, von deren Kern zumindest, ein.

Aus diesem Dilemma rettete sich Gräser in den Entschluß, ein anderer, ein besserer Diefenbach zu sein. Er verzichtet auf den Schutz des Geldes, der Gesetze, der gesellschaftlichen Achtbarkeit. Wer eine Welt aus den Angeln heben will, der muß einen Punkt außerhalb dieser Welt finden, der darf sich nicht abhängig machen von den Gesetzen und Ritualen dieser Welt. Diefenbach hatte nur einen halben Schritt getan, er mußte den ganzen tun.

Folgerichtig geht Gräser als offener, nicht als verlarvter "Bettler" in die Welt - und wird eben deshalb von Diefenbach abermals ausgestoßen. Als er im Mai des Jahres 96 nach Triest kommt, in Waldmenschentracht und auf die Barmherzigkeit seiner Mitmenschen angewiesen, da ist sein einstiger Meister entsetzt. Da sei Gott vor, daß ihm dieser "Vagabund" auch noch "helfen" will! Er schädigt seine Reputation, seinen Kredit! Daß ihm Gräser in seiner Naivität tatsächlich helfen wollte, wie Friedrich von Spaun berichtet, ist durchaus glaubhaft. Es war aber wohl weniger eine Hilfe beim Malen gemeint als die Aufforderung an Diefenbach, den Sprung zur letzten Konsequenz seines so oft beredeten Denkens zu tun. Ein solcher Anstoß aber hätte das Gebäude von Diefenbachs scheinbürgerlicher Existenz, so ungesichert es immer schon sein mochte, endgültig und grundsätzlich zum Einsturz gebracht. Darum mußte diesem Schüler, der seinen Lehrer belehren wollte, die Tür gewiesen werden.

So entschied es sich denn, in jenen Tagen des Mai 1899, daß Gräser nicht Apostel des Propheten Diefenbach werden sollte sondern Prophet in eigener Sache, aus eigenem Denken. Der Vater- und Führerlose mußte sich selbst Vater und Führer sein.

Ihm war ein Vorbild gegeben, das ihm höher stand als der Meister Diefenbach. Seine Richtschnur lag in den Mahnungen der Bergpredigt, die sein Freund Losert so zusammengefaßt und zugleich für und gegen Diefenbach gewendet hatte:

"Ihr sollt weder Gold, noch Silber, noch Geld in eurem Gürtel haben, auch keine Tasche auf dem Weg, noch zwei Röcke, noch Schuhe, noch Stab; denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert." "Gehet hin und prediget das Himmelreich"  ...

Immer und immer, mit tausend Stimmen, soll es hinausgerufen werden in alle Welt: "Erwerb" ist Kain, Erwerb ist Sünde; wir - Arbeiter im Sinne Jesu - sind berufen, "Meister des Nichtstuns" im Sinne des "Erwerbens" zu sein. Erwerb ist Erbsünde. Das "Geld" aber - die goldenen Eierlein, die der Erwerb, die gierig scharrende höllische Henne, legt - ist das teuflische Mittel der - Gottentfremdung.

Als "Arbeiter im Sinne Jesu" wird Gräser hinaus- und umhergehen, unbehaust und besitzlos, ohne Geld, ohne Broterwerb - ein Rufer, Mahner und Prediger, der aber nicht das "Himmelreich" predigt sondern  - das "Erdsternreich".

Dokumentation zu Anton Losert

 

 

Der Naturprediger Johannes Guttzeit (1853-1935), Herausgeber der Zeitschrift ‚Der Neue Mensch’, war zeitweise Mitarbeiter von Diefenbach.

Durch seine Schüler Wilhelm Walther und Anton Losert hatte er erheblichen Einfluss auf Gusto Gräser.

Der Schriftsteller Anton Losert ist schon seit 1895 in Kontakt mit Diefenbach, den er offensichtlich bewundert. Aber erst drei Jahre später kommt es zu einer näheren Fühlungnahme. Als Vermittler tritt ein gewisser Wilhelm Walther auf, der mit Elisabeth Guttzeit, der Schwester  des Naturapostels Johannes Guttzeit, liiert ist. Johannes Guttzeit hatte 1884 den lebensreformerischen 'Pythagoräer-Bund' gegründet, aus dem später der sogenannte „Bruder-Bund“ hervorging. Es ist anzunehmen, daß seine Schwester Elisabeth, ihr Lebensgefährte Walther und auch Anton Losert diesem Bunde angehörten.

 

10. 5. 1895  Der Schriftsteller Anton Losert, in Salzburg Herausgeber der 'Blätter für Sozialreform', schickt seine Zeitschrift an Diefenbach in Wien-Hütteldorf. Dessen Sekretärin Magda Bachmann bedankt sich bei Losert, schickt ihm Diefenbachs soeben erschienenes Buch 'Ein Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstpflege' und drückt zugleich dessen Wunsch aus, den ihm unbekannten Verehrer demnächst in Salzburg kennenzulernen.

 ... für die Zusendung der No 21 Ihrer 'Blätter für Sozialreform' zu danken und Ihnen den ersten Band seines im vorigen Monat erschienenen Buches ... zu senden. Der zweite Band ... wird  im nächsten Monat erscheinen ... am 2. Juni ... in Salzburg ... Sonnenaufgang ... kennen zu lernen.            (KB 14/424)

9. 9. 1895  Die Heirat von Losert bewegt Magdalena Bachmann, die damalige Lebensgefährtin Diefenbachs, zu einem kritischen Vergleich:

Helios kam  und brachte Briefe, daß Fidelis [Elisabeth Guttzeit] krank geworden sei (sie hatte ein drei Monate altes Kind geboren), daß Losert (Herausgeber einer Zeitung in Salzburg) sich vermählt habe, ohne sich [kirchlich] trauen zu lassen. Der Meister ist nicht so mutig zu bekennen, daß ich seine Frau bin; heimlich mit mir leben, das will er, aber es offen bekennen thut er nicht.                                                                                 (Bachmann-Tagebuch S.81)

18. 8. 1898  Wilhelm Walther ist mit seiner Geliebten Elisabeth Guttzeit von Diefenbach aufgenommen worden. Er schreibt an seinen Freund Anton Losert: Lieber Freund. Wie Du siehst, bin ich hier. - Wo bist Du? ... hinauf nach Golgatha? ... Dein Walther. (KB 23/73)

21. 8. 1898  Wilhelm Walther an Anton Losert, z.Zt. Neutitschein:

Lieber Menschenbruder. Seit 14 Tagen bin ich hier in der Humanitas des Meisters Diefenbach. Deinen letzten Brief an mich, der mir hierher nachgesandt wurde, sowie Deine sämmtlichen an Ida habe ich einer eingehenden - Durchfühlung ist besser gesagt als -prüfung - unterzogen und finde, dass es thatsächlich für Dich selbst keinen besseren Platz geben kann als eben hier bei uns, weil alle Bedingungen vorhanden sind, die ein ideales Leben erheischt.  ...

Wir werden, und wenn wir am hellen Tage mit der Laterne suchen, auf der ganzen Erde keinen zweiten Menschen finden, der in sich alle Bedingungen zu einem Gott- oder Geistmenschenthume so vereinigt wie eben gerade Diefenbach, und wir sind nur gerecht und erfüllen unsere Pflicht, wenn wir ihn, als den Ersten und Höchsten, als denjenigen, der der Menschheit das größte Herz, die langmütigste Liebe entgegenbringt, ... nicht Meister "nennen", sondern ihn als solchen empfinden und fühlen. ...

Wenn wir uns weiter vergegenwärtigen wollten, was Diefenbach eigentlich davon hat, wenn er sein ganzes Leben anderen Menschen widmet, statt seiner eigenen leiblichen Familie zu leben, wenn wir sehen, dass er nur Mühe und Noth - der guten Sache wegen - auf sich häuft, dass er bis zur tiefsten Erschöpfung seine Kräfte hinopfert, so dürfen wir wohl glauben, dass es [noch einen] Menschen gibt, der sein Leibliches für die Wahrheit verleugnet!Und glaubst Du, es kann besser werden auf der Erde, wenn wir nicht anfangen wieder aneinander zu glauben?

Ja, nicht einmal der Glaube an die Person Diefenbachs, sondern nur die allgemeine Überzeugung von der Gottheit des Menschen, so tief sie auch bei manchem noch vergraben liegt, ist nothwendig, um sich diesem für alle Wesen warm schlagenden Herzen anzuschliessen und sich ihm als einem lieben Vater unterzuordnen. Dein Walther                          (KB 23/115)

 

27. 8.   Anton Losert tritt der 'Humanitas' bei. Ein Arbeitertrupp macht eine Skandalszene. Pressehetze.

Ein Neuer ist zu uns gekommen, Losert Anton mit Namen, der schon Schriftstellerarbeiten gemacht hat, selbst schon eine Zeitschrift herausgegeben hat, daher unter Leitung unseres Meisters eine gute Kraft werden kann. ... Es geht jetzt eine große Hetze durch die Zeitungen gegen uns mit lügenhaften Artikeln.  Zeitungen, auf  deren Wahrhaftigkeit ich bisher geglaubt habe. Vielleicht lügen sie nicht einmal mit Absicht, als daß sie zu leichtsinnig sind, um sich genaue Daten zu verschaffen und so, durch ihren Leichtsinn, das Volk verführen und verdummen. Aufhetzen, sodaß, wenn man auf der Straße sich zeigt, das Leben nicht mehr sicher  und wir dem Spott der Menschen ausgesezt sind. Dies alles durch den Leichtsinn  einiger Zeitungsschreiber, die alles, was nicht in ihren Schädel hineingeht, für Narretei und Dummheiten erklären.                                                              (Tagebuch Mathias Czerny, S.8)

28. 8.   Wilhelm Walther vom Himmelhof an Losert: Gleichzeitig mit der freudigen Nachricht, daß Elisabeth [Guttzeit, seine Lebensgefährtin] gestern von einem gesunden Knaben entbunden worden ist, frage ich an, ob Dir mit meinem Briefe auch 2 Kataloge ... zugesandt worden sind.                                         (KB 23; 134)

31. 8. 1898  Anton Losert schreibt vom Himmelhof an Luise Moditschka, Söhle bei Neutitschein: ... daß Ernst ... Aufnahme findet ... "Wir alle" - Sie kennen den Geist, der nunmehr auch uns beiden [mit Frau?] selbst das Paradies erschließt: wirken Sie! Auf wonniges Wiedersehn: A.Losert.                                                                                       (KB 23/151)

12. 9. 1898      Magda Bachmann-Spaun an Marie Knitschke:

Nachdem die Ausstellung weder von den von uns eingenommenen Mitgliedern des kaiserlichen Hauses, noch dem Reichsrat, noch dem Abgeordneten-Haus, noch den Burschenschaften, an die alle im ganzen über tausend Einladungen abgegangen sind, besucht worden ist, haben wir uns an die Arbeiterkreise gewendet (wie auch Christus schließlich die auf den Straßen, an den Zäunen, die Lahmen und Krüppel zu seinem Abendmahl einlud), die in Gruppen die Ausstellung besuchten ... aber auch auf fruchtbaren Boden fallen, wie dies auch bei Baumgartner der Fall war, was du wohl in den Zeitungen gelesen haben wirst. Über kurz oder lang wird er doch zu uns zurückkehren, denn er gehört zu uns.

Es haben sich noch mehrere junge Leute aus dem Arbeiterstande angeschlossen, mit deren Erziehung der Meister sowie Friedrich sehr viel Mühe haben, so viel, daß letzterer in voriger Woche die Auflösung der Familie und Meisters Zurückziehen mit seinen Kindern nach Dorfen vorschlug, um den Meister vor Aufregung zu bewahren. Da dies jedoch Aufgebung seiner menschheitlichen Bestrebungen bedeutete, entließ der Meister nun diejenigen, welche ihn mehr hindern als fördern, und zwar eine ganze Familie [die Walthers mit 5 Personen, nämlich: Wilhelm Walther und seine Geliebte Elisabeth Guttzeit, Ida Walther mit ihren Kindern Hans und Fritz], 7 Personen [im ganzen], einen Schriftsteller [Losert?] und einen jungen Bildhauer [Gräser], während er seine Kinder, Helios und Stella ... an seine Seite zurückrief ... so hat er sich jetzt an das Findelhaus gewendet, um möglichst sofort wenigstens ein Kind zu bekommen, welches ich ... säugen werde.                                                                             (KB 23/197)

5. 10. 1898  Auszug der dem Meister besonders nahestehenden Jüngerinnen und Jünger Mina Vogler, Friedrich und Magda von Spaun.

Das ist ein harter Kampf; Schlag auf Schlag trifft unseren armen, lieben Meister! Mina, Friedrich, Magda sind in einem verblendeten Überzeugungsgefühl fortgegangen; es ist auch unfasslich. Mina thut am Meister entschieden schwer unrecht; was mit Friedrich und Magda vorgegangen ist, das weiß ich nicht, darüber wird der Schleier nicht gelüftet.

Gestern am 4. 10. war eine entsetzliche Szene; Simplizius wurde, darauf schwöre ich, ungerecht beurtheilt; zwei Briefe sind weggekommen; in einem unbewachten Augenblick hat sie jemand aus Stellas Tagebuch herausgenommen; einer wurde gefunden, der zweite ist bis jetzt noch nicht ans Licht gekommen, wird daher auch schwerlich noch herauskommen. Losert hat sich in einer ganz niedrigen, pöbelhaften und opponierenden Weise entfernt; es ist auch besser, wenn solche Elemente fern bleiben.

Das ist eine Bangigkeit und eine Beklommenheit, die über dem ganzen Hause liegt; mir ist bange, aber ich verzage nicht.                                                    (Tagebuch  Anna Bayer, S.9f.)

 

9. 10. 1898      'Der Meister des Nichtsthuns und Dochlebens'

von X. v. G-g (Fr. Xaver von Gayersperg) in 'Welt-Blatt'.

Seit einiger Zeit hausiert in Wien - insbesondere in den Redaktionen der Tagesblätter - eine sogenannte 'Ehrenvereinigung zur Rettung K. W. Diefenbachs", welche an Schreibseligkeit mit dem "Meister" wetteifert und das schäbig gewordene Ansehen des einstigen "Kohlrabi-Apostels" und Weltverbesserers aufpolieren will.  ...

Wenn ein armer Teufel, der arbeiten will, aber keine Arbeit findet, einmal die Hand nach einer milden Gabe ausstreckt, so ist die löbliche Polizei gleich da. Für Leute, die einen gesicherten Erwerb nicht nachweisen können, lebt der herrliche § 2 des Vagabundengesetzes  und - marsch - wandert diese Sorte per Schub nach der Heimatgemeinde.

Wie konnte es kommen, dass Her K.W. Diefenbach seit Jahren in Wien schnorren durfte, unbehelligt, ja noch gefördert; warum hat der Mann und seine Sippe die Bekanntschaft mit obbemeldetem § 2 noch immer nicht gemacht, obschon es doch auch kein "gesicherter Erwerb" ist, den eine Ehrenvereinigung erst zusammentrommeln muss?

Man steht scheinbar vor einem Rätsel.

Aber die Sache ist sehr einfach. Der notleidende Arbeiter, der fahrende Geselle, sie drücken sich scheu an die Wand; sie schämen sich, das öffentliche Mitleid anzurufen, denn sie haben ja gesunde Arme und können arbeiten. Diese Schüchternheit macht sie verdächtig. Wer sich aber verdächtig macht, hat schon verloren.

Herr K.W. Diefenbach ist anderer Couleur. Er tritt keck auf und hält die Hand hin. Das imponiert - auch der Polizei. Er ist ein grosser Mann, ein tiefer Denker, ein hochsinniger Künstler (?) - kurz, er ist ein "Meister" und fordert. Seine Erlebnisse, Qualen, Sorgen - übrigens selbstverschuldete - hat er in rührende Verse gebracht und leiert sie seit Jahren empfindsamen Ohren vor. Immer ist er der Gequälte, Verfolgte, der immer neu gekreuzigte Märtyrer seiner "Überzeugung" - seiner "Natur-Religion" - und er findet Schüler (!), Jünger, Anhänger und Anhängerinnen mit offenen Geldtaschen oder arbeitsamen Händen und schliesslich sogar "Ehrenvereinigungen", die sich eine Ehre daraus machen, des "Meisters" Schulden zu bezahlen, respektive die Gläubiger zu vertrösten, woran er selbst natürlich niemals denken würde, denn er hat ja Wichtigeres zu denken. Selbstverständlich! -

K.W. Diefenbach ist der Beweis dafür, dass man sich ganz bequem durchs Leben schlagen kann, sofern man nur mit dem nötigen Rataplan auftritt.

Er lebte schlecht und recht, als er zu München kleine, mittelmässige Bildchen malte, die ebenso mittelmässig bezahlt wurden. Das passte ihm nicht.

Er stieg in die Pilgerkutte und liess sich auslachen. Da hatte er Reklame.

Und nun ging's fördersam vorwärts. ...

Nun kam die "Ehrenvereinigung". Das war eine sonderbare Kumpaney! ...

(Franz Xaver von Gayersperg im Wiener "Welt-Blatt" vom 9.10.1898)

 

Okt. 1898  'Der Meister des Nichtsthuns und Dochlebens'

Antwort von Anton Losert auf Gayersperg unter dem selben Titel noch im Oktober im Selbstverlag erschienen (A.Losert, Wien, XIII/7, Auhofstrasse 173):

Der Artikel verspottet Diefenbach ob des Wesens seiner "Naturreligion" - der Spott trifft Christus, den vollsten, ausgesprochensten Vertreter der Naturreligion. Wer anderer denn als er verwies die Menschheit auf "die Vögel des Himmels, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen, und der himmlische Vater ernährt sie"; und auf die Lilien des Feldes, nackt wie sie gewachsen sind, "sie arbeiten nicht,  und spinnen nicht; und doch sag ich euch, dass selbst Salomon in all seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist, wie eine von ihnen." ...

"Ihr sollt weder Gold, noch Silber, noch Geld in eurem Gürtel haben, auch keine Tasche auf dem Weg, noch zwei Röcke, noch Schuhe, noch Stab; denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert." "Gehet hin und prediget das Himmelreich" - - Nicht mehr, nicht weniger tut Diefenbach. Und wenn man ihn nun lästert ... , darum weil er tut, was die Apostel des Herrn getan, der hat in Diefenbach den Apostel des Herrn gelästert. Und Diefenbach polizeilich aus dem Lande weisen, darum weil er nach der Lehre Jesu lebt und lehrt, heisst Jesum Christum polizeilich aus dem Lande weisen. ...

Immer und immer, mit tausend Stimmen, soll es hinausgerufen werden in alle Welt: "Erwerb" ist Kain, Erwerb ist Sünde; wir - Arbeiter im Sinne Jesu - sind berufen, "Meister des Nichtstuns" im Sinne des "Erwerbens" zu sein. Erwerb ist Erbsünde. Das "Geld" aber - die goldenen Eierlein, die der Erwerb, die gierig scharrende höllische Henne, legt - ist das teuflische Mittel der - Gottentfremdung.

(Anton Losert in seiner Flugschrift gegen den Schmähartikel des von Gayersperg)

18.11. 1898     Die vom Himmelhof geflüchtete Marianne Konhäusner  (genannt Leta) besucht den abtrünnigen Losert, der sie in seinem Sinne informiert:  ...  ging zu Losert. Dort las ich den Jesus [eine Schrift von Tolstoi?] und liess mich von Losert über Verschiedenes aufklären. (22) ... Nur Gott allein weiß, was in meiner Seele vorgeht. Menschen können mich vorläufig nicht verstehen, außer mein Meister. Ach, könnte ich mich doch einmal mit ihm gründlich aussprechen. Doch auch dies ist mir bis auf unbestimmte Zeit versagt.  (Leta-Tagebuch, S.23)

18. 11. 98  Die 'Humanitas' verbreitet nach wie vor die Losertsche Verteidigungsschrift für Diefenbach:

Um circa 1/2 6 Uhr aufgestanden, das Bad genommen, gefrühstückt, sodann einige Adressen für die Losert'sche Schrift geschrieben; dann Mittagessen. Nachmittags wieder etwas geschrieben. (Tagebuch Franz Kot, S.4)

16. 5. 1899      Nach dem Ende des Himmelhof-Unternehmens und der Übersiedlung Diefenbachs nach Triest schreibt sein Jünger und Sekretär Friedrich von Spaun an:

Herrn A.Losert, St. Peter bei Görz.                                          Monfalcone 16.Mai 1899

Vor einigen Tagen erhielt Meister Diefenbach in Triest den Besuch eines jungen Mannes, Namens Gustav Gräser, welcher Ihnen aus der Zeit Ihrer Anwesenheit im Hause des Meisters bekannt ist. Derselbe erschien in einem so auffallenden, die berechtigte Lachlust und den Hohn und Spott der Bevölkerung herausfordernden Aufzuge, sprach bei Bekannten des Meisters, sich auf diesen berufend, vor, sodaß die letzteren ganz entsetzt sich darüber äußerten, sodaß durch sein derart auffallendes, sich auf den Meister berufendes Erscheinen, die ohnehin schwierigen, ungeheuren Verhältnisse noch bedeutend erschwert erscheinen, da jedermann glaubt, solche von ihnen als Vagabunden angesehene Leute seien Anhänger oder Schüler Diefenbachs, die mit seinem Einverständnisse das Land stromernd und bettelnd durchzögen.

Da aus verschiedenen Äußerungen G. Gräsers hervorgeht, daß er durch Sie schriftlich oder mündlich die nöthigen Anhaltspunkte für sein Auftreten in Triest erhalten hat, so ersuche ich Sie im Namen des Meisters, sowie in meinem eigenen dringend, es in Zukunft zu vermeiden, solchen Menschen Gelegenheit zu geben, sich in derartiger Weise an den Meister heran zu machen; der außerdem, von einem den Verhältnissen und dem Wesen des Meisters gegenüber nur als kindisch zu bezeichnenden Dünkel behaftet, dem Meister seine "Hilfe" anbot, vor der ihn Gott bewahren möge, sodaß der Meister sich genötigt sah, ihn abzuweisen und wegzuschicken, so werthvoll an und für sich die Kraft des jungen Mannes bei mehr ausgereifter Männlichkeit und Bescheidenheit sich erweisen würde und sosehr der Meister der Stütze junger Kräfte bedürfte um Alles das, was in der Zeit seines ungeheuren Kämpfens und Strebens in seinem Geiste reif geworden ist, zur Ausführung zu bringen, wozu seine gebrochene Kraft allein nicht mehr ausreicht. Friedr.R.v.Spaun     (KB 24; 309; davor eine Seite ausgeschnitten!)

Schubkraft der Utopien, Schwerkraft der Verhältnisse

Der Salzburger landwirtschaftliche Wanderlehrer Anton Losert zwischen Urchristentum, Sozialdemokratie und Anarchismus

Auszüge aus dem Aufsatz von Hanns Haas

Die Sozialdemokratie hat Anfang der 1890er Jahre „einen bemerkenswerten und vielversprechenden Fang gemacht“: den Salzburger landwirtschaftlichen Wanderlehrer Anton Losert, der seine Lehrtätigkeit landauf landab zu sozialdemokratischer Aufklärungsarbeit benützte, dafür aber ordentlich „geschurigelt“ wurde – so berichtet der sozialdemokratische Parteiführer Victor Adler an Friedrich Engels.

Die Sache machte ziemliches Aufsehen. Losert war vom Landesausschuss bestellter Wanderlehrer und zugleich Sekretär der k.k. Landwirtschafts-Gesellschaft. Er hatte seit 1889 die Bauern über bessere Anbaumethoden, Alpwirtschaft und Bodenqualitäten unterrichtet, als er im Sommer 1890 die gesellschaftlichen Wurzeln des Bauernelends erkannte. … (29)

Er ging aufs Ganze und überraschte im Sommer 1890 die lokale Öffentlichkeit mit einer kleinen Broschüre ‚Grundherr oder Bauer?’, die die Verstaatlichung von Grund und Boden und die Verpachtung der Staatsländereien an den Höchstbietenden propagierte. …

Losert entnahm die Idee einer Verstaatlichung von Grund und Boden den Werken des amerikanischen Nationalökonomen Henry George. Dessen Bücher ‚Progress and Poverty’ und ‚Social Problems’ erschienen in den 1880er und 1890er Jahren in mehreren amerikanischen und deutschen Ausgaben und erreichten ein breites Publikum. Sie führten das soziale Elend auf eine einzige Ursache – das Privateigentum – zurück, ohne allerdings eine politische Bewegung zur Änderung der Eigentumsordnung vorzuschlagen.

Eine weitere geistige Bezugsquelle Loserts war die christliche Überlieferung. Losert war zwar antiklerikal, aber nicht Atheist. Aus der Vielfalt der Religionen stand ihm die ererbte christliche immer noch am nächsten, freilich ein Urchristentum, welches angeblich schon vor vielen Jahrhunderten mustergültig die Idee der Gleichheit verwirklicht hatte. Christus selbst galt ihm daher als „der erste große Sozialreformer“, und die ganze Apostelgeschichte als „der echte, unverfälschte Sozialismus“. Loserts Kapitalismuskritik auf christlicher Grundlage lebte von häufigen Anleihen bei zeitgenössischen christlich-sozialen Schrift-stellern und Theoretikern, vor allem bei Prinz Liechtenstein und Pater Kolb. …

Losert ging jedoch einen Schritt weiter als die katholische Sozialreform, die zwar staatlichen Arbeiterschutz bei Krankheit, Invalidität und Alter forderte, jedoch die Eigentumsordnung nicht berührte.

Dagegen sah Losert das Gemeineigentum durch die Bibel sanktioniert - ein reizvolles Thema seiner Auseinandersetzungen mit den Salzburger Ablegern der katholischen Sozialreform, die ihrerseits „die Religion als Schutzwehr“ gegen die erstarkende Sozialdemokratie ins Treffen führten.

Losert eroberte der Sozialdemokratie einen Stützpunkt nach dem anderen, und überall wo er im flachen Land und im Gebirge auftauchte, mobilisierte der Pfarrer in trauter Eintracht mit Bürgermeister und Lehrer die „katholische Mehrheit“ gegen die angeblich gottlose Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Verein ‚Zukunft’ fand häufig verschlossene Wirtshaussäle – weil der Pfarrer den Wirt unter Druck setzte. … (30)

Losert selbst kam durch sein Bekenntnis zu einer radikalen Sozialreform um Amt und Würden. Er musste auf Druck von oben aus dem sozialdemokratischen Verein ‚Zukunft’ unverzüglich austreten. Sein schriftlich eingebrachtes Lehrprogramm für die Bauern wurde nicht genehmigt, weil er wieder einmal den „Kapitalismus“ als die Ursache der bäuerlichen Not und „die Vereinigung der Grundbesitzer zum genossenschaftlichen Betriebe der Gutswirtschaft“ als letzte Hilfe bezeichnete – nach Meinung der Landesregierung eine Aufforderung zum „Hass gegen die Ansammlung von Gütern in einer Hand“. Losert durfte sich nur noch mit Fragen von Technik und Produktion befassen, seine Vorträge wurden von den Bezirkshauptmannschaften überwacht.

Die Berichte über bedenkliche Äußerungen Loserts häuften sich. Nichts schien ihm heilig, nicht einmal das heikle Thema Krieg und Frieden. Der Krieg galt ihm

nur als Produkt der Mächtigen,. Die Völker wollen sich nicht bekriegen, nur Ländergier, Herrschsucht und Hochmut einzelner rufen denselben hervor und belasten durch die ungeheuren Rüstungen das Volk“.

Schließlich griff sogar der Ackerbauminister in die Auseinandersetzungen ein. Er sperrte die Subventionen für die Landwirtschaftsgesellschaft, solange Losert angestellt sei. Losert wurde mit Jahresende 1892 als landwirtschaftlicher Wanderlehrer entlassen – er wurde nun „sozialdemokratischer Wanderlehrer“.

Sein Leidensweg war damit noch nicht zu Ende. Seine Aufenthaltsgemeinde Aigen verdonnerte ihn zu einer Geldstrafe, weil er im Konkubinat lebte.

Losert konnte sich jetzt offen zur Sozialdemokratie bekennen. In der Salzburger Bewegung gaben drei ganz unterschiedliche Aktivisten den Ton an: Egger, Prähauser und eben Losert. … (31)

Anton Losert schließlich, der dritte im Bunde, hatte noch kurze Zeit zuvor Kontakte weder zur Arbeiterbewegung noch zur Arbeiterschaft gehabt. Der bürgerliche Intellektuelle suchte die Freiheit durch eine politische Radikalkur und stolperte dabei über die Sozialdemokratie. Er war ein glänzender Redner und Organisator, er kannte das Land aus seiner Berufstätigkeit, und er war schließlich arbeitslos. Losert hat der Salzburger Sozialdemokratie in wenigen Monaten neue Räume und soziale Felder erobert, das gebirgige Land und die Bergarbeiter, zuletzt sogar Eisenbahner … Der Verein ‚Zukunft’ wurde unter Mitwirkung Loserts zum „fliegenden Corps“ der Salzburger Arbeiterbewegung. … (32)

Er betrieb gewissermaßen Grundschulung für eine bessere Welt. An der Sozialdemokratie faszinierte ihn nur die eine Seite, die Abkehr von der herrschenden Eigentumsordnung. Keine Versammlung des Vereins ‚Zukunft’ ohne die mehr oder weniger einstimmige Resolution zur Abschaffung des „Privateigentums an den Produktionsmitteln“ – nicht durch revolutionäre Gewalt, sondern ganz legal durch „Revision des bürgerlichen Gesetzbuches“. … Die Gewerkschaften sollten endlich ihre „Reformelei“ aufgeben, der Kampf um den „Achtstundentag“ und das allgemeine Wahlrecht verschwende lediglich die revolutionäre Energie. Schließlich sollte die Bewegung überhaupt

aus dem engeren Gesichtskreis der Arbeiterforderungen heraustreten und zur Vereinigung mit den sozialistisch gesinnten Elementen aller Klassen, aller Stände, zur Erreichung des einen großen Zieles: der Reform des bürgerlichen Rechts“ gelangen.

Das war Loserts Abschied von der Sozialdemokratie. Er landete am Rande der Arbeiterbewegung. Jetzt formulierte er eigene politische Ziele, unter dem Einfluss zeitgenössischer Sozialutopien, zum Beispiel Theodor Hertzkas erträumtem weißen kommunistischen „Freiland“ in Schwarzafrika. … (33)

Loserts Stern in der Salzburger Arbeiterschaft erlosch also schon nach kurzem, blendendem Leuchten. … Von den Führungskadern folgte lediglich Egger dem Auszug Loserts aus der Sozialdemokratie. Die beiden fanden vorübergehend bei den ‚Unabhängigen’ eine politische Heimat.

Losert hat offenbar bis gegen Jahresende 1893 weiter an der ‚Allgemeinen Zeitung’ mitgearbeitet. Das Blatt geriet jetzt in den Bannkreis des antiautoritären Sozialismus. An die Stelle der straffen, angeblich entmündigenden sozialdemo-kratischen Partei trat die „freie Initiative der Individuen“ auf der Basis von Selbstbildung, Vernunft und Selbstbestimmung. In ferner sozialistischer Zukunft aber wartete eine Welt ohne Ausbeutung, nicht durch das Kapital, noch durch einen „Staatsozialismus“. …

Losert gründete im Jänner 1894 den ‚Verein für Sozialreform’ und die Zeitschrift ‚Blätter für Sozialreform’. Die sehnlich erhoffte Revision des bürgerlichen Gesetzbuches wurde jetzt zum Gegenstand untertäniger Bitten an den Salzburger Gemeinderat und den Reichsrat. Der Verein hat 1897 seine Tätigkeit de facto eingestellt. Dann verliert sich Loserts Salzburger Spur. (34)

Aus dem Aufsatz von Hanns Haas : Der Salzburger landwirtschaftliche Wanderlehrer Anton Losert zwischen Urchristentum, Sozialdemokratie und Anarchismus, in Die Roten am Land. Arbeitsleben und Arbeiterbewegung im westlichen Österreich. Steyr 1989, S. 29-34
 

Soweit, in Auszügen, der Aufsatz von Hanns Haas. Loserts Spur verliert sich in Salzburg und taucht wieder auf in Wien. Schon im Mai 1895 nimmt Losert Kontakt auf zu Diefenbach. Er schickt ihm die Nr. 21 seiner ‚Blätter für Sozialreform’ und erhält dafür dessen soeben erschienenes Buch ‚Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstpflege’. Zunächst aber nimmt er Verbindung auf zu Johannes Guttzeit und dessen ‚Bruderbund’. Diese Vereinigung stand unter dem vegetarisch-pazifistischen Motto „Apfel bricht das Schwert“. Die Mitglieder sprachen sich als „Bruder“ und „Schwester“ an und vermieden alle patriarchal-autoritären Riten wie etwa die Anrede mit „Herr“ und „Sie“. Eine ganze Familie aus diesem Bund, nämlich Guttzeits Schwester Elisabeth mit ihrem Lebensgefährten Wilhelm Walther samt dessen Frau und Kindern, schließt sich im August 1898 Diefenbachs HUMANITAS-Gemeinschaft auf dem Himmelhof an. Auf Walthers begeisterte Berichte hin kommt am 27. August auch Losert selbst auf den Himmelhof. Nachdem er sich politisch völlig isoliert hatte, sein ‚Verein für Sozialreform’ gescheitert war und seine ‚Blätter für Sozialreform’ ohne dauerndes Echo blieben, lag für den einsam Gewordenen nichts näher als sich denen anzuschließen, die ähnliche Ideen wie er selbst vertraten und dazuhin sich eigene Gemeinschaften geschaffen hatten: Guttzeit und Diefenbach.

Zu dem Zeitpunkt, als Losert auf dem Himmelhof als neuer Jünger eintrat, war Gräser schon zum Absprung entschlossen. Er muss es als Glücksfall empfunden haben, dass eben jetzt ein Kampfgenosse zu ihm stieß. Der “urchristliche“ Radikalismus und antiautoritäre Sozialismus Loserts – das waren genau die Lösungswege, die ihm unbewusst vorschwebten. Dieser Neuankömmling gab zu seiner Kritik an Diefenbach eine positive Alternative. Verzicht auf Eigentum, auf Besitz, auf Geld, Gemeinwirtschaft unter Brüdern wie in der christlichen Urgemeinde – das war die Lösung.

Es konnte nicht ausbleiben, dass auch Losert sehr schnell von seinem neuen Meister enttäuscht war. Die Frondeure – Losert, Gräser, Walther – schlossen sich zusammen, bildeten zunächst eine innerbetriebliche Opposition, vielleicht noch in der Hoffnung, den Kurs des Humanitas-Schiffes umsteuern zu können. Auf einer photographischen Aufnahme sieht man die drei dicht beieinander vorn an der Deichsel von Diefenbachs Rollwagen stehen – in deutlichem Abstand von der Mehrheit der Andern. Gusto hält seine rechte Hand über die Augen, wie Ausschau haltend nach neuen Ufern.

Wohin diese Ausfahrt führen würde, das war in einer Flugschrift Loserts vorgezeichnet, die in diesen Wochen entstand:

"Ihr sollt weder Gold, noch Silber, noch Geld in eurem Gürtel haben, auch keine Tasche auf dem Weg, noch zwei Röcke, noch Schuhe, noch Stab; denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert." "Gehet hin und prediget das Himmelreich" …

Immer und immer, mit tausend Stimmen, soll es hinausgerufen werden in alle Welt: "Erwerb" ist Kain, Erwerb ist Sünde; wir - Arbeiter im Sinne Jesu - sind berufen, "Meister des Nichtstuns" im Sinne des "Erwerbens" zu sein. Erwerb ist Erbsünde. Das "Geld" aber - die goldenen Eierlein, die der Erwerb, die gierig scharrende höllische Henne, legt - ist das teuflische Mittel der - Gottentfremdung.

Es muss eine regelrechte Revolte im Hause Diefenbachs gegeben haben, eine Revolte der „Urchristen“ gegen ihren an den Gelderwerb gefesselten und damit den Gesetzen der Gesellschaft versklavten Meister. In unverblümten Worten erklärt Gräser am 5. September 1898 gegenüber Diefenbach seinen Austritt aus der Gemeinschaft:

Ich erkannte die Schwäche des Geistes, welcher mich mit solcher Kraft angezogen hatte, in der Wirkung, welche er verursachte auf einen rein, wenn auch wenig bewusst empfindenden Geist, der mir ward durch Gott, meinen ewigen Meister, den ich immer als letzten befrage. Der mir Offenheit gebietet, gebietet, dass ich nur dort, wo ich offen sein kann, sein darf. Ich gehöre dahin, wo die Wahrheit waltet.

Am 12. September wird die ganze Gruppe – Gusto Gräser, Anton Losert, Wilhelm Walther, Elisabeth Guttzeit, Ida Walther mit ihren beiden Kindern, insgesamt sieben Personen – von Diefenbach ausgeschlossen. Losert war nur gut vierzehn Tage Mitglied der Gemeinschaft gewesen.

Die Gruppe zerstreute sich in verschiedene Richtungen. Gräser ging nach Siebenbürgen zurück, Losert erwarb in Südtirol in der Nähe von Meran ein Haus mit Garten. Nachdem Gusto im folgenden Jahr seine Wanderschaft angetreten hatte, in Triest von Diefenbach abgewiesen worden war, besuchte er Losert in St. Peter bei Eppan in Tirol. Wiederum hatte er Gelegenheit, bei seinem länger-dauernden Aufenthalt, die Vorstellungen des Sozialreformers kennen zu lernen. Dass auch seine Mutter wenige Jahre später diesen Gesinnungsgenossen aufsuchte, zeigt, dass die freundschaftliche Verbindung über längere Zeit erhalten blieb. Über die weiteren Schicksale Loserts ist nur soviel bekannt, dass er sich mit Guttzeit, der einige Monate bei ihm wohnte, überwarf.

Klar zu erkennen ist dagegen seine Wirkung auf Gusto und Karl Gräser. Dass die Brüder Privatbesitz von Grund und Boden und selbst Geldbesitz ablehnten, dass sie eine brüderliche Gemeinwirtschaft anstrebten und die bürgerliche Rechtsordnung verwarfen, dass sie außerdem die normierte gesellschaftliche Sklavensprache vermieden – all dies geht sicher hauptsächlich auf den Einfluss Loserts zurück. Mehr noch als die Kommune des Kunstmenschen Diefenbach waren die reformerischen Vorstellungen des einstigen Sozialdemokraten Losert grundlegend für die Gräsersche Konzeption der Siedlung Monte Verità.

In Ascona suchten die Brüder jene vier Sternbilder zu einer Einheit zu verschmelzen und auf festen Boden zu stellen, die ihrem Weg bis dahin vorgeleuchtet hatten: Diefenbachs naturfromme ‚Werkstätte für Religion, Kunst und Wissenschaft’, Guttzeits urchristlichen ‚Bruderbund’, Hertzkas Vision vom ‚Freiland’ und Fouriers Utopie einer neuen Gesellschaftsordnung unter dem Namen ‚Harmonie.’ Eine dogmenfreie naturmystische Religiosität gab all diesen Vorstellungen den tragenden Grund und das einigende Band.


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