Adolf
Stocksmayr wurde am 23.7.1879 in St. Pölten geboren,
im selben Jahr
wie Gusto Gräser. Gelegentlich finden sich auch die
Schreibweisen:
Stocksmayer, Stocksmeier oder Stocksmayr. Er selbst
hat, um sich als
Künstler abzuheben, das „e“ im ursprünglichen
Familiennamen
gestrichen. Die k.k. Akademie der bildenden
Künste in Wien
führte ihn von 1900 bis 1902 als Gasthörer in der
Allgemeinen
Malerschule. 1904/05 hielt er sich für einige Zeit
in Locarno und
Ascona auf, wie aus einer Postkarte vom 30.12.1904
an seine
Lebensgefährtin hervorgeht. Auch Johannes Nohl
erwähnt ihn in einem
Brief an Fritz Brupbacher vom 8. Januar 1905.
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Suche
nach dem
Eldorado
Adolf
Stocksmayr
"Heute
oder morgen", berichtet
Stocksmayr am 30.12.1904,
"geht’s nach Ascona
weiter. Dort ist das
Eldorado der Abenteurer +
besonderer neuer
Geistesrichtungen", eine
inspirierende Landschaft und
die Gesellschaft
Geistesverwandter, die mit
den Konventionen der Zeit
brachen. Die Suche
führte ihn nach München, wo
ihn Rudolf Steiners Vorträge
inspirierten,
nach Dornach und ins Tessin
auf den Monte
Verità. Die von Hansjörg
Straub kuratierte Ausstellung zeigt Arbeiten aus
dem Schaffen des
Künstlers, Lebensreformers
und originellen Erfinders.
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Frühes
Selbstbildnis im Museo
Comunale von
Ascona |
Altersbild |
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Hansjörg
Straub, Biograph und Lokalhistoriker in Überlingen
am Bodensee, hat Stocksmayrs
Lebensgeschichte erkundet:
In
den Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs
wechselte er häufig
den Aufenthaltsort, lebte zeitweise in
Unterradlberg/Niederösterreich, war viel mit
Skizzenblock,
Aquarellfarben und Fotoapparat unterwegs,
arbeitete in der
Glasindustrie im nördlichen Böhmen, im Forst im
Waldviertel
Niederösterreichs als auch in Wien als
Porträtmaler. 1913 hörte er
in München Rudolf Steiner und wurde Mitglied der
Anthroposophischen
Gesellschaft. Beim Bau des ersten Goetheanums in
Dornach wurde er in
den Künstler- und Handwerkerlisten geführt. Doch
schon 1914, nach Kriegsausbruch, zog er mit seiner
Familie in
die Täler um den Lago Maggiore, wo er eine
Mustersiedlung in der Art Karl Gräsers errichten
wollte.
Nachdem dieses Unternehmen gescheitert war,
übersiedelte er vollends auf den Monte Verità über
Ascona.
Stocksmayr wurde zeitweise Mitarbeiter und
Mitglied Nr. 24 in der
„Social-Vegetarisch-Anationale(n)
Gesellschaft“ von Henri Oedenkoven. Er
befreundete sich mit dem Dichterpropheten Gusto
Gräser und lebte
zusammen mit dessen Familie. Stocksmayr geriet in
den Bann dieses
seines Vorbilds, ließ Bart und Haare ungeschoren,
trug eine
gräserähnliche Tracht und scheint eine Zeitlang
gewandert zu sein.
Wie Gräser war er mit der lebensreformerisch
gesinnten Freidenkerin
Elena Chamier verbunden. Dass sie ihre Kinder in
eine Reformschule
bringen wollten, führte Stocksmayr und Chamier in
die
Landschulkommune Höllsteig bei Überlingen und
später auch Gräser
an den Bodensee. Aus der Hütte, die ihm die
Freundin dort zur
Verfügung stellte, wurde er freilich durch die
Bevölkerung bald
vertrieben.
Nach
dem Ende des Weltkriegs hatte sich in Ascona um die
Schriftsteller
Bruno Goetz und Robert Binswanger ein Künstlerkreis
gebildet, zu dem
zeitweise auch Mary Wigman, Werner von der
Schulenburg und Friedrich
Glauser gehörten. Offenbar auch Adolf Stocksmayr,
denn wie andere
Maler am Ort (darunter Hermann Hesse, Jawlensky, die
Werefkin und
Paul Klee) stiftete er 1922 Bilder für das
entstehende kommunale
Kunstmuseum von Ascona. Bruno Goetz, Robert
Binswanger und andere
zogen 1923 nach Überlingen am Bodensee. Nachweisbar
ist Stocksmayrs
Aufenthalt am Bodensee erstmalig 1920, aber in den
kommenden Jahren
hielt er sich zeitweise im Bregenzerwald, in der
nördlichen Schweiz
als auch in Konstanz auf. Seit
1927 lebte er bis zu seinem Tod in Überlingen am
Bodensee.
„Stocksmayr
lebte
all die Jahre bis wenige Monate vor seinem Tod in
einem Zimmer
im sog. Dorf, einem Stadtteil Überlingens. Es gibt
noch eine ganze
Reihe Menschen, die sich gut an ihn erinnern, und
die auch noch
Gemälde von ihm haben, weil er für gelegentliche
Hilfe Bilder
verschenkte. Gemalt und gezeichnet hat er immer
und überall, das ist
auch amtlich vermerkt und eigentlich wundern
sich alle, weshalb
er so bettelarm geblieben ist. Neben seiner
künstlerischen Tätigkeit
erinnert man sich noch an seine
Weltverbesserungsideen, seine wohl
manchmal verschrobene Philosophie, aber ganz
besonders an seine
Freundlichkeit, mit der er allen
begegnete. Diese
Freundlichkeit ist auch ein Grund, weshalb man der
Stadt die
schmähliche Räumung aus dem Zimmer und die
Abschiebung in ein
Barackenlager, in dem er dann einige Monate später
verstarb, nur
schwer verzeiht. Mehrere Menschen erinnerten sich
sofort daran, dass
er ‚verhungert’ sei, dass man die übriggebliebenen
Bilder
‚verbrannt’ habe, und dass es ‚eine Schande’ sei.“
H.S.
in einem Brief an H. M.
In
einem Zeitungsartikel über Stocksmayr schrieb der
Autor Theodor W.
Elbertzhagen:
„Da
bückt sich im Ueberlinger Stadtgarten ein Mann im
groben Leinenanzug
über ein Polster violett blühenden Steingeflechts.
Wohl zehn
Minuten lang bleibt er so stehen, als wolle
er jede einzelne
der hundert kleinen Blüten betrachten. Endlich
richtet er sich auf,
beugt sich aber schon wieder über ein
weißblühendes Polster,
ebenso lange, und dann in gleicher Weise über den
benachbarten
gelben Blütenschaum. Schließlich fährt die eine
Hand des Mannes
sanft kosend über die drei bunten Kissen, und
langsam steigt er den
schräg am Hang hinansteigenden Pfad hinauf, jeden
Baum, jeden
Strauch, von den Wurzeln bis zum Gipfel
anschauend, bückt sich
plötzlich wieder, richtet sich auf, hält suchende
Umschau, holt von
einer nahen Erdbruchstelle drei Hände voll Erde
und schüttet sie
sorgsam auf einen toten Sperling, den er am
Wegsaum gefunden.
Das
alles ist an sich nichts Auffallendes und doch ist
es im tiefsten
Sinne Wesenheit des Menschen und Malers A.
Stocksmayr.“
Theodor
W. Elbertzhagen in der Bodensee-Rundschau vom
18.Oktober 1944, S. 3
Die
äußere Realität dieses Künstlerlebens sah weniger
poetisch aus.
Dazu der Chronist Hansjörg Straub:
„Am
stärksten berührt sein Ableben. Die Geschichte,
die jedem zu Ohren
kommt, der seinen Namen erwähnt, gräbt sich in
die Erinnerung ein,
ist eingegangen ins Bewusstsein der Stadt. Sie
erzählt von seinem
Ende im Goldbachlager, einer Barackensiedlung
für die Ärmsten der
Gemeinde. Dort verwahrte man ihn in den letzten
Wochen bis zu seinem
Tod. Er war bereits in hohem Alter und aß nichts
mehr. In einem
Sessel saß er und sei am Ende darin nicht mehr
aufgewacht. Aus
seiner Wohnung in der Aufkircher Straße war er
ausgewiesen worden.
Zwangsgeräumt. Die Stadt hatte über viele Jahre
hinweg die Miete
für ihn bezahlen müssen, die Einrichtung war
nicht mehr
weiterverwendbar, Verwandte zu diesem Zeitpunkt
nicht ausfindig zu
machen. Das Aufräumen überließ man städtischen
Arbeitern. Die
Gemälde, die Mappen und die Papiere wurden aus
dem Fenster geworfen
und verfeuert. Begraben wurde er drei Tage nach
seinem Ableben in
einem Reihengrab im „Abteil 22“ des städtischen
Friedhofes. Die
Grabstätte gibt es nicht mehr.“
Straub,
Hansjörg:
Ein feiner Mensch, aber ein armer
Teufel. Der Maler Adolf
Stocksmayr.
In: Leben am See. Jahrbuch des
Bodenseekreises. Band
XXIII. Hrsg. vom Bodenseekreis, der
Stadt Friedrichshafen und der
Stadt Überlingen. 2006. ISBN
3-88812-524-3. S. 120 - 132

Adolf
Stocksmayr war in Ascona in engerem Kontakt mit den
Gräsers. Nachdem
Gusto sich 1917 von seiner Familie getrennt hatte,
rückten die in
Ascona Zurückgebliebenen noch näher zusammen. Ein
Foto zeigt Rosa
Krause, die Lebensgefährtin Stocksmayrs, wie sie
ihren Kindern und
der Gräsertochter Heidi aus einem Märchenbuch
vorliest.
Offensichtlich wohnten die „Stocksmayrs“ nun auf dem
Gräser-Grundstück. In einem Brief an Adolf vom
August 1918 spricht
Gusto von den beiderseitigen Kindern wie von einer
Familie.

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1914
kam Stocksmayer, dem Kriegsdienst ausweichend,
wieder ins Tessin. Im
Maggiatal erwarb er einige Grundstücke um auf
der Grundlage von Obstbau und Bienenzucht eine
Kolonie in der
Art des Monte Verità schaffen. Karl Gräser
unterstützte ihn.
Nach dem Fehlschlag dieses Unternehmen zog er
als Mitarbeiter der Naturheilanstalt Oedenkovens
auf den Monte
Verità. Nach der Rückkehr von Gusto scheint er
sich ihm angeschlossen zu haben, lebte mit
seiner Familie auf dem
Gräser-Anwesen, zeichnete die Kinder und ihre
Mutter.
Er versuchte sich zeitweise in der Tracht und
Lebensart Gusto Gräsers. |
Adolf
Stocksmayr: Rosa Krause mit ihren beiden
Kindern Hermann und
Margarete sowie der Gräsertochter Heidi,
Fotografie, um 1918
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Adolf
Stocksmayr: Rosa Krause in einer Felsnische,
Fotografie, um 1918
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Das
Museo Comunale von Ascona, zu dessen Gründung er
Gemälde
beigesteuert hatte, zeigte in seiner
Jubiläumsausstellung von 2010
auch Fotos und Werke von Stocksmayer. Andere
Hinterlassenschaften des
Malers und Lebensreformers befinden sich im Museum
Casa Anatta auf
dem Monte Verità. Stocksmayer fotografierte
um 1917 Gusto Gräser, skizzierte
Elisabeth
Gräser und einige ihrer Kinder. Offenbar
angeregt durch die Tanzschule Rudolf von Labans
entstanden in dieser
Zeit zahlreiche Tanzbilder. Stocksmayr nahm am
„Sonnenfest“ vom
August 1917 teil.
 Im
Jahr 2010 gelingt es Hansjörg Straub einen Kontakt zu
einem
Stocksmayr-Enkel in Wien herzustellen, der
überraschenderweise noch
über eine große Anzahl Werke aus dem Nachlass Adolf
Stocksmayrs
verfügt. Der Künstler konstruierte während seiner
Akademiezeit
Türme.
Links:
AS Turm Knospe, Stahl, Kupfer, Glas, Fliesen. 60m
Basis. Adolf Stocksmayr 1900
Rechts:
AS Turm Libell Stahl und Glas. Adolf
Stocksmayr 1900
1925
war Adolf Stocksmayr in brieflichem Kontakt mit der
Fa. Henry Ford,
Dearborn, Michigan, der er technische
Verbesserungsvorschläge
vorlegte, die dann allerdings abgelehnt wurden. 1943
reichte er beim
Reichspatentamt Berlin ein Patentschrift ein mit dem
Titel:
„Elastische Mittler zur Kraftübertragung an
Windkraftwerken“.
Im
Nachlass fanden sich auch Illustrationen zu
literarischen Werken, der
er noch vor der akademischen Ausbildung schuf:
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Kind und Pflanze
Um
1919
übersiedelte Stocksmayr von Ascona nach
Monti
della Trinità sopra Locarno. Vermutlich
fand er dort bei der
Gräserfreundin Albine Neugeboren ein
Unterkommen in jenem Anwesen, das
wenige
Jahre früher Gusto Gräser, Hermann Hesse,
Ernst Bloch und Klabund
beherbergt
hatte. Jedenfalls entsprach sein
naturfrommes Denken und Streben ganz
dem Geist
dieses Hauses. Mit Reihen von farbigen
Steindruck-Karten (in ihrer
Vertriebsart
den Spruchkarten von Gusto Gräser
entsprechend) versuchte er sich eine
Existenzgrundlage zu schaffen. Die Bilder,
die heute als ART DECO
eingestuft
werden, zeugen von seiner
liebevollen
Einfühlung in die Pflanzenwesen. Sie sind
in Sammlerkreisen hoch
begehrt.
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Weil er keine
Aufenthaltsgenehmigung besaß, war Gräser im Sommer
1918 in Zürich
festgenommen
worden. Aus dem Justizgefängnis schreibt er an Adolf
Stocksmayr:
Abs.:
Gräser, Justizgefängnis /
Amt X, Zürich - 28 - 8 - 18 *
An Adolf Stocksmeier in Ascona.
Du, du, du und Du - Ihr Alle seid gegrüsst! - Wie
geht's? Was geht? Wo geht's? - Schreibt, dass ich,
wenn ich wieder
heraus komm
(wann, weiss ich immer noch nicht) mich darnach
richten kann.
Ihr habt doch wohl Geld und Nachricht, dass ich
hier im Zuchthaus bin, erhalten? - "Ungehorsam" soll
das Büblein
wieder mal gewesen sein! - Es war aber, Er war nur
wieder zu
vertrauensseelig
und meinte, man hätte doch wohl an zwei oder drei
Missgriffen genug und
würde
sich, würde mich mit weiteren verschonen. Es war zu
hoch gemeint - oder
halt -
ich war ja noch nicht vor dem Richter. Vielleicht werd
ich doch nicht
nach dem
freilich schwungs- und schamlosen Buchstaben,
vielleicht werd ich doch
vom
menschlich fühlenden Urteil gerichtet.
Abwarten und Wassersuppe trinken.
Bist du, Stocksmeier, noch zuhause? Was tust du,
was willst du tun? Wäre wohl nicht schlecht, wenn du
hierher kämst,
könntest
vielleicht für die Herausgabe der Bilder, wofür ich,
auch bei
Druckerei, schon
angeknüpft hab, weiterknüpfen, weiterwirken. Oder
liegt dir anderes
näher? Ob
ich gleich nach Entlassung von hier
Aufenthaltsbewilligung erhalt,
weiss ich
auch noch nicht. Jedenfalls will ich nun das Ansuchen
darum gleich
stellen. -
Denn auf die heilende Zeit will ich mich nun doch
nicht mehr verlassen.
Mich verlangt freilich auch sehr zu sehn, was auf
unsrem Grund alles grünt und reif und rund wird, wie
sich die Kinder
zusammenfinden und Ihr Grohsen - - ?
O dass Wir doch reif zum Menschen, dass wir doch
Wieder-Kinder würden,
die mit Überzeugung
in die Triebe treiben, mit Inbrunst in dem All-Tag
bleiben.
Wohlauf!
Beiliegend 2275 Gramm für Euch gesparte Brotmarken;
wär ich draussen
geblieben, wären's mehr.
*
Kommentar:
Ein
Brief aus dem Gefängnis
Vom 10.
bis 12. August 1918 war Gräser beim
Freideutschen Jugendtag in Tübingen gewesen. Auf
dem Rückweg nach
Ascona ist er
in Zürich verhaftet worden. Das könnte am 15.
oder 16. August geschehen
sein.
Am 28.
August, also nach etwa 14 Tagen Haft,
schreibt er an Adolf Stocksmeier nach Ascona.
Warum nicht an seine
Frau, waum
nicht an Elisabeth?
Die
(freie) Ehe war zerrüttet, die Gefährten
hatten sich getrennt oder standen kurz vor der
Trennung. Auch aus
diesem Grund war Gräser im Jahre 1918 viel
unterwegs, in der Schweiz,
in
Deutschland.
Stocksmeier
(eigentlich
Stocksmayr), ein Maler, der etwas später mit
Paul Klee und anderen
Kollegen in
einer Ausstellung am Ort vertreten sein wird,
hat offenbar das Haus der
Gräsers
während dessen Abwesenheit bezogen und lebt dort
(oder in der Nähe) als
eine
Art Ersatzvater, mit Gräsers Kindern und seinen
eigenen zusammen. Daher
dessen
Frage, "wie sich die Kinder zusammenfinden". Und
dann die Großen.
Damit ist, neben dem Ehepaar Stocksmayr, Frau
Elisabeth angesprochen,
die
ansonsten mit keinem Wort erwähnt oder gar beim
Namen genannt wird.
"Du, du,
du und Du" ist seine
Anrede. Er vermeidet jede persönliche Ansprache,
grüßt alle, und
bezieht
dadurch die Ungenannte, nach seiner Meinung
"untreu Gewordene", mit
ein.
Es ist
nicht sein erster Brief aus dem
Gefängnis. Er hat schon früher Nachricht nach
Ascona gegeben,
möglicherweise an
seine Frau adressiert, und er hat auch Geld
geschickt aber bislang
keine
Antwort erhalten. Er sorgt weiterhin für seine
Kinder, schickt nicht
nur Geld,
auch Brotmarken, die er sich vom Munde abgespart
hat. Er kommt mit sehr
wenig
aus.
Das
jüngste seiner drei eigenen Kinder,
Charlotte, Lottchen genannt, ist zu diesem
Zeitpunkt noch keine zwei
Jahre alt,
Heidi ist fünf, Trudel, die Älteste, acht. Die
fünf Kinder, die seine
Frau aus
erster Ehe mitgebracht hat, sind etwa zwischen
10 und 18 Jahre alt,
können also
schon mithelfen und den abwesenden Pflegevater
teilweise ersetzen.
Eines der
Fünf fehlt allerdings. Einen der Söhne hatte die
Mutter, in Gräsers
Abwesenheit
und angeblich ohne seine Einwilligung, von einem
"Onkel" adoptieren
lassen, der den großgewachsenen jungen Mann mit
in die Tropen nahm, wo
er
neunzehnjährig starb. Dieser Vorfall soll mit
zur Entfremdung der
Lebensgefährten beigetragen haben. Der andere
Grund, den Gräser mir
gegenüber angab, war Untreue seiner Frau. Nicht
mit einem anderen Mann
sei sie ihm untreu geworden, sondern mit Geld.
Während seiner
Abwesenheit habe
sie einen Betrag, den er zum Druck seiner
Gedichte angespart hatte, für
andere
Dinge ausgegeben, veruntreut. Seine Töchter
sprechen auch von anderen
Gründen.
Ihre Mutter habe eines Tages in den Kleidern
ihres Mannes den
Liebesbrief eines
Mädchens gefunden. Sie habe die junge Frau zu
sich bestellt und ihr
klargemacht, dass der von ihr Angehimmelte ein
verheirateter
Familienvater sei.
Von dieser Enthüllung erschüttert, sei das
Mädchen ins Kloster
gegangen. Wie
eng von Gräsers Seite die Beziehung war, bleibt
offen.
Nach
Aussagen der Töchter ist die Mutter nach
der Trennung mit ihren Kindern in ein Haus im
Dorf Ascona gezogen. Wie
aus dem
vorliegenden Brief hervorgeht, muss dieser Umzug
nach dem August 1918
stattgefunden haben.
Dies also
ist Gräsers Situation zuhause: Der
Boden ist brüchig geworden, er hat in der
Familie keine Heimat mehr.
Vor die
Frage gestellt, ob sie beim Vater oder bei der
Mutter bleiben wollten,
hatten
sich die Kinder einhellig für die Mutter
entschieden. Er war damit
seine Kinder
losgeworden, nicht aber seine Verantwortung für
sie.
Der
Freund, der ihm zu dieser Zeit am
nächsten steht, in den er große Hoffnungen
gesetzt hatte, Hermann Hesse
hat
sich zurückgezogen. In aller Heimlichkeit hat er
einen Roman
geschrieben,
'Demian', den er jedoch nicht als seinen eigenen
zu erkennen gibt, am
wenigsten Gusto Gräser gegenüber.
Der sitzt
im Gefängnis, trinkt Wassersuppe, wartet
auf sein Urteil. Er hatte sich seither – zwei
Jahre lang! - illegal in
der
Schweiz aufgehalten, deshalb die Verhaftung.
Jetzt will er endlich,
notgedrungen, einen Antrag auf
Aufenthaltsbewilligung stellen. Er hatte
gehofft, die Justiz werde an zwei oder drei
"Mißgriffen" genug haben.
Damit spielt er auf frühere Verhaftungen und
Abschiebungen an, aus
Zürich im
November 16, aus Bern im Januar 17. Jetzt hofft
er auf einen menschlich
fühlenden Richter, der ihn nicht nach dem
Buchstaben des Gesetzes
richten
werde. Worin er sich wiederum täuschen sollte,
denn das (nicht
erhaltene)
Urteil lautete offenbar auf Landesverweisung zum
Jahresende.
Eine Hilfe
erwünscht er sich von Adolf
Stocksmayr. Vorsichtig fragt er an, ob der
Freund nicht nach Zürich
kommen wolle,
um die Herausgabe der Bilder - damit sind seine
Zeichnungen 'Zeichen
des Kommenden' gemeint -
voranzutreiben. Sie sollen
gedruckt werden und ihm dann Einnahmen
verschaffen. Dazu kommt es aber
nicht
mehr. Die Mappe erscheint erst nach dem Krieg,
wird vermutlich 1924 in
Dresden
hergestellt.
Doch
zurück zu seiner dreifachen
Eingangsfrage. Wie? Wo? Was? Es sind offenbar
die Fragen, die ihn im
Gefängnis
bedrängen. Wie geht es weiter, wenn ich wieder
frei komme? Werde ich
noch eine
Familie haben? Ist der Grund, den ich mir in
Ascona geschaffen habe, zu
halten?
Hat es überhaupt noch Sinn, dorthin
zurückzukehren?
Noch sind
die Dinge nicht entschieden. Noch
denkt er an das, was auf seinem Grund und Boden
grünt, reift und sich
rundet.
Aber die Ahnung des Herbstes ist da. Ein
Abschied von Haus und Garten,
von Frau
und Kindern, von der ersten und einzigen Bleibe,
die er in seinem
Wanderleben
gefunden hat, zeichnet sich ab.
Was ihn
trägt in diesen und anderen Stürmen,
ist sein Verwurzeltsein im All-Tag, sein
Wieder-Kindsein, sein
Allvertrauen. In
seinem letzten Satz mag der stille Anruf
stecken, sehr zurückhaltend
die
Hoffnung: Wenn ihr würdet und wäret wie die
Kinder, ohne Angst um die
Zukunft,
ohne Sorge ums Überleben, dann könnten wir
vielleicht zusammen bleiben.
Seht
her, ich schicke euch Brotmarken und Geld, ich
bin nicht der
verantwortungslose
Rabenvater, als den man mich hinstellt.
Und wie
immer sein unerschütterliches, nicht
zu entmutigendes: Wohlauf!
Im
Jahr 2010 zeigte das Museo Comunale D’Arte Moderna
in Ascona in der
Ausstellung „1922 Le Origini della Collezione“ die
von den in
Ascona um 1920 weilenden Künstlern gestifteten
Arbeiten, u.a. auch
eine ganze Reihe von Adolf Stocksmayr.
Das Museum der Stadt
Überlingen zeigt im Jahr 2014 unter dem Titel:
Adolf Stocksmayr –
Suche nach dem Eldorado – mehr als 160 Exponate
aus dem Nachlass
des Künstlers.

Quellen:
- Bosch, Manfred:
Bohème am Bodensee. Literarisches Leben am See von
1900 bis 1950. Libelle Verlag, Lengwil am Bodensee
1997.
- Elbertzhagen,
Theodor W.: … in Bodensee-Rundschau Nr. 245, 13.
Jg., vom 18. Oktober 1944, S.3.
- Glauser,
Friedrich: „Man kann sehr schön mit Dir
schweigen“. Briefe an Elisabeth von Ruckteschell
und die Asconeser Freunde, 1919-1932. Nimbus
Verlag, Wädenswil, o. J.
- Gräser, Gustav
Arthur: Brief an Adolf Stocksmeier. Im Museo Casa
Anatta, Monte Verità, Ascona.
- Provenzale,
Veronica: Adolf Stocksmayr. In Museo Comunale
d’Arte Moderna di Ascona (Hg.): 1922. Le Origine
della Collezione. Locarno 2010, S. 131f. und
200-203.
- Straub,
Hansjörg: Ein feiner Mensch, aber ein armer
Teufel. Der Maler Adolf Stocksmayr. In: Leben am
See. Jahrbuch des Bodenseekreises. Band XXIII.
Hrsg. vom Bodenseekreis, der Stadt Friedrichshafen
und der Stadt Überlingen. 2006. ISBN
3-88812-524-3. S. 120 - 132
- Straub,
Hansjörg: Ein besonders vielseitiger Kerl ist
nicht leicht in guter Ordnung zu halten – Auf
Spurensuche nach dem Lebensreformer und Künstler
Adolf Stocksmayr. In: Leben am See. Jahrbuch des
Bodenseekreises. Band XXXI. Hrsg. vom
Bodenseekreis, der Stadt Friedrichshafen und der
Stadt Überlingen. 2014. ISBN 978-3-88812-538-6. S.
26 – 35
- Straub,
Hansjörg: Adolf Stocksmayr – Auf den Spuren eines
Ruhelosen, Katalog zur Ausstellung. Hrsg.:
Städtisches Museum Überlingen. 2014. ISBN
978-3-9809574-4-1
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