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LAS AFINIDADES AFECTIVAS DE LA MELANCOLÍA Y LA MODERNIDAD
de Jorge Márquez Muñoz

(Max Weber en Ascona, Spanisch / Español)                                 PDF

Hinweis: Monte Verità, Erotik und Spiritualität:
Die Soziologen Max Weber und Winfried Gebhardt über  die Anachoreten von Ascona, 1994 und 2005




Odysseus auf Ogygia

Max Weber in Ascona

Sein Lebensschicksal entschied sich in Ascona. Eros durchbrach den eisernen Panzer von Webers Puritanismus, aber um den Preis seines Lebens.

Am 4. November 1918, wenige Tage vor Ausbruch der Revolution, diskutiert Max Weber in München mit Revolutionären, Pazifisten und Anarchisten. Erich Mühsam und Max Levien, zwei Protagonisten des kommenden Umbruchs, befinden sich unter den Zuhörern. Man hat sich in der Wohnung des jüdischen Psychiaters Erich Katzenstein getroffen. Katzenstein ist mit Ernst Toller befreundet; nach der Niederschlagung der Räterepublik wird er sich nach Ascona flüchten. In seiner Wohnung hatte Toller 1917 die ersten Szenen aus seinem entstehenden Drama 'Die Wandlung' vorgelesen. Im Jahr darauf war Toller häufiger Gast bei den Webers in Heidelberg gewesen.

Als Nachwirkung der Lauensteiner Tagung beteiligten sich im Winter 1917-18 einige sozialistische und pazifistische Studenten an Webers Sonntagen. Sie sind durch das Kriegserlebnis bis in die Wurzeln erschüttert. Ernst Toller ist darunter. Er wird zutraulich und bringt eigene Gedichte, die er vorliest. Die Zuhörer werden bewegt von dem Hauch einer reinen Seele, die an die ursprüngliche Güte und Solidarität der Menschen glaubt und glaubt, daß es möglich sei, die auf Befehl ihrer Regierungen einander mordenden Völker zum Fortwerfen der Waffen zu bringen. (L 613)

Er liest auch bei Webers aus seinem Drama vor, das er früher schon im Hause Katzenstein vorgestellt hatte. Nanette Katzenstein, genannt Tessa, wurde die engste Vertraute Tollers, seine Briefpartnerin und Helferin, während er in Niederschönenfeld seine Festungsstrafe abbüßt. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wird sie ihn in Ascona empfangen. In den Wäldern und Bergen um den Lago Maggiore wird der gequälte Dichter die Last der finsteren Jahre von sich abschütteln, wird in vollen Zügen die Luft der wiedergewonnenen Freiheit atmen. Der hochgeachtete Professor aus Heidelberg hatte durch seine Aussage im Hochverratsprozeß ein schlimmeres Urteil abgewendet.

Max Weber - ein Revolutionär und Anarchist? Oder doch zumindest ihr Sympathisant?

Schon 1907 hatte er mit dem holländischen Anarchisten Ferdinand Domela Nieuwenhuis korrespondiert1, der damals die Kolonie in Ascona besuchte. Auch mit dem Chronisten der anarchistischen Bewegung, Max Nettlau, hatte er zeitweise in Verbindung gestanden2. Schließlich kommt Weber, in den Jahren 1913 und 1914, selbst nach Ascona. Monatelang bemüht er sich als Helfer und juristischer Beistand für zwei Galionsfiguren der 'erotischen Revolution': Frieda Gross und Franziska zu Reventlow. Zusammen mit dem Anarchisten Raphael Friedeberg verteidigt er das Mutterrecht dieser Frauen und zugleich den neuen Liebhaber von Frieda Gross, den wegen Bombenattentaten gerichtlich verfolgten Anarchisten Ernst Frick, einen Freund und Gesinnungsgenossen von Otto Groß.

Max Weber - ein Vorkämpfer der freien Liebe und des sexuellen Immoralismus?

Ganz im Gegenteil. Seine Mutter, einem Hugenottengeschlecht entstammend und calvinistisch geprägt, hatte ihm "ohne Worte ... nur durch die heilige Reinheit ihres Wesens, unzerstörbare Hemmungen gegen das Triebleben eingepflanzt". Er wird ein verschlossener Mensch; Gefühle zu äußern fällt ihm schwer. Max Weber, Sohn eines liberalen Reichstagsabgeordneten, wurde das Musterbild eines Wissenschaftlers, ein Historiker und Nationalökonom von eherner Schaffenskraft und Disziplin. Seine Grunderfahrung spiegelt sich in der Theorie des Kulturhistorikers: Den Weg der Moderne sah er als den Prozeß einer fortschreitenden Rationalisierung und damit Entzauberung der Welt - einen Weg, den er bejahte, für unvermeidlich ansah und zugleich gequält als zunehmende Gefangenschaft in einem "stählernen Gehäuse" erlebte. Aus der selben Wurzel entsprang seine berühmt gewordene Analyse, daß der moderne Kapitalismus aus dem religiös gebotenen Triebaufschub des Puritanismus geboren sei.

Daß die unterdrückten Kräfte revoltierten, erfuhr er am eigenen Leibe, in einer persönlichen Katastrophe. Ein neurotischer Zusammenbruch machte den vitalen, rastlos schaffenden Mann zum arbeitsunfähigen Invaliden. Sieben Jahre lang konnte er nur noch sehr eingeschränkt reden und schreiben, dämmerte zeitweise tatenlos vor sich hin. "Er war immer schon stark angespannt, immer schon emotional impotent den Menschen gegenüber gewesen, die ihm am nächsten standen, und sexuell impotent war er bei seiner Frau. Nun war seine Impotenz vollständig." (Green 139)

Als der hochbegabte Wissenschaftler begann, wie ein Kind aus Ton kleine Püppchen zu kneten, war der erste Schritt zur (teilweisen) Wiederherstellung seiner Schaffenskraft getan. An seiner grundsätzlichen Einstellung, seiner hart realistischen Vernünftigkeit und "innerweltlichen Askese", hatte die Krankheit zunächst nichts geändert. Sie änderte sich auch nicht, als um 1906 von außen, von Ascona und Schwabing her, die unterdrückte Lebensmacht des Eros in seinen nächsten Freundeskreis einbrach.

Seine Frau Marianne erinnert sich:

Ein junger Psychiater, Jünger S. Freuds, umkleidet vom Zauber der Genialität des Geistes und Gemüts, hatte bedeutsamen Einfluß gewonnen. Er ... verkündete einen sexuellen Kommunismus ... Eifersucht ist gemein. So gut man mit mehreren Menschen befreundet ist, kann man auch mit mehreren gleichzeitig geschlechtlich verbunden und jedem "treu" sein. ... freie Liebesbünde werden die Welt erlösen. (Lebensbild 376f.)

Gesetz, Pflicht, Askese, alle diese Vorstellungen stammen ja doch aus der Verteufelung des Geschlechtlichen durch ein Christentum, dem man entwachsen ist. Besser ist sein Schicksal ganz aus der eigenen Natur gestalten, sich von heißen Lebensströmen durchbrausen lassen und dann die Folgen tragen. (L 373f.)

Gemeint ist Otto Groß und sein Kreis. "Moderne Strömungen" - sie kommen von Ascona und Schwabing her - "fluten von draußen an das gastliche Ufer der kleinen Stadt" Heidelberg, erschüttern "die festgefügten Gehäuse der älteren Generation" (L 373). "Jüngerinnen der 'neuen Ethik' karikieren in Vorträgen an die studentische Jugend beiderlei Geschlechts Keuschheit als Mönchsmoral, die Ehe als staatliche Zwangseinrichtung zum Schutz des Privateigentums. Sie fordern das Recht auf 'freie Liebe' und das uneheliche Kind" (L 376). Für Max Weber ist das "grober Hedonismus und eine Ethik, die nur dem Mann zugute käme ... einfach Quatsch" (L 376). Aber zwei den Webers sehr eng verbundene Frauen, die Schwestern Else und Frieda von Richthofen, werden Geliebte von Groß und Jüngerinnen seiner erotischen Botschaft. Else, eine ehemalige Schülerin von Max Weber, bringt ein Kind von Groß zur Welt. Und Weber übernimmt die Patenschaft.

Die Webers sind "leidenschaftlich mitergriffen", zugleich aber "innerlich zerrissen von Entsetzen, Abscheu" gegen diese "Entweihung der Monogamie" (L 377). "Endlose Auseinandersetzungen mit den Anhängern der psychiatrischen 'Ethik' finden statt (L 378). "Das ethische Ideal der Einehe" bleibt für sie unverrückbar bestehen. Beide kämpfen leidenschaftlich gegen die "Utopie der freien Liebe". Ein Aufsatz von Groß für Webers Zeitschrift wird mit emotional geladener Kritik abgeschmettert. In einem langen Brief an Else von Richthofen-Jaffé sucht er seine ehemalige Schülerin von der Unhaltbarkeit der Großschen Theorien zu überzeugen.

Und doch ist Weber, nach den Beobachtungen seiner Frau, "stark interessiert an den Wirkungen der Norm-entbundenen Erotik auf die Gesamtpersönlichkeit" (z. n. Schwentker 672). Mehr als das: 1909 entdeckt er in Venedig seine Gefühle für Else, die Ex-Geliebte von Groß, die mit seinem Kollegen Jaffé verheiratet ist, sich aber zunächst seinem Bruder Alfred zuwendet. Dafür gelangt Max einige Jahre später mit der Pianistin Mina Tobler, wie Green zu wissen glaubt, "zum ersten Mal zu erotischer Erfüllung". (Green 153)

Der Kriegsaubruch versetzt den entschiedenen Nationalisten und Realpolitiker in patriotische Hochstimmung. Dem jungen Philosophen Ernst Bloch, der in seinem Hause verkehrt, präsentiert er sich in der Uniform des Reserveoffiziers. Den Kriegsgegner Bloch zieht es nach Ascona, in die Fluchtburg der Pazifisten aller Länder. Sein Gastgeber aber weist noch 1916 die pazifistische Position mit dem Argument zurück, es gebe nur die Anerkennung der Gesetzlichkeit dieser Welt, die auch den Machtkrieg einschließe, oder aber "die Konsequenz Tolstois, sonst nichts". (Z. n. Roth in L XXXV)

Die Konsequenz Tolstois - was ist das? Darauf antwortet Weber in einem Brief zu den Aufrufen von Ernst Toller. Für ihn gebe es nur ein Entweder-Oder: "Entweder dem Übel nirgends mit Gewalt widerstehen, dann aber: - so leben wie der heilige Franz und die heilige Klara, oder ein indischer Mönch, oder ein russischer Narodnik. Alles andere ist Schwindel oder Selbstbetrug. Es gibt für diese absolute Forderung nur den absoluten Weg: den des Heiligen. Oder: dem Uebel mit Gewalt widerstehen wollen, weil man sonst mitverantwortlich ist." (Z. n. Lebensbild 614)

Die Konsequenz Tolstois - war das nicht Ascona? Dem Übel nirgends mit Gewalt widerstehen - war das nicht der Weg Gusto Gräsers? Der aber doch nicht lebte wie der heilige Franz oder der späte Tolstoi, nicht in asketischer Enthaltsamkeit. Daß es eine Heiligkeit geben könne, die den Eros nicht ausschließt sondern bejaht und feiert, war für Weber nicht vorstellbar. Aber eben dies war die Botschaft Asconas.

Weber hat den urchristlichen Gewaltverzicht als individuellen, gesinnungs-ethischen Weg immer anerkannt, ja, hoch geachtet - aber er konnte ihn nur als Askese und Weltverzicht sehen, nicht, wie der Monte Verità, als eine Konsequenz von Weltliebe und Lebensbejahung.

Was zog ihn an den Ort seiner Antipoden? In den Jahren 1913 und 14 hielt Weber sich monatelang in Ascona auf. Auf der bewußten Ebene ging es darum, der Frau von Otto Groß, die dort mit dem Anarchisten Frick zusammenlebte, mit juristischer Hilfe beizustehen. Es ging darum, ihr das Sorgerecht für ihr Kind, den Sohn von Otto Groß, zu erhalten gegen die Ansprüche des Kriminalprofessors Hans Groß, der den eigenen Sohn hatte entmündigen lassen. Zugleich ging es um Rechtshilfe für Ernst Frick, den Geliebten von Frieda, der wegen eines Attentats in Zürich im Gefängnis saß. "Auch er hat den religiösen Glauben an die eifersuchtsfreie Zukunfts-gesellschaft der wirklich 'freien' - innerlich befreiten - Liebe", schreibt Weber an seine Frau Marianne.

Auch Marianne war kurzfristig mit nach Ascona gekommen. Trotz ihrer moralischen Abwehrhaltung ist sie beeindruckt von dem Ort, der "seltsamen Menschen Zuflucht gewährt, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft geschieden haben ..., die hier ... die Zelle einer neuen Weltordnung bilden wollen. ... Sie stellen hier ihr Dasein ganz auf ihre Ideale: vor allem Freiheit von jeder überlieferten Norm - leben in Armut und Ungeborgenheit und tauschen dafür Außeralltägliches ein, das seelische Abenteuer, den Kampf um Selbstbehauptung in einer Existenz voll Bedrängnis aller Art." (L 494)

Nicht nur Frick und Frieda sind bedroht von den staatlichen Mächten, auch Franziska zu Reventlow, die ihren Sohn vom Militärdienst in Deutschland befreit sehen möchte. Weber bemüht sich auch darum, wenn auch, wie er selbst schreibt, "mit schlechtestem Gewissen" (L 497). Sein Nachsatz verrät, wie sehr er gegen die eigene Überzeugung handelt: "Hoffentlich führt es zu nichts und muß er doch dienen." (Ebd.)

Im folgenden Jahr ist ihm der Monte Verità schon zur zweiten Heimat geworden. Am 9. April 1914, auf dem Weg nach Ascona, schreibt er aus Zürich an seine Frau: "Jetzt geht es nun gleich wieder 'heim'. Wenn ich diese Welt voll Zauberweiber, Anmut, Tücke und Glücksbegier so nennen soll" (L 498). Und dann, in Ascona angekommen, beschwingt und fast schon poetisch:

Das Wetter ist herrlich, voller Frühling, alles in Blüte und Grün. Gestern abend war hier die Osterprozession mit Lampions, getragenen Christusbildern usw. Alles mit Lichtchen und Lämpchen illuminiert, lebende Bilder der Verkündigung auf der Straße vor dem Café - dabei Vollmond! Es war zauberhaft. Alles so gänzlich anders, als am Zürichsee. Dort 'Kultur'. Die kleinen Häuschen im grünen Wiesenplan hoch bis in die Berge hinan, in alle kleinsten Falten sich hineinschleichend, überall hin das Menschenherz mit seiner Not und seinen Freuden tragend, und dann im Hintergrund die hohen Bergriesen. - Hier die Dörfer droben angeklebt als ein Stück der Natur. Die Menschen offen wie diese - und ebenso verschlossen wie diese, nicht über sich hinaus weisend - auch schön, nur weniger menschlich, ohne Intimität wie ein nackter Akt, - so wie das Leben der hiesigen Menschen auch. Hintergrundlos, aber nicht ohne Stolz und Form. - Ja, ich habe gewiß Sympathie für Dora [Frieda Groß], weil sie so geblieben ist, aber in dieser Luft könnte ich nicht lange atmen. ... Es umarmt Dich Dein in sonderbare Fabelwelten verschlagener Max." (Z. n. L 498f.)

In dieser Luft könne er nicht lange atmen - nicht, weil sie ihn abstieß, so steht zu vermuten, sondern weil sie ihn unterschwellig bedrängte. Worte wie "Zauberweiber", "Fabelwelten", "Anmut, Tücke und Glücksbegier" sprechen für sich. Sie sprechen für eine sinnverwirrende Berauschung, der er sich zu erwehren hat. Selbst die Intimität eines nackten (Liebes-?)Aktes drängt sich ihm als Bild in die Feder. Das Wort "Zauberweiber" ist besonders bedeutsam. Macht es doch klar, daß der Mann, der "Entzauberung" als das Grundphänomen der Moderne entschlüsselt hat, in Gefahr ist, der Wiederverzauberung zur Beute zu fallen. In einem anderen Brief aus Ascona läßt er ungetarnt erkennen, daß er sich von verführerischen Nymphen verfolgt fühlt.

Heute in aller Früh ging ich auf das Delta - es war bei verhängtem Himmel und umwölkten dunklen Bergen in seinem Schmuck ganz unglaublich eindrucksvoll. Die Bäume sind jetzt nicht mehr nur linienhaft, ... die Wiesen voller Blumen; rundum die rote Pfirsichblüte, der Flieder im Aufblühen. Aber hinter mir schlich die Nymphe Kalypso im goldenen Gewande aus der gewölbten Grotte ihres Palazzo, - ihr zu entgehen, denn sie paßt nicht da hinein, ging ich schneller, dann rechts abseits, dann links abseits - schließlich sah sie wohl, daß Odysseus nicht zu haben war. (Z. n. L 500)

Was für ein Frontenwechsel! - scheinbar -- oder tatsächlich? Der erklärte Rationalist, Patriarch und Nationalist, der Antierotiker und Machtpolitiker zumal, in der Burg seiner Antipoden, im "Paradies der freien Liebe", helfend, gewissenhaft und mit ganzer Kraft sich einsetzend gegen die Instanzen und Werte, die er selbst so hervorragend verkörperte! Nach dem Zeugnis seiner Frau opferte er monatelang seine Arbeitskraft für Gutachten und Prozeßschriften zugunsten der von ihm beschützten Askonesen, stellt dafür seine wissenschaftlichen Arbeiten zurück, ja, er findet nicht einmal die Zeit, den siebzigsten Geburtstag seiner Mutter mitzufeiern. (L 494)

Die menschenfreundliche Hilfsbereitschaft, die ethische Grundeinstellung des Professor Weber sind nicht zu bezweifeln. Aber soviel selbstverleugnender Altruismus - ist er nicht ein wenig verdächtig?

Ein Detail in den Briefen von Weber muß stutzig machen. Er schreibt seiner Frau aus Ascona:

Als ich gestern von der Post kam, trat mir an der Tür meines Hauses hier eine blonde Frau entgegen, mit einem blonden und einem dunklen Kind - natürlich Dora [Frieda Groß]. Wir haben uns Guten Tag gesagt, sie hat mir von der Gräfin erzählt und dann von ihren Kindern. Sie wohnt weiß Gott in meinem Hause. (Z. n. L 494)

Er kommt nach Ascona und kennt die Adresse von Frieda Groß nicht! Er ist überrascht, unangenehm überrascht, daß sie im selben Haus wie er selbst wohnt! Jene Frau, der zuliebe und der zu helfen, wenn man der Darstellung von Marianne Weber glauben will, er überhaupt nur dorthin gefahren ist! "Ihr jetziger 'Mann', der Anarchist, sitzt noch in Zürich im Gefängnis", schreibt Weber weiter. "Sie ist allein und bedarf der Aussprache." (Z. n.L 495)

Das hört sich doch so an, als sei Weber eher zufällig mit Frieda in Ascona zusammengetroffen und habe erst dort von ihren Nöten und Sorgen gehört. Frieda kann also kaum die Auslöserin für seine Ascona-Reise gewesen sein. Wer aber sonst?

Ein anderer Brief an Marianne könnte Auskunft geben. Da berichtet er im April 1914 aus Zürich von einer Fahrt über den See zu der Insel Ufenau mit einem "in seiner distanten und zart schwärmerischen Art so 'nobel' wirkenden Kinde" (z. n. L 498). Dieses "auch physisch so anmutig(e) und resolut kräftig(e)" 'Kind' (Weber z. n. Fügen 99) ist niemand anders als die damals vierunddreißigjährige Pianistin Mina Tobler (1880-1967).

Daß eine Frau in der Vollreife ihrer Jahre gegenüber der eigenen Ehefrau so betont als "Kind", als "nobel" und "zart schwärmerisch", ja, übermäßig nachdrücklich gar als "distant" bezeichnet wird, zuguterletzt noch als "eine Art von Oase der Reinheit" (z. n.L 498), spricht eigentlich für sich. Mina Tobler - wer ahnte es nicht - ist seit 1911 Webers heimliche Geliebte.

Das Ascona von damals kannte noch keinen Tourismusbetrieb. Weber nennt es "ein richtiges dreckiges Italienernestchen" (z. n. L 495). Es gab in dem verarmten Fischerdörfchen noch nicht einmal ein Gasthaus, in dem man hätte übernachten können, kein Hotel. Weber scheint im Hause eines Privatmannes, des Advokaten und Notars Poncini gewohnt zu haben, im selben Haus, das wenige Jahre später auch Hugo Ball zusammen mit Emmy Hennings bewohnen wird. In einem Brief an Marianne beschreibt Weber seine "Bude" in ausführlichster Weise. Er erwähnt "Tisch, Blechwaschtisch, Nachttisch und einige vorweltliche Polsterstühle, elektrische Lampe, uralte Oeldrucke, Spiegel, Kleiderständer, gelbgetünchte Wände", vergißt nicht die "zwei Betten, ein Wandschränkchen" und anderes mehr, auch nicht die "kleine Küche" und "ein W.C. nebst Badezimmer" und summiert seine Beschreibung mit dem vielleicht doch verräterischen Satz: "Also ganz für 'ein glücklich liebend Paar' von hiesigen Naturmenschen." (Z. n.L 495)

Was liegt näher als zu vermuten, daß es dieses "glücklich liebend Paar" tatsächlich gegeben hat? Und daß es, passend zum genius loci, ein wenig Naturmenschen-Sein gespielt hat?

Weber hat tatsächlich ein wenig Naturmensch gespielt. Er "bekehrt" sich in diesen Wochen zu vegetarischer Ernährung. "Morgens esse ich Bisquits und gedörrte Feigen. Man bekommt die Sachen ganz gut in der Handlung für die Naturmenschen. Ich lebe auch sonst von Haferkeks, Datteln, Feigen, Orangen" (z. n. L 495). Er obstfastet eine ganze Woche lang, möchte abnehmen. "Seit heut vor 8 Tagen abends habe ich nur 4 1/2 Kilo Orangen zu mir genommen, 2 Zitronenlimonaden ohne Zucker, 3 Tassen Tee" (497f.). Solche plötzliche "Bekehrungen" bis in Magenfragen hinein erregen wiederum eine gewisse Aufmerksamkeit.

Wir kommen, wenn wir alle Umstände zusammennehmen, um die Vermutung nicht herum: Weber kam nach Ascona, weil das Dörfchen am Lago Maggiore, das "Paradies der freien Liebe", auch für ihn ein heimliches Liebesnest gewesen ist – oder werden sollte. Seine Solidarität mit Heroinen der freien Liebe wie Frieda und Franziska ist von daher nur zu verständlich, war gleichzeitig aber äußerst brauchbar als Deckmantel der Caritas über dem weniger angesehenen illegitimen Eros.

Wir können hier nur vermuten. Die Grundbewegung in Weber jedoch ist nicht zu bestreiten. "Tatsächlich ... nahm Weber mehr von den Schwabinger Theorien auf, als er zugeben wollte, und seine moralischen Forderungen weichen sich ab 1907 merklich und wohltuend auf", schreibt Martin Green (z. n. Voswinckel 9). Seit 1907 schon entwickelt er eine Neigung zu der Groß-Geliebten Else von Richthofen-Jaffé, stößt aber zunächst in seinem Bruder Alfred auf einen siegreichen Rivalen. 1909 in Venedig erklärt er ihr offen seine Liebe, wird jedoch von Else abgewiesen, wie Green vermutet, aus Rücksicht auf Marianne. Im letzten Jahr seines Lebens wird Weber "von seiner alten Zuneigung zu Else Jaffé überwältigt ... Max verliebte sich wie nie zuvor, in eine Frau von über Vierzig, die er seit zwanzig Jahren kannte. So verfiel er doch noch einer Leidenschaft für eine der 'erotischen Frauen' und 'Zauberweiber', vor denen er sich selbst gewarnt hatte" (Roth in L XLIII). Der Geist von Ascona sprengte den eisernen Panzer von Pflicht, Gesetz und Askese, mit dem Weber sich umkleidet hatte.

Der Widerspruch seines Tuns zu allem, was ihm bisher heilig gewesen war, mußte Weber spalten. Nicht lange nach seiner Übersiedlung in Elses Haus am Münchner Englischen Garten stellen sich Herzkrämpfe ein. An seinem Sterbebett fanden die beiden Frauen, Else Jaffé und Marianne Weber, sich zusammen, als hätten sie erreicht, was Otto Groß als Zielbild aufgestellt hatte: frei von persönlichen Besitzansprüchen an den Geliebten zu sein.

Angehörige berichten, Weber habe sich zerrissen gefühlt zwischen seiner Leidenschaft für Else und der Loyalität, die ihn an Marianne band (Green 253). Doch in Wirklichkeit wußte Marianne nicht um die wahre Natur der Beziehung zwischen Max und Else. Erst kurz vor seinem Tode scheint sie ahnend Klarheit gewonnen zu haben. Weber hatte sich ihr nicht anvertraut und auch sie behielt ihre Ahnungen für sich. Sie wollte ihn weiterhin als den großen Menschen sehen, der seiner "Heldenethik" lebte. Karl Jaspers, sein ergebener Verehrer, bestärkte sie in diesem Glauben: "Max Weber war die Wahrheit selber." (Z. n. Green 201)

Die Wirklichkeit sah anders aus. "Max Webers Leben war in einem wichtigen Punkt unaufrichtig. Seine Liebesgeschichte ist ein verklemmtes Drama voller Verzicht und unfreiwilliger, ethisch edel gemeinter Unaufrichtigkeit" (Green 202). "Deshalb brach für Jaspers eine Welt zusammen, als er nach Mariannes Tod erfuhr, daß Max sein persönliches ethisches Dilemma nicht hatte lösen können" (Roth in L, LVIII). Er hatte in Weber den größten Mann unseres Jahrhunderts gesehen, nun konnte er in seiner Enttäuschung schreiben: "Max Weber hat einen Verrat begangen, an Marianne, an sich selbst, an uns allen." (Z. n. Henrich 26)

Im Gegensatz zu Weber war Otto Groß, sein verachteter Gegenspieler, der Prophet der freien Liebe, keiner Unaufrichtigkeit zu zeihen. In aller Heimlichkeit war der eine ein Schüler des andern, der asketische Heidelberger ein dionysischer Asconese geworden. In seinen letzten Lebensjahren konnte für Max Weber, nach seinen eigenen Worten, "das außeralltäglich gewordene, speziell also das ehefreie, Geschlechtsleben als das einzige Band erscheinen, welches ... den Menschen noch mit der Naturquelle alles Lebens verband. ... Allem Sachlichen, Rationalen, Allgemeinen so radikal wie möglich entgegengesetzt ... weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt" (z. n. Fügen 121f.). In seiner Leidenschaft für Else fühlte sich Weber nach einem bewußt der Wissenschaft geweihten Leben "den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ... entronnen" und aufgenommen in eine "Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als ein Schwinden des 'Du' gefühlt wird und so überwältigend ist, daß sie 'symbolisch': - sakramental - gedeutet wird". (Z. n. Raub 30f.)

"Diese Auffassung ist aber ein zentraler Punkt der Gedanken Otto Gross'." (Raub 31)

Ein langer Lernprozeß war zu seinem Ende gekommen. Begonnen hatte alles im Jahre 1908, während eines Spaziergangs beim Heidelberger Schloß. Max Weber zu Else: "Sie werden doch nicht behaupten, daß in der Erotik irgend ein 'Wert' verkörpert sei?" Darauf Else: "Aber sicher!" "Welcher denn?" fragte Weber. "Schönheit!" war Elses Antwort.

"Max Weber war erstaunt und verstummte." (Green 200)


Fussnoten

1 "Briefe an Robert Michels vom 7. Febr., 18. Febr. und 7. Aug. 1907, Nl. Roberto Michels, Fondazione Luigi Einaudi, Turin." (Schwentker 507)

2 "Brief [von Michels] an Max Nettlau vom 27. Okt. 1910, IISG Amsterdam, Nl. Nettlau, Korr. M." (ebd.).

Webers Verbindung mit Nettlau und Nieuwenhuis wurde durch den tolstoianisch geprägten Syndikalisten Robert Michels vermittelt. Ein Freund und Studienkamerad von Michels war der Philosoph Otto Buek, der 1905 und 1906 nach Ascona kam und zum Freundeskreis von Groß gehörte. Weber dürfte also schon früh von zwei Seiten her auf den Monte Verità hingewiesen worden sein: einerseits durch Groß selbst, der sich in Heidelberg habilitieren wollte, dann auch durch Michels, mit dem er sich seit 1906 über den Tolstoischen Anarchopazifismus auseinandersetzte.


Quellen:

Fügen, Hans Nobert

Max Weber mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1985.

Green, Martin

Else und Frieda, die Richthofenschwestern. München 1976.

Hanke, Edith

Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende. Tübingen 1993.

Mommsen, W. und Schwentker, W. (Hg.)

Max Weber und seine Zeitgenossen. Göttingen 1988.

Raub, Michael

Opposition und Anpassung. Eine individualpsychologische Interpretation von Leben und Werk des frühen Psychoanalytikers Otto Gross. Verlag Peter Lang, Frankfurt/M. 1994.

Radkau, Joachim

Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Carl Hanser Verlag, München Wien 2005.

Roth, Guenther

Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2001.

Seewald, Richard

Die Zeit befiehlt's, wir sind ihr untertan. Lebenserinnerungen. Freiburg/Br. 1977.

Voswinckel, Ulrike

Die Ladies von Richthofen und der Rote Baron. Frauenwelten und Männerwelten des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sendung des Bayerischen Rundfunks, Bayern 2, 3. Mai 1992, 21. 00 - 22. 00 Uhr.

Weber, Marianne

Max Weber. Ein Lebensbild. München 1989. ( = L)

Whimster, Sam

Max Weber and the Culture of Anarchy. Hampshire and London 1999.

Whimster, Sam

Ethics an Science in Max Weber and Otto Gross. In Albrecht Götz von Olenhusen und Gottfried Heuer (Hg.): Die Gesetze des Vaters. Marburg 2005, S. 403-414.




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