Zurück Wilhelmine Elisabeth Braumann (geborene Dörr, verwitwete Streng)
* 9.4.1874  † 25.3.1955
 
Gusto Gräsers Lebensgefährtin von 1908 bis ca. 1917 / 18
                     

Ihre Kinder:

1. Reinhard, *1898, † um 1918                                                         
2. Alexander Streng-Müller, gen. Allander, * 16. 7. 1899, † 2. 7. 1973 in Zürich   
3. Theodora K. de Rast - Streng, gen. Dora, * 26. 11. 1901, † in Uruguay    
4. Emma Elisabeth Ott - Streng, gen. Liesel, * 9. 6. 1907, † 13.5.1990 in Emmendingen  
5. Helene Bernhardine Habig - Streng, gen. Berna, * 17. 1. 1909, † an unbekanntem Ort
6. Gertrud Heinze - Gräser, * 4. 4. 1910, † 13.5.1989 in Berlin
7. Heidi Grete Christeller - Streng, * 27. 1. 1913, † 29. 5. 2007 in Pratteln, Schweiz
8. Carlota de Guillaume - Streng, gen. Lottchen, * 5. 9. 1916, † 26. 1. 1994 in Sydney, Australien

Elisabeth Doerr wurde 1874 in Mainz als Tochter eines Redakteurs geboren und katholisch erzogen. Schon als Kind soll sie sich geweigert haben, Fleisch zu essen. Wenn sie dazu gezwungen wurde, ließ sie die Fleischstücke heimlich unter dem Tisch verschwinden. Sie wurde dann Schülerin von Kneipp. Wann und auf welche Weise ist nicht bekannt. Um 1897 heiratete sie einen Wiener Arzt namens Streng. Aus der Ehe gingen vier Kinder, 2 Söhne und 2 Töchter, hervor: Reinhard, um 1898 geboren, Alexander, 1899 geboren, Theodora, 1901, geboren und Elisabeth, 1907 geboren. Um 1907 muss ihr Mann in den Bergen vermisst geblieben sein. Da aber eine Toterklärung nicht vorlag, konnte sie auf das Erbe nicht zugreifen.

Sie soll mit ihren Kindern auf der Straße gelebt haben, d. h., herumgewandert oder herumgereist sein. Um 1907/8 soll sie Gusto Gräser anlässlich eines Vortrags in Wien kennengelernt haben. Sie scheint mit ihm nach Ascona gegangen zu sein, hatte aber zunächst noch eine Beziehung zu einem anderen Mann. Die Tochter Bernhardine, die im Januar 1909 geboren wurde, stammt aus dieser kurzfristigen Verbindung. Gräser seinerseits hatte zu dieser Zeit noch eine Freundin aus Heilbronn, die er verließ, um mit Elisabeth zusammen zu sein.

Die junge Frau

Der Siebenbürger Fritz Gött schildert eine Szene im Schwabinger ‚Simpl’ aus dem Jahre 1908:

„Gräser erzählte, daß er sich demnächst an den Luganer See begeben werde. [Ein Irrtum. Gemeint war sicher der Langensee, der Lago Maggiore, an dessen Asconeser Ufer Gräser mit seinen Freunden sich angesiedelt hatte; Anm. von H.M.] Er, seine Freunde und Freundinnen, mit denen sie in 'freier Ehe' als 'naturverbundene Menschen' an den herrlichen Gestaden des Sees leben, seien schon im vergangenen Herbst dort gewesen, seien jetzt im Winter nach München und Wien gekommen; die Frauen, die sie für ihre Ideen begeistert hätten, seien Wienerinnen; nun wollten sie wieder in ihre Wahlheimat zurückkehren.“

Fritz Gött in: Neue Kronstädter Zeitung, Jg.5, Folge 3. Seite 4; 1.Juli 1989

Zu diesen Wiener Frauen gehörte höchstwahrscheinlich auch Elisabeth Streng.

Durch die Verbindung mit ihr lud sich Gräser eine enorme Belastung auf. War es schon schwer genug, sich allein mit Gedichten auf der Straße durchzuschlagen, um wieviel mehr mit Frau und fünf kleinen Kindern! Elisabeth war klug genug, ihm ihren Anhang zunächst zu verschweigen. Eines Tages aber kam Gräser zu seinem Freund Willo Rall gestürmt: „Du, ich bin Vater geworden!“ – Da hatte sie ihm das erste Kind gebeichtet. Nicht lange danach kam er wieder zu Willo: „Du, ich bin noch einmal Vater geworden!“ – Und so ging es weiter, bis sie ihm schließlich alle ihre fünf „Sünden“ gebeichtet hatte. Nun musste er zusehen, wie er die große Familie unterbringen und ernähren sollte.

Er versuchte zunächst, ein Obdach für seine große Familie zu schaffen. Im Frühjahr 1909 wanderte Gräser nach Weimar, um dort wie in anderen Städten Geld für einen Hausbau in Siebenbürgen zu sammeln. Johannes Schlaf hat darüber berichtet. Offenbar kam aber nicht genügend Geld zusammen, so dass er notgedrungen den Versuch machte, sich in Ascona niederzulassen. Für die nun siebenköpfige Familie war freilich das Häuschen seines Bruders Karl zu klein, wahrscheinlich gab es auch Meinungsverschiedenheiten. Längere Zeit fand die Familie dann Unterkunft bei der befreundeten Albine Neugeboren in Locarno-Monti. Doch auch dort konnten sie auf Dauer nicht bleiben. Nachdem Elisabeth schwanger geworden war, zog die Familie auf der Suche nach einem Obdach erst nach Zürich und schließlich nach Wien. Dort vermutlich in die Wohnung oder in die Nähe von Gustos Schwester Josefine. In Wien jedenfalls kam Gustos erstes Kind, die Tochter Gertrud, genannt Trudel, am 4. April 1910 zur Welt. Aus Siebenbürgen reiste damals Mutter Gräser an, um die kleine Enkelin zu sehen.

Die nächste Station der hauslosen Kinderschar war München, wo Gusto, nachdem alle Versuche zur Sesshaftwerdung gescheitert waren, den Entschluss fasste, die ganze Familie in einem Wohnwagen unterzubringen und mit ihm über Land zu fahren. Eigenhändig zimmerte er sich eine Reisekutsche, mietete zwei Pferdchen, und im Frühjahr 1911 begann die Fahrt von München aus quer durch Deutschland nach Berlin. Dort scheint sich die Familie etwa ein Jahr lang aufgehalten zu haben. Dann begann aufs neue die Fahrt mit dem Pferdewagen, diesmal in Richtung Süden. Unterwegs in Thüringen wurde im Januar 1913 Gräsers zweite Tochter Grete, genannt Heidi geboren. Er war inzwischen schon vorausgeeilt, um in Süddeutschland Quartier zu suchen und durch Vorträge Geldmittel zu beschaffen. Unterkunft fand die Familie dann im Frühjahr 1913 zunächst bei dem befreundeten Maler Willo Rall in Birkenfeld bei Pforzheim, ab Mai dann in Stuttgart, wo ihnen ein Gartenhäuschen in der Siedlung Falterau bei Degerloch von Freunden überlassen wurde. Zwei Jahre lang konnte Gusto seine sonntäglichen Reden im Bopserwald halten, geschützt von seiner Frau und den Kindern, die vorgeschoben im Wald Ausschau nach etwa sich nahenden Polizisten halten mussten. In Ernstfall löste sich die Versammlung in Gruppen harmloser Sonntagsspaziergänger auf.

In Abwesenheit von Gusto Gräser schreibt seine Lebensgefährtin Elisabeth 1915 an den damals 27-jährigen Pfarrer und Schriftsteller Karl Josef Friedrich (1888-1965), der die Familie kurz vorher in Degerloch besucht hatte. Friedrich korrespondierte damals mit Dichtern, Philosophen und Theologen für sein Sammelwerk ‚Das Buch der Gottesfreunde’, und könnte auch von Gräser einen Beitrag erwartet haben.
 
Elisabeth beantwortet einen Brief, in dem er seine Stuttgarter Erlebnisse resümiert und vermutlich als „Spaziergänge im Garten des Seins“ bezeichnet. Er war von den Gesprächen mit Gusto berauscht gewesen. Nun ist Elisabeth enttäuscht, weil seiner Begeisterung nur schöne Worte aber keine Taten folgten. Offenbar hatten die Gräsers gehofft, der junge Mann  werde sich ihnen als Mitkämpfer anschließen.
 

Nachdem Gusto verhaftet und nach Österreich abgeschoben worden war, konnte sich die Familie in Stuttgart nicht mehr halten. Wer sollte die Kinder ernähren? Elisabeth zog mit ihnen nach Ascona, zum zweiten Male Hilfe bei Schwager Karl suchend. Der war inzwischen jedoch finanziell ruiniert, mit Schulden belastet, außerdem depressiv. Die Familie scheint zunächst nicht auf dem Monte Verità sondern in einem Häuschen in Ascona untergekommen zu sein. Dass nun Karl psychisch erkrankte und in eine Nervenheilanstalt eingewiesen werden musste, erwies sich für Elisabeth als Glücksfall, denn nun konnte sie mit ihren Kindern in die leergewordenen beiden Häuschen von Karl einziehen und seinen großen Garten bewirtschaften.

Hunger unter Blumenkränzen

1913 landeten wir in Ascona, nach langer Pilgerschaft auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Wir fanden es schließlich in einem kleinen Häuschen, das wir von einem Naturmenschen des Monte Verità erwarben …
In unserer Nachbarschaft lebte [ab 1915] die Familie Gräser mit vielen Kindern, alle schön, mit Blumenkränzen auf den Köpfen. Sie stibitzten unsere Kastanien, und unser Vater, darüber amüsiert, lud sie zum Essen ein. Wie kärglich auch unsere Mahlzeiten waren, ihre müssen noch kärglicher gewesen sein. Sie verschlangen mit geradezu rührender Begeisterung den guten Pudding unserer Mamma.
Ich stelle mir vor, vielmehr, ich weiß es mit Sicherheit, daß unter all den Suchern und Jüngern der Wahrheit, die unseren Hügel bevölkerten, der Hunger eine Tatsache war. Dieses seltsame Völkchen – so verschieden von den Bewohnern des Landes – erhielt weit weniger Hilfe und fand weit weniger Verständnis als die großzügig behandelten Künstler, die später kamen.
Caterina Beretta: La mia Ascona. Bellinzona1980, S. 7
MARIA, meine Mutter, erinnerte sich unter den „Balabiött“ mit Bewunderung an ELISABETTA GRÄSER, die Mutter von sechs sehr mageren Mädchen, die sie ins Dorf hinunter begleiteten. Sie trugen lange Kleider und schmückten ihre Haare mit Girlanden aus Wiesenblumen. Ihr Auftreten und ihr liebenswürdiges Kinderlächeln machte ihren Anblick allen zur Freude, denn sie glichen sechs Orgelpfeifen aus einem Blumenparadies.
Erica Bacchi  in Vacchini, Giorgio (Hg.): Verdetti popolari e documenti. Ascona 1995. Nr. 1499
Elisabeth Gräser mit ihren Töchtern in Ascona um 1918 Frau Stocksmayr mit ihren Kindern
und Heidi Gräser, geb. 27.1.1913
Lottchen (Waltraud) Gräser, geb. 5. 9.1916,
gezeichnet von Adolf Stocksmayr

Auf die Nachricht jedoch, dass ihrem Mann in Siebenbürgen die Verurteilung und möglicherweise seine Hinrichtung bevorstand, eilte sie im Dezember 1915 mit der fünfjährigen Trudel nach Kronstadt, um Gusto nahe zu sein. Gusto, vor die Entscheidung gestellt, die Uniform anzuziehen oder erschossen zu werden, war standhaft geblieben. Während die meisten anderen Frauen ihren Mann bestürmt hätten, um der Kinder willen sich sein Leben zu erhalten, tut sie nichts dergleichen sondern bestärkt ihn noch in seinem Entschluss. Sie will sogar dabei sein, wenn er erschossen wird, hat aber das Gefühl, dass ihm nichts geschehen könne. Und tatsächlich: als sie frühmorgens an den Ort der Hinrichtung kommt, ist Gräser verschwunden. Über Nacht hatte man ihn nach Klausenburg in eine Irrenanstalt transportiert.


Stuttgart 1913


Die Mutter mit Gusto Gräser




Dresden 1911

Elisabeths Töchter von oben nach unten, links vom Brunnen Theodora, Trudchen, Waldtraud, Bernhardine, rechts vom Brunnen Elisabeth, Mutter Elisabeth, Heidi

 



Ascona  ca. 1919             

Elisabeth kehrte zu ihren Kindern nach Ascona zurück. Sie trug nicht nur ihre sieben Kinder durch die Not des Kriegsjahres 1916, sie trug auch ein achtes von Gusto in sich. Offenbar war den beiden ein letztes Zusammensein im Gefängnis gnadenhalber gewährt worden. Neun Monate nach ihrem Aufenthalt in Kronstadt kam am 5. September Gustos dritte Tochter Waldtraud, die stets Lottchen genannt wurde, zur Welt. Am selben Tag kam er selbst, wenige Stunden nach der Geburt, aus dem inzwischen von Rumänen besetzten Siebenbürgen als freier Mann zurück.

Er hatte jedoch, wie vermutlich auch sie, keine Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz. In dieser Lage bedeutete es für Elisabeth und Gusto eine große Ermutigung, dass der berühmt gewordene Hermann Hesse zu ihnen stieß und auch seine Frau Mia ins Haus brachte. Jetzt sammelte sich um Gusto ein Kreis geistig interessierter Menschen, zu denen neben den Hesses die Tänzerin Mary Wigman und der Physiker Auguste Piccard gehörten. Auch der noch unbekannte Philosoph Ernst Bloch kam vom nahen Monti her ins Haus. Den Dichter Hesse inspirierte Elisabeth zur Gestalt der Frau Eva in ‚Demian’. Seiner Frau Mia wurde sie Freundin, Nachbarin und zeitweise Hausgenossin.

Zu ihrer Freundschaft mochte beitragen, dass sich beide in einer ähnlichen Lage befanden. Als Frauen und Lebensgefährten von Männern nämlich, die sich als Dichter verstanden, die ihre ganze Kraft ihrer Berufung widmeten und für die Bedürfnisse von Frau und Kindern nicht allzuviel Zeit übrig hatten. War die Ehe der Hesses schon seit Jahren schwer gestört, so vollzog sich jetzt auch zwischen Elisabeth und Gusto eine zunehmende Entfremdung. Wie immer in solchen Fällen fanden sich Anlässe; der tiefere Grund für den sich anbahnenden Bruch dürfte jedoch in der Spannung zwischen dem Geistberuf der Männer und dem Mutterberuf der Frauen gelegen haben. Im Falle Elisabeths kam hinzu, dass ihre christlich-katholische Prägung sich wieder durchzusetzen begann und den heidnisch-nietzscheanischen Überwurf durchbrach. Das theoretische Feld war wohl ihre Sache nie gewesen.



Freundin für Hermann und Mia Hesse. Vorbild für Hesses „Frau Eva“ und Gräsers Bild von „Mütterlichkeit.






 


Ich vermochte kein Wort zu sagen. Aus einem Gesicht, das gleich dem ihres Sohnes ohne Zeit und Alter und voll von beseeltem Willen war, lächelte die schöne, ehrwürdige Frau mir freundlich zu. Ihr Blick war Erfüllung, ihr Gruß bedeutete Heimkehr. …

Draußen war die „Wirklichkeit“, draußen waren Straßen und Häuser, Menschen und Einrichtungen, Bibliotheken und Lehrsäle – hier drinnen aber war Liebe und Seele, hier lebte das Märchen und der Traum.

Hesse: Demian


Burg der Armut



Mia Hesse



Die Alleinerziehende mit ihren Töchtern 1919/20

Ende 1917 oder anfangs 1918 kam es zur Trennung. Elisabeth bezog mit ihren Kindern eine Wohnung im Dorf, scheint aber wieder in das Karlshaus zurückgekommen zu sein, nachdem Gusto im Mai sich nach Zürich begeben hatte. Im Oktober 1918 übergab Gusto das mit Schulden belastete Haus an seinen Schüler Ludwig Häußer, der aber mit dieser Erwerbung zunächst nichts anfangen konnte. Vermutlich konnte Elisabeth mit ihren Kindern vorläufig bleiben. Im Frühjahr 1919, nach der Trennung von ihrem Mann, kaufte Mia Hesse ein Haus auf dem Monte Verità, „La Cascina“ genannt, ganz in der Näher der Gräsers. Offenbar in dem Wunsch, diesen nahe zu sein. Es entspann sich eine so familiäre Nachbarschaft zwischen Elisabeth und Mia, dass die Hesse-Söhne, wenn sie zu Besuch kamen, nicht von ihrer Mutter sondern von Frau Elisabeth an der Busstation abgeholt wurden. Auch durfte Elisabeth mit ihren Kindern im Haus von Mia wohnen, solang diese in einer Anstalt untergebracht war. Die dokumentarischen Spuren dieser Verbindung lösten sich freilich in Flammen auf, als Mias Haus in den Zwanzigerjahren vollständig niederbrannte.

Elisabeths wirtschaftliche Notlage war erdrückend. 1918 und 1919 reiste sie nach Stuttgart, um Geld für den Unterhalt der Familie zu sammeln. Trotz mancher Hilfen reichten die Mittel vorne und hinten nicht. Es scheint, dass die Familie der Gemeinde Ascona zur Last fiel. 1921 wurde Elisabeth aus der Schweiz ausgewiesen.

 

Im Herbst 1918 ist sie mit ihren Töchtern Theodora und Trudel zu Gast bei dem Mathematikprofessor Wölffing in Stuttgart. Sie versucht Geld zu sammeln für ihre in Ascona verbliebenen anderen Kinder

1927 auf der Mathildenhöhe von Darmstadt.
Sie wird Ratgeberin für den Großherzog von Hessen

Mehr Bilder vom Monte Verità 1919/20 finden Sie, wenn Sie hier klicken!

Wiederum kam ihr ein Glücksfall zur Hilfe: Die Toterklärung ihres Mannes brachte ihr ein ansehnliches Erbe ein, das ihr ermöglichte, mit den Kindern für einige Jahre herumzureisen. Die Familie war viel unterwegs, lebte zeitweise in Hanau und Darmstadt, wo sie auf der Ludwigshöhe wohnte. Elisabeth wurde als Beraterin und Trösterin zum Großherzog gerufen, dessen Tochter von einem Koch vergiftet worden war. Auch im bayrischen Königshaus war sie gern gesehen, wurde mit ihren Kindern eingeladen.

Zeitweise lebte sie in einem Ursulinenkloster bei Köln, dann wieder in Italien.

Ihre Kinder gab sie zeitweise in Pflege, Heidi unter anderem bei Nationalrat Rudolf Gelpke in Basel, bei einem Künstler in Tüllingen bei Lörrach, bei Bekannten an der Scheuchzerstrasse in Zürich und um 1930 im Kloster Dult in Gratkorn bei Graz.

Ende 1924 heiratete sie den Arzt Dr. Hans Braumann.


Mit ihrem offiziellen 2.Ehemann, dem Arzt Dr. Hans Braumann auf dem Augustusplatz in Leipzig

1936 wanderte sie mit den Töchtern Theodora und Waldtraut über Spanien und Portugal nach Brasilien aus, wo sie sich noch als Fünfundsiebzigjährige als Kinderfrau durchschlug.

Ihre Tochter Theodora zieht wie Gräser im Pferdewagen über Land, seine Schriften verbreitend

 

Die Gräsertochter Gertrud besucht ihren Vater in Dresden-Loschwitz, 1925

Gertrud und Heidi mit dem Maler Max Schulze-Sölde und Gertruds Lebensgefährten Henri Joseph in der Siedlung Grünhorst bei Berlin um 1933

 

Elisabeth in Brasilien, 1937

Heidi, Lotte und Trudel (von links) mit Henri Joseph und den Töchtern Angela und Christa in Berlin-Tempelhof, 1942

 

 

 

 

 

 

 

 

 




 

Gusto Gräser schreibt aus Berlin-Tempelhof an seine Tochter Gertrud in Fischerkaten an der Ostsee, 31. Juli 1942



Christel und Angela Josef-Gräser
mit Susi Collm in der Mitte in Fischerkaten, Juli 1944


1942-45: Gertrud Gräser und Henri Joseph retten jüdische Kinder

Erst um 1952 kehrte Elisabeth mit dem Ozeandampfer über Genua wo sie von ihrer Tochter Heidi mit Enkel Reinhard im Auto eines Verwandten abgeholt wurde, nach Europa zurück. Sie lebte die letzten Jahre bei ihrer Tochter Heidi in der Schweiz.  

Elisabeth stirbt am 25. März 1955 in den Armen ihrer Tochter Heidi

Sie starb am 25. März 1955 als Wilhelmine Elisabeth Braumann, geb. Doerr in Reinach bei Basel. Mitten in einem Gespräch war sie mit einem Seufzer in die Arme ihrer Tochter Heidi gesunken.



Lebenszeugnisse

Es war um das Jahr 1908, als Gräser anlässlich einer Vortragsreihe, die er in Wien hielt, auf seine um ein paar Jahre ältere Lebensgefährtin Elisabeth Dörr traf, die Tochter eines Mainzer Redakteurs, von der es im Roman ‚Aufstieg’ heißt, „dass sie schon länger so lebe als er“.

Martin Müllerott in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter,1964, Folge 4, S. 195


Da trat ein neuer Gast ins Lokal (die Künstlerkneipe ‚Simplizissimus’ in Schwabing), der aussah, als sei er einem Bild aus einer illustrierten Bibel entstiegen. Trotz des strengen Winters, der draußen herrschte, kam er barhäuptig mit langem, blondem Haar und Vollbart, mit Sandalen an den nackten Beinen, einem togaartigen Überwurf aus grobem Stoff, den er genial um die Schultern geworfen hatte, herein und lenkte sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich.

Er war ein schöner, stattlicher, jüngerer Mann. Ich erkannte ihn gleich. Es war ein Landsmann, der Mediascher Gusto Gräser, Maler und Naturheilapostel. Ich hatte ihn im Sommer vorher in Kronstadt in seiner testamentarischen Aufmachung gesehen. Die Dienstmädchen nannten ihn den neuen Christus. …

Gräser erzählte, dass er sich demnächst an den Luganer See [richtig: Lago Maggiore] begeben werde. Er, seine Freunde und Freundinnen, mit denen sie in 'freier Ehe' als 'naturverbundene Menschen' an den herrlichen Gestaden des Sees lebten, seien schon im vergangenen Herbst dort gewesen, seien jetzt im Winter [1908?] nach München und Wien gekommen. Die Frauen, die sie für ihre Ideen begeistert hätten, seien Wienerinnen; nun wollten sie wieder in ihre Wahlheimat zurückkehren.

Fritz Gött in: Neue Kronstädter Zeitung, Jg. 5, Folge 3, Seite 4; 1. Juli 1989


„Ich gedenke über Wien nach Siebenbürgen zu gehen und mir dort Land zu kaufen. Ich treffe in Wien das Weib, mit dem ich mich verbinden will.“

„Sie lebt auch so wie Sie?“

„Ja und sogar schon länger wie ich.“

„Sie werden sich auch nicht standesamtlich eintragen lassen?“

„Nein, auch das Standesamt haben wir nicht mehr nötig. Der Sinn für das Standesamt ist mir mit allem andern vergangen. Ich verurteile es nicht, will es nicht abschaffen: aber es selbst wird sich abschaffen.“

Johannes Schlaf: Aufstieg. Roman. Berlin 1911. S. 598


Auch sie ging in einer Art Gewand fahrender Leute, das im Stil zu dem ihres Mannes passte. Als eine zweite „Ich, Anna Csillag mit meinem 180 cm, langen Riesen-Loreleyhaar“ erfreute sie sich einer schönen, nussbraunen Mähne, die ihr offen über die Schulter hing und meist von einem sehr bescheidenen Stirnbändchen gehalten wurde.

Madama ‚gusto gras’ sah aus wie eine frische Fünfunddreißigjährige. Sie war glatthäutig, hatte rote Wangen, und zu ihrer sympathischen Rundlichkeit passte ihr sanftes, geduldiges und wohlgewaschenes Benehmen, das sich bis auf die nackten Zehenspitzen erstreckte.

Annie Francé-Harrar: So war’s um 1900. München 1962. S. 83



Des Herzens Immen summen und sammeln Honigseim,

sie kummen, gehn und kummen und finden immer heim;
mit ihnen lass uns lenken, vertraulich bis ins Blut,
uns ganz einander schenken, so gottvollwohlgemuth!
Schau hin, mit grünen Zweigen winkt uns Frau Erde zu!
Oh Wogewiegeneigen, heimfalln in ihre Ruh!
In ihre Armuth wallen, mit ihren reinen Mühn,
mit ihren Seimen allen tiefheim zum Grunde fallen
und Leben blühn!

Tochter Trudel in Wien geboren (4. April 1910)

Im Februar bin ich nach Wien gefahren, um Gust mit Frau zu sehen. Den 4ten April ist ihnen ein kleines Trutscherl geboren. Damals schrieben sie: "auf die Welt gesprungen“.

Tagebuch von „Grossika“ Charlotte Gräser

O Andacht Ihm,
dem keimend jungen Leben,
solang’s noch träumt im dunklen Mutterschoß,
solang’s noch nicht gesehn vom grellen Tage,
geschehn ist’s doch –
teilt seine Freuden, teilet seine Plage.
Um was die Mutter denkt und bangt und bebt,
im Kinde tiefgeprägt Es weiterlebt.
Nach was die Mutter wünscht und sehnt und sinnt –
im Kinde eingeborn Es weiterminnt.
So lasst in Schönheit, Lust und Würde heben
uns heilge Zeit,
wenn tief im Schoße keimt
das junge Leben.
*
Kind, unser Kind, der Wonnen und der Schmerzen,
vom Mutterherz umwebet Tag und Nacht,
umschwebt, umwacht,
dass langelang dein Dummelköpple träumt
und ob der Klugheit nit das Glück versäumt,
Herzweisheitlicht, auch später nicht, im
Wissenswust der frostgen Leutepflicht.
Herzpinkerl träum, träum, unser Sonnenschein,
du Springepunkt im grohsen Weltensein!
Hüpf, hüpf und hilf, gehofft han wir uns müd,
wo doch allhier Urheimathimmel glüht,
wo doch, mit Dir herzhaftiglich gesellt,
hinfällt all Einzeltrug,
Grund allem Zwist - in Paarung fällt, in:
Ineinanderwelt -TRIU- die ewig ist!
*
Mann - Weib - und Kind -
heilge Dreiheiterkeit, wo dein wir sind,
so treufidel aus ganzer Seele sind,
da keimt, beginnt neuneu Urlebensmai, ballt sich die Wirrwarrwelt
zum Wunneei im Heimatnest,
da sammelsamt sich, eit, gedeiht in urgemütig warmer Heimlichkeit,
trutz Lug- und Trugfrost, Unheim, Winterschweignis, Gramwinterwust,
das eigentliche - das Urmenschereignis - voll Schöpferlust.
*

Gusto Gräser hat ein ihm vollständig gleichgesinntes Weib gefunden, das ihn zum glücklichen Vater gemacht hat und das, wie ich beurteilen darf, da Elisabeth Gräser – eine geborene Rheinländerin und gleichfalls guter Familie entstammend – mich inzwischen gleichfalls besucht hat, genau den gleichen Eindruck einer wesensechten Ausnahmenatur bietet.

Johannes Schlaf: Gusto Gräser. In: Hamburger Nachrichten vom 4. Juli 1911


Er (Gusto Gräser) machte die Bekanntschaft einer Hellseherin, die acht Kinder hatte (So etwas kommt manchmal auch in mystischen Kreisen vor). Sie verliebten sich, und nun reiste die ganze Familie von Stadt zu Stadt. Der Geist war aber leider bei ihnen zu vollzählig, und sie hungerten auch manchmal. Das wurde dem Apostel dann doch zu langweilig, und er fand eine sehr gute Methode, seine Kinder loszuwerden. Er ging einfach in verschiedenen Städten zu seinen Gesinnungsgenossen und fragte, ob er eines seiner Kinder nicht auf eine halbe Stunde dort lassen könne; dann holte er es einfach nicht wieder ab.

Emil Szittya: Das Kuriositäten-Kabinett. Konstanz 1923. S. 94


Ich weiß wohl, die Not bei Gräsers war anfangs wohl groß – diese Menge Kinder und kein rechter Unterhalt, kein festes Fundament. Da war es gewiß recht und gut, dass die Freunde helfend eingriffen. Sie haben dort gewiß ein großes Liebeswerk geleistet! Wem von uns ist nicht einmal in einer wirklichen oder auch nur eingebildeten Not geholfen worden? Aber ich hoffe um Gräsers selbst willen, dass es ihnen jetzt garnicht mehr so schlecht wie am Anfang geht. Sie haben einen Wohnwagen – er war in Reclams Universum abgebildet, 2 Pferde, und die Frau und Trudel drauf und Gustav fröhlich die Leinen haltend. – auch soll er jetzt immer noch bekannter und genannt in Deutschland als Dichter und Schriftsteller sein; es haben sich ein Kreis von Schriftstellern zusammengethan, um ihn immer weiteren Kreisen zuzuführen. … Theodora, ein liebes gutes Kind, war c. 11 Monate bei uns, dann mussten wir sie der Mutter nach Deutschland zurückschicken, weil es hier nicht ging.

Paul von Rechenberg-Linten am 1. September 1912 aus Ronco sopra Ascona an Eduard Meyer in Zürich


Im Pferdewagen (1911/12)

Wo mit klarem Gefälle am Rande des Buchenwaldes ein Bach hervorkam, stand, ein gut Stück abseits von der Landstraße, ein zeisiggrün gestrichener Reisewagen; solch einer, wie ihn fahrende Seiltänzer und Karussellbesitzer benutzen. Aber alle seine vier Wände zeigten, mit einem unbekümmert freikühnen Zug in einer bräunlichroten Farbe aufgemalt, gereimte Sprüche, kurze Ausrufe mit großen, dicken Ausrufezeichen dahinter, Arabesken und andere wunderliche Zeichen; groß, grell deutlich und weithin sichtbar.

Unweit des Wagens stand, am Stamm einer Birke festgebunden, ein schmuckes, gutgenährtes, braunes Pferdchen, das den Kopf hin und her wandte und munter in die Morgenluft hineinschnupperte.

Denn es war noch früher Morgen, kaum übers erste Zwielicht hinaus. …

Die Minuten gingen hin … bis mit einemmal … mit einem franken Ruck die Tür des zeisiggrünen Wagens auffuhr und vor dem schwarzen Hintergrund die kräftig geschmeidige Gestalt eines Mannes stand, die, ehe sie völlig herabstieg, ausschauend noch verweilte. …

Nach ihm erschien im Schmuck langer, rotbrauner Haare ein junges Weib in einer unter den Brüsten von einer Schnur zusammengehaltenen, oben am freien Brustausschnitt buntgestickten, grünen Kutte. Auch sie war barfüßig, mit leichten Sandalen, die Arme vom Ellbogen an licht aus weiten Halbärmeln hervor, auf dem Arm einen kleinen, dicken, mit einem lichtroten Kittelchen angetanen Zweijährigen.

Rotwangig, strahlend, Freude auf den Anblick der Sonne im Auge, kam sie dem Knaben nach hurtig herzugeschritten.

Und nun blickten sie miteinander hinüber, wie, während rings die Wiesen und Bergwälder in warm lebendigem Goldglanz zu erstrahlen begannen, Stück für Stück die runde Scheibe heraufwuchs, bis sie groß und voll am Waldsaum aufstand. …

Er wandte sich um.

Drüben, unweit des Wagens, stand die Frau, die zum Morgenimbiss rief.

Sie hatte inzwischen eine große, dicke Filzdecke auf die Wiese gebreitet, auf deren Mitte eine bunt glasierte, irdene Schüssel mit der morgendlich gewohnten Roggenmehlsuppe stand. Neben der Schüssel lagen ein Schrotbrot und ein paar Weißwecken. Das Schrotbrot für die Erwachsenen, die Wecken für die Kinder. … Schelmisch aber und fröhlich, wie die Frau war, stand mitten auf der Decke auch ein reizendes Töpfchen mit einem Sträußchen lichtblauer Waldvergissmeinnicht, das sie vorher, als sie in einem Eimer Wasser aus dem Bach geschöpft, an seinem Rande zu pflücken noch Zeit gefunden hatte.

Johannes Schlaf: Das Fruchtmahl. Dessau 1922. S. 67 und 70


Ende Mai 1912 kam durch Wandervögel die Kunde, dass auf unserer Waldwiese westlich von Gautzsch ein Planwagen gestanden, dessen Pferde dort grasten. Das Merkwürdige sei aber des Besitzer des Fuhrwerks und seine Frau gewesen. Er hätte ausgesehen wie ein „Naturmensch“: sehr langes Haar; großer Vollbart; die Frau hätte ihr Haar offen getragen.

Der Mann habe sie gebeten, sich durch ihn nicht stören zu lassen. Er habe auch nicht gestört. Im Gegenteil, er habe an ihren Spielen (Völkerball, Reiterkampf) gern teilgenommen. Die Jungen durften sich auch mal auf die Pferde setzen und reiten.

Sie wussten aber nicht den Namen der Eheleute. Wir sollten nur wiederkommen, man biwakiere noch etliche Tage.

Erich Matthes: Typoskript im Gräser Archiv Freudenstein


Die Gräserfamilie in Stuttgart (1913-1915)

Wer ist Gusto Gräser? Dort an dem Tische sitzt er mit Weib und Kindern und einem Freunde. – Das Äußere der Familie ist auffallend. Erwachsene wie Kinder tragen langes, offenes Haupthaar, nur von einem schmalen Band zurückgehalten. Die Kleidung besteht zumeist aus verschiedenfarbigen, groben Wollstoffen und macht, was den Schnitt und die Art des Tragens betrifft, einen halb orientalischen, halb antiken Eindruck. Die Männer tragen außerdem noch eine Art Pilgertasche an der Seite. Alle machen den Eindruck einer schönen Gesundheit und freudiger Intelligenz.

Schwäbische Tagwacht, Stuttgart, vom 5. Mai 1913


Ich suchte ihn (Gusto Gräser 1913) in seiner Wohnung in dem Höhenvorort Degerloch auf, wo er am Ortsrand nahe des Waldes mit Frau und sieben Kindern in einem etwas verfallen aussehenden Anwesen "hauste". Seine Frau Elisabeth, eineinhalb Köpfe kleiner als er, war wohl Rheinländerin von Geburt, und hatte die fünf älteren Kinder in die Gemeinschaft mitgebracht, nur die zwei Jüngsten waren Gusto-Kinder. Während Gräser selbst zwar innerlich fröhlich, aber äußerlich ernst und nicht besonders kontaktfreudig schien, war ihr Heiterkeit angeboren; ihre Zunge konnte sehr scharf werden und ihrer Schlagfertigkeit war nicht leicht einer gewachsen. Er gab zwar den Ton an, aber sie dirigierte. Das "Naturmenschen"-Idyll in der Falterau erregte natürlich im braven Degerloch einiges Aufsehen, die Eltern in wilder Ehe lebend, die "armen" Kinder der Schule entzogen!

Alfred Daniel: Erinnerungen an Gusto Gräser. Typoskript im Gräser-Archiv Freudenstein


Komm mit – komm mit!
Wohin, mein wonnig Weib? – Wer liess von Dir nit gern sich naseführen?
Wohin, wohin, mein holder Zeitvertreib?
Du, komm, beguck das Nest ob unsrer Türen!
Na, das wir sehn. - O Freund, wie ist das schön! – Du Schwelgerin!
Guck, guck – das ist die Frau – der Vater schwebt dort oben in dem Blau.
Hörst du das Piepen? – Guck, er schwingt zurück – mit welchem Schwung –
Du seelges Schwalbenglück!
Die gelben Mäulchen piepen immerfort - - - So schau doch, Du –
Du sagst auch gar kein Wort.
Mein herzig Weib – wenns innen drängt und quillt – fügt sich so leicht
kein passend Wortgebild. – An meinem Werke findst Du Antwortspur.
Willst Du mir helfen, Herz –
dann plaudre nur!
*
Liebchen, meine Horcherin, überall die Öhrchen –
hierhin, dorthin horcht sie hin um ein neu Histörchen.
Alle Ritzen horcht sie aus – und dann plauscht sie's
wieder 'naus.
Wohl mir, du mein Liebchen bist, nit studiert, mein Mäus'chen,
Leisetippchen voller List mit dem Witterschnäuzchen.
Wo ich grüble bis ich schwitz –
huschdich hat's dein Mutterwitz.
*
Was athmet da in Deiner Klaus
ein wohlgemutes Leben!
Das macht - ich hab' ein Weib im Haus,
das treibt Dir jeden Grusel aus
mit seinem heitern Weben.
Das wegt und webet her und hin,
und hin und her in stetem Sinn.
Weil das mit aller Lust und List
so ganz dem Tag ergeben,
so ganz kurz angebunden ist –
drum kommts, dass uns kein Deibel frisst,
drum grünen unsre Reben!
*

Für Hermann!

Freund, ein neuer Morgen winkt auch Dir,

stehe auf und gehe.

Ein warmer Händedruck!

Elisabeth Gräser ihrem

Hermann Bühler

Widmung auf der Rückseite ihres Fotos, vermutlich 1913/14


Gräser lebt mit seiner Frau in freier, staatlich nicht sanktionierter Ehe. Aus dem hohen ethischen Gedanken heraus, ein Beispiel dafür zu geben, dass Liebe stärker bindet als Gesetz. Trotzdem sprechen die Akten von G's Frau als von seiner "Konkubine". ... Das Konkubinat G's fungiert mit als Hauptgrund im Ausweisungsbefehl. Das ist deshalb sehr befremdlich, weil die Akten lange Ausführungen darüber enthalten, die Bevölkerung, insbesondere die Nachbarschaft G's, nehme an seinem ehelichen Verhältnis keinen Anstoß und ein Einschreiten sei deshalb (leider, leider!) nicht möglich.

Alfred Daniel: Ein offenes Wort zum Fall Gräser. Stuttgart 1915, S. 8


Als Gründe seiner Ausweisung aber gelten - …

Fünftens –
Sein illegitimes Eheverhältnis, das geeignet ist, Anstoß zu erregen.

Deutsch –
Seine echte Ehe, unentweiht durch Verschwörung und Eingriff fernstehender „Personen“ – Sein freier Ehebund, dem tief-verderblichen Gedanken „Ehe tritt erst dort ein und ist erst dort da, wo das Gesetz den Bund besiegelt“, keinen Vorschub leistend – Seine offene Ehe, die, soweit mir bekannt, bei halbwegs ordentlichen Menschen noch kein Ärgernis, wohl aber durch ihre Früchte
schon mache Freude erregt hat.

Nun noch sechstens –
Trifft es nach dem „Paragraphen“ auch nur seine Frau, so wiegt es doch mit bei seiner Belastung und gehört hierher zur Reinigung ihres gemeinsamen Tisches –
Also – Ihre Weigerung, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Ins Deutsche übersetzt –
Ihr Eifer, ihre Kinder, ihre lieben Lebensaufgaben, selbst zu lösen – Ihre Lust, ihre Lebenskeime selbst zu sonnen, sie geistig und leiblich echt und eigen selbst zu nähren, damit sie zu eigentlichen Menschen erwachen und erwachsen können. Einfach, ihr doch wohl berechtigter Wille, leiblich und geistig
eigene Kinder zu haben.

Gusto Gräser: Freunde! Was sagen wir dazu? Stuttgart, Juli 1915


Die Gräserfamilie in Ascona

Bei Ausbruch des Krieges ist seine Familie zu seinem Bruder Karl Gräser gezogen, der in Ascona ein größeres Landgut hatte. Gusto Gräser blieb zunächst in Stuttgart, wurde dann aber im Oktober oder November als „lästiger Ausländer“ ausgewiesen – in erster Linie, weil er sich weigerte, Blut zu vergießen. Er ist Siebenbürger Sachse von Geburt. Sie schafften ihn nach Bregenz.

Seine Frau ist von Ascona mit einem etwa fünfjährigen Töchterchen zu ihm geeilt. Zu dritt wurden sie nach Wien und weiter nach Buda-Pest gebracht. … Sechs Wochen Gefängnis. Dann geht’s in seine Heimat nach Kronstadt. …

Da stellt ihn der General vor die Entscheidung: Entweder ziehst du jetzt die Uniform an oder du wirst morgen erschossen. „Tut was ihr müsst“ ist seine Antwort.

Er nimmt von Frau und Kind Abschied. „Ja, Gusto, du kannst ja nicht schwören; wir hatten ja immer damit gerechnet, dass wir auch das Leben lassen müssen für die Wahrheit – morgen früh komme ich mit dem Kind wieder, ich werde dabei sein, wenn sie dich erschießen. Aber“, fügt sie hinzu und er sagt dasselbe, „ich habe gar keine Bangigkeit, dass ein Unglück geschehen dürfte“.

Am andern Morgen ist die Treue schon um sechs Uhr an der etwa eine Stunde vor der Stadt liegenden Kaserne – ihr Mann ist fort!... Sollten sie doch ein Unrecht begangen haben? Doch nein, sie fühlt ja nichts derartiges. Da kommt endlich ein bekannter Offizier und kann ihr sagen, dass ihr Mann in der Nacht fortgeschafft wurde – nach Klausenburg.

Jul Glemser, Göppingen, an Professor Auguste Forel, Yvorne, 28. 4. 1919


Nel 1913 approdammo ad Ascona dopo lunghe peregrinazioni alla ricerca del paradiso terrestre. Lo trovammo infine nel piccolo chalet acquistato da un naturista del Monte Verità ... Vicino a noi viveva la famiglia Graeser, con tante bambine, tutte belle, con coroncine di fiori in testa. Venivano a rubare le nostre castagne e mio padre, divertito, le invitava a cena. Per quanto fosse parco il nostro cibo, il loro doveva esserlo ancora di piú. Divoravano con entusiasmo quasi commovente i buoni budini della mamma.

1913 landeten wir in Ascona, nach langer Pilgerschaft auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Wir fanden es schließlich in einem kleinen Häuschen, das wir von einem Naturmenschen des Monte Verità erwarben … In unserer Nachbarschaft lebte die Familie Gräser mit vielen Kindern, alle schön, mit Blumenkränzen auf den Köpfen. Sie stibitzten unsere Kastanien, und unser Vater, darüber amüsiert, lud sie zum Essen ein. Wie bescheiden auch unsere Mahlzeiten waren, ihre müssen noch kärglicher gewesen sein. Sie verschlangen mit geradezu rührender Begeisterung den guten Pudding unserer Mamma.

Caterina Beretta: La mia Ascona. Bellinzona1980, S. 7


ERICA BACCHI (erzählt):

- MARIA, mia madre, dei “balabiött” ricordava con ammirazione ELISABETTA GRÄSER, madre di sei magrissime fanciulle, che l’accompagnavano in Borgo. Indossavano abiti lunghi ed ornavano i capelli con ghirlande di fiori naturali. Il loro transitare ed il garbato sorriso di giovinezza allietava lo sguardo a tutti, perchè sembravano sei canne di organo d’un Paradiso di fiori.

- MARIA, meine Mutter, erinnerte sich unter den „Balabiött“ mit Bewunderung an ELISABETTA GRÄSER, die Mutter von sechs sehr mageren Mädchen, die sie ins Dorf hinunter begleiteten. Sie trugen lange Kleider und schmückten ihre Haare mit Girlanden aus Wiesenblumen. Ihr Auftreten und ihr liebenswürdiges Kinderlächeln machte ihren Anblick allen zur Freude, denn sie glichen sechs Orgelpfeifen aus einem Blumenparadies.

Vacchini, Giorgio (Hg.): Verdetti popolari e documenti. Ascona 1995. Nr. 1499


Überall Fortschritt und...

Aber vorher, damals, vor fünfundvierzig Jahren?

Bei der Post in Locarno ragten noch die zwei mächtigen Zedern und verdeckten die große Uhr an der Fassade; das war Sinnbild und Wahrzeichen jener Zeit: die hastig tickende, ruhelose Uhr, verdeckt vom Lebensbaum, vom tausendjährigen Mammutbaum… und auf den Stufen vor dem Café Scheurer hockte, als ich zum Bahnhof radelte, in griechischem Gewand, mit Goldreif im Haar und bloßen Füßen Frau Gräser vom Monte Verità und säugte öffentlich ihr Jüngstes.

Jakob Flach: Ascona. Zürich 1960. S. 11


Da sank mein Blick herab: unter dem Vogelbilde in der geöffneten Tür stand eine große Frau in dunklem Kleid. Sie war es.

Ich vermochte kein Wort zu sagen. Aus einem Gesicht, das gleich dem ihres Sohnes [Mannes!] ohne Zeit und Alter und voll von beseeltem Willen war, lächelte die schöne, ehrwürdige Frau mir freundlich zu. Ihr Blick war Erfüllung, ihr Gruß bedeutete Heimkehr. Schweigend streckte ich ihr die Hände entgegen. Sie ergriff sie beide mit festen, warmen Händen. …

Ihre Stimme war tief und warm, ich trank sie wie süßen Wein. Und nun blickte ich auf in ihr stilles Gesicht, in die schwarzen, unergründlichen Augen, auf den frischen, reifen Mund, auf die freie, fürstliche Stirn, die das Zeichen trug. „wie bin ich froh!“ sagte ich zu ihr und küsste ihre Hände. „Ich glaube, ich bin mein ganzes Leben lang immer unterwegs gewesen – und jetzt bin ich heimgekommen.“

Sie lächelte mütterlich.

„Heim kommt man nie“, sagte sie freundlich. „Aber wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus.“

Sie sprach aus, was ich auf dem Wege zu ihr gefühlt hatte. Ihre Stimme und auch ihre Worte waren denen ihres Sohnes [Mannes!] sehr ähnlich, und doch ganz anders. Alles war reifer, wärmer, selbstverständlicher. …

Dies also war das Bild, in dem mein Schicksal sich mir zeigte, nicht mehr streng, nicht mehr vereinsamend, nein, reif und lustvoll! … Mochte sie mir Mutter, Geliebte, Göttin werden – wenn sie nur da war! wenn nur mein Weg dem ihren nahe war! …

Sie war ein Meer, in das ich strömend mündete.

Hermann Hesse: Demian. Gesammelte Werke 5, Frankfurt/M. 1970, S. 138f. und 149


Die Familie bricht auseinander

Es war um das Jahr 1917-18. Als Karl Gräser verstorben war, da wohnten wir kurze Zeit oben auf dem Grundstück meines Vaters Gusto. Dann kam die Trennungs-Frage, wo wir Kinder bei der Mutter standen – Vater stellte die Frage (die ich noch heut im Gedächtnis habe): Wer geht mit mir? – Wir als immerhin kleine Kinder blieben bei der Mutter stehn, und so war der Würfel gefallen.

Gusto ging in die sogenannte "Ruhe", ein längliches Gebäude, mehr Atelier als Haus, wir [blieben] noch, ehe es ins Dorf Askona ging, für kurz oben wohnhaft. Wir hatten eine Wohnung gefunden, in der wir bis 1919 wohnhaft blieben. …

Nun noch zu der Frage, ob Karl die Haeusserfarm vertrieb [sein Anwesen an Ludwig Haeusser verkaufte]. Nein, denn Vater lernte Haeusser erst nach dem [angeblichen] Tod des Bruders kennen und gab ihm Vollmacht (Papiere) und erhielt etwas Abfindung. Auch wir wurden nicht vertrieben, denn meine Mutter ging vorher. Hatte auch nach der Ehe ihres ersten Mannes 35 Tausend geerbt, das war ja damals recht ansehnlich und wir lebten alle davon, z. T. erst in Basel, dann in einem Ursulinenkloster zwischen Köln und Bonn (Hersel), wo die Inflationszeit war und wir für die Ursulinerinnen Eier, Butter usw. fürs Kloster sammelten. Ach ja, es war eine schöne, wenn auch oft einfache Zeit, die wir mit unserer frohen Mutter – Freud und Leid zu teilen immer bereit waren. ...

Nur schade, dass mein stark eigenwilliger und leicht aufbrausender Papa mit meiner ebenso eigenwilligen Mama nicht zu dieser, ich möchte sagen: gutbürgerlichen "Harmonie" (leider oft untreu und verlogen) kommen konnte. Beide waren zu sehr Persönlichkeit, da ist ein Alleingang besser für beide.

Gertrud Heinze-Gräser an Hermann Müller, 17. Juli 1984


Ach ja, mit Reinhard, dem Bruder aus der ersten Ehe, war es so, dass sie in Abwesenheit von Vater diesen etwa Siebzehnjährigen dem "Onkel" Wiedens ins "Zuckerland" mitgab, wo er neunzehnjährig starb. Er soll 1 Meter 93 groß an Herzversagen gestorben sein.

Gertrud Heinze-Gräser an Hermann Müller, 1. August 1984


12. 4. 1918 Elisabeth an Nationalrat Rudolf Gelpke in Basel:

Freund Gelpke,
vorerst einen – nein, viele Grüsse von uns an Sie.
Es ist ein Jammer, die Landwirtschaftliche Schule nimmt
meinen Jungen erst, wenn die Deutsche Gesandschaft ihn empfiehlt.
Wir haben mit dieser nichts zu tun, die kennen mein Kind nicht.
Können Sie da nicht ein Wort einlegen, dass der Junge im April
eintreten könnte? Es wäre ja dumm, wenn daraus nichts würde.
Ein Händedruck
Elisabeth Gräser.

Da kommt der Zusammenbruch in Deutschland. Nun duldet es ihn (Gräser) nimmer in der Schweiz, er muss zu den Deutschen und helfen retten, was an Menschentum zu retten ist. Seine Gattin begleitet ihn, sie kann ihre Kinder (das jüngste ist mittlerweile 2 Jahre alt) wohl allein lassen. Kann sie doch von ihren Kindern sagen, dass noch keines das andre geschlagen hat. Die 17jährige Dora ist ein gutes Hausmütterchen und Allander mit 20 Jahren ein guter Beschützer.

Jul Glemser, Göppingen, an Professor Auguste Forel, Yvorne, 28. 4. 1919


Maria bei Elisabeth, Elisabeth bei Maria.

Frau Hesse und Frau Gräser in Ascona

Hermann Hesse an Emil Molt, 27. 3. 1919:

Daß ich nicht nach Ascona oder in jene Gegend will, liegt daran, daß in Ascona im letzten Herbst meine Frau bei Freunden war und dort ihre ersten Anfälle hatte. Ich kenne dort zuviel Leute, und habe an diese Gegenden monatelang mit so viel Sorge, Schrecken und Hoffnungslosigkeit denken müssen, daß dieser liebe Winkel mir fürs Erste nur schlimme Mahnungen böte. Darum will ich bei Lugano zu suchen anfangen.

HH an Schwarzenbach, 4. 8. 1919:

(Erfahre von) meiner Frau, daß sie im September nach Ascona ziehen will. Damit sinken jene mir seit 15 Jahren so lieben Gegenden wohl vollends für mich unter.

HH an Schwarzenbach, 15. 9. 1919:

Meine Frau ist im Umzug begriffen, das Haus in Bern ist leer ... Aber daß sie mir Ascona, meine Lieblingsgegend und Zuflucht seit 13 Jahren, wegnimmt, das versteht sich von selber.

HH an Josef Bernhard Lang, 25. 9. 1919:

Der gesamte Hausrat meiner Frau, unser ganzer Besitz, ist auf der Bahn und war nach Ascona aufgegeben, wo er vielleicht schon ankam. Ob meine Frau dort einen Vertrauensmann hat, weiß ich nicht, sie hat mir über ihre dortigen Pläne und Verhältnisse alles verschwiegen, und hat von den Ratschlägen, die ich ihr für Ascona gab, keinen befolgt. Ich weiß nur, dass sie mit einer Frau Gräser dort in letzter Zeit befreundet war. … Schließlich entsteht die Frage, was aus unsrem Hausrat und aus dem kleinen Haus, das meine Frau in Ascona besaß, werden soll?

Briefwechsel mit seinem Psychoanalytiker Josef Bernhard Lang, Frankfurt/Main 2006, S. 105

Vater (Hermann Hesse) war im Frühjahr 1919 allein ins Tessin gezogen. Im Sommer 1919 zogen Mutter, Heiner und ich auch fort. Mutter (Mia Hesse) hatte in Ascona ein Haus gekauft und wollte mit uns dorthin. … In Baden machten wir einen Aufenthalt bei Onkel Hans und Tante Frieda, dann reisten wir nach Ascona, wo wir von Frau Gräser und ihrer Kinderschar empfangen und ins Haus begleitet wurden. Mutters Haus, auf der Collina, ist sehr schön gelegen, mit großem Garten und Blick auf den See hinab. Es heißt ‚La Cascina’.

Bruno Hesse: Erinnerungen an meine Eltern. Ochenschwand o. J., S.5f.

HH an JBL, 23. 10. 1919:

Ihr (Mias) Bruder verwaltet ja doch ihr Vermögen und wird größere Dummheiten zu verhindern suchen. Jetzt will er z. B. die Freundin meiner Frau, die mit deren Willen und Wissen in ihrem Häuschen sitzt, dazu zwingen, einen Zins zu zahlen, was sicher gegen den Willen meiner Frau ist, also schon eine Bevormundung bedeutet. Ich mische mich nicht hinein. (Bw. Lang 117)

JBL an HH, 27. 10. 1919:

Dadurch dass Bernoulli mit der Frau Gräser in Ascona wegen der Wohnungsmiete verhandelt, so hat er gezeigt, dass er die geschäftliche Seite des Hauskaufs etc übernimmt. (ebd. 118)

HH an JBL, 30. 11. 1919:

Es kamen mir ein paar Notizen über den Sommer 1918 wieder in die Hand, wo die Sache bei meiner Frau begann. Ich sah erst wieder, wie schauerlich jene Zeit war! Nein, das darf nie mehr wieder kommen. Ich war kurze Zeit gestern so böse auf meine Frau, dass ich ihren Tod wünschte. (ebd.138)

HH an JBL, Ende Dezember 1919:

Von Locarno bin ich längst zurück, es war hübsch, doch hat die Besichtigung des Hauses meiner Frau und die Sorge, was aus ihr werden soll, mich sehr umgetrieben. (ebd.153)

Aline Valangin, die erste Frau von Rosenbaum, kommt 1919 hierher (nach Ascona) und lernt die Elisabeth bei der Frau Hesse kennen. Wurde von der Gemeinde versorgt. [Wer – Frau Elisabeth oder Frau Hesse?]

Mitteilung von Harald Szeemann, Juli 1977


Gusto Gräser wurde 1919, seine Frau 1921 aus Ascona ausgewiesen.

Harald Szeemann: Monte Verità. Mailand 1978, S. 31


Gräser kam (aus seinem Vortrag in München, April 1919), und wir fingen an, ihn zu verspotten; grob, gemein und absichtlich verletzend stichelten wir auf ihn ein. Er murmelte bloß ab und zu ein sanftes Wort.

„Also, bitte Natur! Natur, Herr Nachbar! Morgen bitte Lager nehmen im Englischen Garten!“ sagte ich zuletzt fast drohend, und endlich gingen wir. Erst nach zwei Tagen räumte Gusto Gräser das Feld. Man sah ihn in der Stadt herumlaufen. Stets verfolgte ihn ein Rudel Kinder. Wir erfuhren, dass er sich in einem Ziegenstall eingenistet hatte.

Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. München 1965, S. 469


Seit 3 oder 4 Wochen ist der Mann in München, die Frau allein in Stuttgart. Sie geht in die Paläste und Hütten. Merkwürdigerweise: In der unruhigen Streikzeit wohnte sie in einem der reichsten Paläste auf der Reinsburg, ging tagsüber unter die aufgeregten Arbeiter auf dem Schlossplatz und konnte zu ihnen reden und sie beruhigen. Doch wirkliche Teilnahme findet die Frau bei den „Reichen“ kaum.

Nun im 7ten Monat reicht das Geld den Kindern nicht mehr. … Die Kinder sollten Rechnungen von 400 frs bezahlen und hatten keinen Rappen. … So machte ich mich ganz energisch auf die Suche nach Geld und konnte nach 2 Tagen, die mir zur Verfügung standen, der Frau Gräser 200 Mk einhändigen. Eine Gönnerin ließ den Kindern nachträglich, wie ich heut erfahre, 100 frs aus eigenem schweizer Guthaben überweisen. … Die Kinder müssen Geld bekommen. Die Mutter will doch auch wieder und zwar bald nach Ascona. Wenn die Schulden nicht bezahlt werden, dann schieben sie die Kinder einfach über die Grenze, und die Mutter darf gar nicht mehr in die Schweiz.

Jul Glemser, Göppingen, an Professor Auguste Forel, Yvorne, 28. 4. 1919


Drollig war der Einfall meiner Mutter, als Vater in Wertheim an Main in einem Rondellhaus eine Zeit wohnte, ohne sein Wissen uns 3 Mädchen ihm stillschweigend, ohne sich blicken zu lassen, in das Doppelbett zu legen. Ich war [1920] gute zehn, Heidi gute sieben, Lotte gute drei. Nun kam Vater und fand die Überraschung seiner Früchtchen. Es ging dann einige Wochen, aber dann war's Vater zu viel, und er wollte uns in Darmstadt ins Kinderheim liefern. Das muss aber meine Mutter spitz bekommen haben und erlöste uns wieder – unter ihre Fittiche.

Gertrud Heinze-Gräser an Hermann Müller, 1. August 1984


Der eigentliche Begegnungsort der Stuttgarter Subkultur war das ‚Alkoholfreie Volkshaus’ der Württemberger Guttempler in der Friedrichstr. 39. So berichtet Alfred Daniel in einem Brief vom März 1921:

„Heute Abend war ich im Volkshaus … Nach einiger Zeit kamen ½ Dutzend Haeusserleute zu mir an den Tisch, gleich darauf Frau Elisabeth Gräser mit 2 ihrer Töchter.“

Ulrich Linse: Die Aussteiger der zwanziger Jahre. In: Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Stuttgart 1983, S. 234


Einmal traf ich (bei meinem Vater Martin Buber) eine Mutter mit 7 Töchtern, die allesamt zur Natur zurückgekehrt waren. Sie kleideten sich in wallende Gewänder und ließen ihre langen, aufgelösten Haare im Winde wehen. Die Mutter und die älteren Töchter trugen um den Hals ein Band, an dem eine Haselnuss hing, als Symbol der Fruchtbarkeit. In der warmen Jahreszeit pflegte diese Familie von Ort zu Ort zu pilgern und sich ihre Originalität durch Kost und Unterkunft bei den Anhängern der Jugendbewegung bezahlen zu lassen. Auf diese Weise lebten sie wie die Lilien auf dem Felde.

Margarete Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stuttgart 1957, S. 29


Als ich 1920 in Berlin studierte, begegnete ich dem zwanzig Jahre älteren (Gusto Gräser) zum erstenmal. Hochwüchsig stand er da mit schöngewelltem braunem Bart und langem Haupthaar, eine in den rauschenden Zug nicht passende Erscheinung. Die Damen hefteten an ihn, der sehr männlich aussah, freundliche, sogar unverhohlen brünstige Augen, wenn ihn seine Frau und seine Kinder, ebenso wüstenhaft gewandet, nicht begleiteten. Genauer gesagt: sie begleiteten ihn nie; sie liefen hinter ihm her, die kleinen Töchter mit Kränzchen im Haar. Wie in der Urzeit der Mann durchs Dickicht brach, die Brut ihm nachtrottete, so schritt er über den Kurfürstendamm, hinter ihm Weib und Sprösslinge.

Heinrich Zillich: Meine Erinnerungen an Gusto Gräser. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 13. Jg., Folge 4, München 196, S. 200


Ein Brief von Gräsers Stieftochter Theodora an ihre Mutter Elisabeth Gräser-Streng:

Sarajewo, 28. 1. 31

Liebe Mutter, Ihr Lieben Alle!

Du wirst Dich wundern, liebe Mutter, dass ich Dir so lange nichts senden konnte. Ich hatte über 2 Wochen keine Einnahme, wir waren in den hohen Schneebergen, da waren kaum einige Häuser. Über Weihnacht waren wir auch zwischen hohen Bergen, unser Motor machte uns dazumal viel Arbeit, durch die Frostnächte war er so erkältet und war er mit Tó’s grohser Mühe 2 Tage nicht von der Stelle zu bekommen …

Wie Du schreibst, ist Heidi1 jetzt wieder bei Euch. …

Wenn ich Euch raten sollte, so würde ich sagen, fahrt doch einmal alle nach Holland, lasst Euch einen Spruch oder Gedicht in der dortigen Sprache drucken. Ich bin überzeugt, dass Heidi allein so viel hätte, was Ihr drei2 zum Leben braucht. Holland ist ein reiches Land, hat keinen Krieg gehabt, die Sprache wird Heidi schnell erlernen. Ich verstehe nicht, dass Ihr immer in dem schlechten Deutschland bleibt. Es könnte Euch doch wo anders viel besser ergehen. Lass Vater machen, was er will, hat er noch Lust, in dem alten Krampel weiter zu wurschteln oder zum Leben zu kommen, ist er doch alt genug, um die Folgen endlich zu erkennen. –

Liebe Mutter, Du hast gar nicht nötig, allein Dich auf zu machen. Heidi ist willig und wird Dir eine gute Hülfe sein. In der Schweiz hatte sie doch auch guten Erfolg. Deutschland ist eben der ungünstigste Boden für Idealisten. –

Wenn Ihr nach Holland kommt, da ist auch der Dichter Scharlaholm, Du kennst ihn ja. – Wenn Vater ein bisschen Mut hätte, könntet Ihr als geschlossene Familie viel machen. - …

Habt Ihr die Zeitung mit unserem Bild aus Sarajewo erhalten?? –

Hier hatte ich auch einmal Schwierigkeiten. In einem Geschäft traf mich so ein Dätta und meinte, dies sei verboten. Ich ging mit ihm und bekam ein Verbot. Ich liehs die Sache nicht ruhn und ging bis zum Polizei Direktor vor. Dieser sprach deutsch, war freundlich und meinte, es sei zwar seit einigen Wochen ein Verbot für den Verkauf herausgekommen. Doch machte er bei mir eine Ausnahme und beim Gehen gab er mir noch, zu meinem Schreck, einen Handkuss. …

Ich kann die Schrecken nicht mehr mit machen, da geht einem das Herz kaputt. Es ist genug, wann es einer erlebt. Tó behält ja bei allem die Ruhe und ihm macht es weniger. – Sonst geht es uns gut …

Was macht Lottchen3? Warum schreibt sie nicht, sie hat doch sicher viel Zeit. –

Die Schweiz wäre für Heidi ja auch gut, doch waren wir da ja fast überall, Holland ist wohl besser. Schon allein in dem grohsen Amsterdam könntet Ihr lange bleiben. Was hat Heidi denn zum Verteilen?? Ich habe nur unser Auto, Foto, und komme als Weltreisender. – Was wir brauchen, habe ich immer … Theodora


Elisabeth ihrem Sohn Alexander (gen. Allander) zum Geburtstag:

Schleswig d. 1. Juli 1934 - Geburtstag 16. Juli 1934

Meinem lieben Sohn von seiner Mutter.
Eines Morgens
ward von meinem Herzen losgelöst
mein Ebenbild – Du, mein Kind!
Es lag in meinen Armen
ein Knäbelein so lieb und fein,
ich durfte seine Mutter sein.
Seine großen dunklen Äugelein,
die glänzten wie der Sonnenschein.
Seine Häärlein hatte Gott so lieblich gemacht,
sein kleines Mündchen hat mich angelacht.
Eine große Freud ward mir zugleich,
mir war’s, ich wär im Himmelreich.
Und Mutter, Mutter hört ich’s schallen:
mein erstes Kind ---
Ein Dankgebet hat meine junge Seel
erfüllt.
Deine Mutter.

Elisabeths Tochter Theodora aus erster Ehe schreibt am 4. April 1949 aus Cordoba, Argentinien, an ihre Halbschwester Gertrud in Berlin-Wandlitz:

Nun hat Mutter am 9. 4., schon ihrem 74. Jahrestag, allerhand auf den Schultern, sie ist noch rüstig und immer fröhlich, sie lässt sich durch nichts unterkriegen. Sie ist jetzt in Cordoba ausserhalb auf einem schönen Gut, bei lieben sehr reichen Schweizern, wo sie sich sehr wohl fühlt. Sie pflegt das kleinste Mädchen von 2 ½ Jahr, sie ist dort wie zuhause. Sie schrieb mir („ich könnte nirgends besser sein als hier“).



Um 1940 (?) in Argentinien (?) Um 1950 als Kindermädchen in Argentinien

Elisabeths Tochter Waltraud aus der Verbindung mit Gusto Gräser schreibt am 18. Mai 1952 aus Alta Gracia-Cordoba an ihre Schwester Gertrud in Berlin:

Mutter ist kurz vorher von dort [gemeint ist das Gut ‚Jesus Maria’] weg, weil sie ihr mit der Polizei für nichts u. wiedernichts drohten u. ihre Familienverhältnisse breittreten wollten, falls sie nicht ginge, sie räumte freiwillig das Feld …


Wilhelmine Elisabeth Braumann, geb. Doerr, stirbt am 3. März 1955 in den Armen ihrer Tochter Heidi in Reinach bei Basel.

*  *  *  *  *

Gusto Gräser an seine Tochter Heidi am 21. April 1955:

O Heidi du und Mütterchen und Reinhardlein,

das ging nun so schön wie möglich zu – bei Kind und Enkel so abfalln vom Lebensbaum wie eine Pflaum, mit ihrem Kern, der reif dazu, mild einzugehn, tieftiefer wie sie ging, als sie am Baum noch hing, in ewge Ringeruh …

Jah, das ging schön ---

Wir müssen, wolln wir leben,
wie Athemluft verwehn – ins Ganze einverschweben,
ins ewge Allgeschehn - - -
Was wär, was wär uns eine Welt, die immer steht und nimmer fällt,
was wär, was wär uns Erde
ohn dieses – Stirb und Werde?!
*

Dir, meine geliebte Mutter, habe ich es zu verdanken, dass mein Leben glücklich wurde. Durch Dein Vorbild, durch Deine Liebe lernte ich zu lieben auch diese Menschen, die mir keine Liebe gaben. Alle Menschen, so sagtest Du immer, wollen glücklich werden, wollen geliebt und anerkannt sein, wollen gut sein.

Da sie nicht alle eine so gütige Mutter hatten, kamen sie auf irre Wege, die oft in Unfreiheit und Elend endeten.

Deine dankbare Tochter Heidi

Gedenkblatt von Heidi Christeller- Gräser, o. D. (vermutlich um 1955)


Hier fand ich noch einen Vaterschrieb, so verfolgt einen dies Zeichen, das ich mit 17 Jährchen empfing... Es ist somit das letzte Zeichen seiner Vaterhände... [Brief vom 31. 12. 1927]

Aber was mein Leben bis heute bereichert, zum Blühen, Erkennen brachte: da war der geglückte Zweiklang von Mutter-Vater zum Einklang geworden. Das ist ein Vermächtnis für mich. ... – Blühen, ohne zu fragen, für was, für wen.

Gertrud Heinze-Gräser an Herman Müller, 26. Dezember 1984


Unseren Eltern

Als Kinder konnten wir noch nicht begreifen,
dass Euer Weg Berufung war,
doch mit den Jahren, wie die Früchte reifen,
erkannten wir – und wurden selber klar.
Welch guter Geist gab Kraft Euch, so zu leben?
So treu mit uns den Weg zu gehn?
Der Menschheit schon im Voraus das zu geben,
was als Ideal wir in der Ferne sehn?
Habt Dank, Ihr treuen Eltern, bis ans Ende –
wir tragen's weiter fort in Geist und Tat,
dass aus der Sehnsucht wächst die Wende,
der Ihr bereitet habt die Saat.

*
Schick dich darein, mein Mütterlein,
du bist ja schon im Äther,
ich bin noch hier, hab gute Weil’
und komme etwas später.
Und kommt einmal die Stunde,
so bin auch ich bereit
und fliege mit der Liebe
auf in die Einsamkeit.

                           Gertrud Heinze-Gräser

1 Ihre Schwester Heidi, die zweite eigene Tochter von Gräser, geb. 1913. Sie starb 2007 in einem Altersheim bei Basel.

2 Gemeint ist ihre Mutter Elisabeth Gräser-Streng und ihre Schwestern Heidi und Lotte. Die dritte und älteste (eigene) Gräsertochter, Gertrud, hatte sich zu der Zeit mit ihrem Lebensgefährten Henri Joseph auf dem Roten Luch bei Berlin angesiedelt, einem Landgut, das sie „Grünhorst“ tauften.

3 Die jüngste Tochter von Gusto Gräser, geb. am 5. September 1916 in Ascona.


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