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Der russische Neukantianismus: Marburg in Rußland. Historisch-philosophische Skizzen

von Nina A. Dmitrieva

ZUSAMMENFASSUNG


Die vorliegende Untersuchung „Der russische Neukantianismus: Marburg in Rußland. Historisch-philosophische Skizzen“ widmet sich einem unzureichend erforschten Bereich der Philosophie- und Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf der Basis zahlreicher bisher unveröffentlichter Materialien aus Nachlässen russischer und deutscher Philosophen und gestützt auf Memoiren, Archivdokumente und philosophische Texte, wird der Prozeß der Rezeption und Transformation des kantischen Kritizismus im Rußland am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht. Hierzu wird das Phänomen des russischen Neukantianismus rekonstruiert; insbesondere wird die Rolle der Marburger Schule des Neukantianismus in der Formierung der kritischen philosophischen Tradition in Rußland aufgezeigt.

Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte die Philosophie Kants in Rußland viel weniger Anklang als die Lehren Schellings, Hegels und Feuerbachs gefunden. Ähnlich wie in Deutschland trugen einige Naturwissenschaftler in Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Rezeption der kritischen Philosophie bei. Die russischen Naturwissenschaftler (D. Mendelejew, N. Pirogow, I. Pawlow, I. Setschenow u. a.) eigneten sich sehr schnell den Szientismus von Auguste Comte’s Positivismus an, den sie als eine Art Weltanschauung verstanden und den sie gegen die akademische Philosophie (P. Jurkewitsch, A. Kozlow, L. Lopatin u. a.) und gegen die offizielle Ideologie einer orthodox-christlichen Weltanschauung (K. Pobedonostzew) wie auch gegen die mystische Lehre Wl. Solowjews ins Feld führten. Die russischen akademischen Philosophen verteidigten und entwickelten eine Form von Metaphysik, die ihre Quellen und Evidenzen im deutschen Idealismus hatte, während in Deutschland die Wende zur Erkenntnistheorie die idealistische Metaphysik unaufhaltsam verdrängte. Aufgrund dieser Situation blieb das Ansehen der Philosophie als Wissenschaft in Rußland zunächst äußerst gering.

Dasselbe gilt für ihre gesellschaftliche Anerkennung. Positivisten, Materialisten, revolutionäre Demokraten und die sog. Volkstümler prangerten die Unfähigkeit der Denker jener religiös-metaphysischen Richtung an, die Wirklichkeit einschließlich der sozialen Wirklichkeit zu erklären und neue theoretische Grundlagen für den Umbau von Staat und Gesellschaft zu entwickeln. In diese Situation fällt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung und Aneignung der Ideen des deutschen Neukantianismus’ in Russland.

Im Gegensatz zur Marburger Schule erlangte die Badische Schule des Neukantianismus in Rußland grössere Popularität und Berühmtheit bei philosophisch interessierten Intellektuellen. Doch zog die Marburger Schule als die programmatisch und institutionell strengere Ausprägung des Neukantianismus gleichwohl große Aufmerksamkeit auf sich. Am frühesten wurde die neukantianische soziale Lehre in den 1890er Jahren von seiten der sog. „legalen Marxisten“ (N. Berdiajew, S. Bulgakow, J. Dawydow, B. (Th.) Kistiakowski, M. Tugan-Baranowsky, P. Struve u. a.) wahrgenommen und diskutiert, die, wie E. Bernstein und andere in Deutschland, auf der Suche nach einem liberalen Programm „in den Marxismus einen Pfropfen des kantischen Kritizismus einbringen“ (S. Bulgakow) wollten. Diesen Versuch wie auch die neukantianische Theorie an sich kritisierten L. Akselrod, Wl. Lenin, G. Plechanow und andere russischen Marxisten vehement.

Die russischen Studenten und jungen Wissenschaftler, die sich ernsthaft der Philosophie widmen wollten, eigneten sich vor allem die Marburger Erkenntnistheorie und die Bemühungen um ein philosophisches System an. Sie studierten oft bei Vertretern beider Schulen, so hörten sie Windelband und Rickert eine zeitlang in Heidelberg und Freiburg im Breisgau, sodann studierten sie in Маrburg bei Cohen und Natorp (N. Aleksejew, O. Buek, S. Hessen, P. Kananow, H. Lanz, S. Rubinstein, A. Sacchetti, W. Sawal’sky, L. Ssalagoff, A. Toporkoff, B. Vogt, B. Wischeslavzeff u. a.).

Hörer Windelbands und Rickerts waren darüber hinaus N. Berdiajew, N. Bubnoff, I. Fondaminski, A. Fondaminskaja (geb. Gawronskaja), A. Gotz, I. Iljin, B. Jakowenko, B. (Th.) Kistiakowski, O. Mandelstam, P. Nowgorodzew, M. Rubinstein, M. Schaginyan, W. Sensinow, A. Steinberg, F. Stepun u. a.

Schüler Cohens und Natorps waren ebenfalls W. Beliajew, N. Boldyrew, D. Gawronsky, M. Glikson, M. Gorbunkoff, G. Gordon, N. Hartmann, M. Kagan, J. Klatzkin, A. Kubitzky, B. Pasternak, D. Samarin, W. Sesemann, H. Slonimsky, A. Syrtzoff, A. Weidemann, K. Wildhagen, V. Ssalagowa (?) (geb. Woytiak) u. a. Unter beträchtlichem Einfluß der marburgischen Ideen standen M. Bachtin, Wl. Dinse, L. Gabrilowitsch, J. Gordin, A. Gurland, B. Jakowenko, D. Koigen, A. Koralnik, I. Lapschin, E. Spektorsky, A. Steinberg u. a.

Das Studium bei den Marburger Neukantianern vermittelte den jungen russischen Intellektuellen das gesuchte System des philosophischen Wissens, eine leistungsfähige und zugleich flexible wissenschaftliche Methodologie sowie die für ihre selbständigen wissenschaftlichen Studien notwendige Kenntnis der neuesten philosophischen Problemlagen. Von der aufklärerischen Idee der Verbreitung der säkularisierten wissenschaftlichen Philosophie begeistert, kehrten sie in ihre Heimat zurück und suchten zur „Bildung einer dauerhaften philosophischen Tradition“ (B. Jakowenko) des kritischen Rationalismus in Rußland beizutragen. Die Lehre der Marburger Schule galt ihren russischen Protagonisten als eine „Philosophie des Humanismus und der Aufklärung“ im Anschluß an die „historische, [...] jahrhundertealte auf Sokrates zurückgehende Tradition“ (E. Spektorsky).

Vom Beginn der „Institutionalisierung“ der neukantianischen Bewegung in Russland an waren die russischen Schüler der Marburger und Badischen Schule des Neukantianismus sich darüber im klaren, dass, wie es in einem Artikel der Redaktion der russischen Ausgabe der Zeitschrift Logos hieß, ihr „philosophisches Schaffen, das auf unbedingter Aneignung des westlichen Erbes beruht, unvermeidlich die [in Rußland] vorhandenen […] spezifischen und starken kulturellen Motive“ in sich aufnehmen muß (Logos 1910, Bd. 1). Auf dieser Grundlage entstand das Phänomen des russischen Neukantianismus, der, als Antithese zu einem religiös-mystischen Philosophieren und als Plädoyer für eine nachgeholte Aufklärung in der Entwicklung der russischen Philosophie, zu einem integralen Teil der russischen Kultur wurde.

In Rußland kam es gleichwohl nicht zur Bildung einer eigentlichen neukantianischen Schule. Die Gründe liegen nicht etwa in der starken Abhängigkeit von der deutschen neukantianischen Philosophie. Sie sind vielmehr in dem Umstand zu sehen, daß eine entwickelte universitäre philosophische Tradition fehlte, sowie darin, daß die Philosophie von verschiedenen Schichten der Gesellschaft als Hort eines gefährlichen Freidenkertums angesehen wurde. Deswegen waren die russischen Neukantianer gezwungen, einerseits ihre Kraft auf den Unterricht nicht nur an Universitäten, sondern auch in Gymnasien und auf das Übersetzen von westlichen philosophischen Texten zu konzentrieren, anstatt eine eigene philosophische Konzeption auszuarbeiten, andererseits sich um öffentliche Beachtung zu bemühen und eine Rolle im kulturellen Leben der Gesellschaft zu übernehmen, z. B. in eine Auseinandersetzung mit den um 1910 in Mode gekommenen Ideen der religiös-mystischen Denker einzutreten und eine klare Stellung in der Frage zu beziehen, ob, wie diese wollten, die Philosophie eine Weltanschauung bzw. eine religiöse nationale Philosophie sein solle und dürfe. Außerdem gehörten einige russische Neukantianer zu revolutionären Kreisen wie den Anarchisten (O. Buek), den sog. Sozialisten-Revolutionären (D. Gawronsky, L. Gabrilowitsch, B. Jakowenko u. a.) und Sozialdemokraten (O. Buek, G. Gordon, P. Kananow, D. Koigen, S. Rubinstein u. a.).

Aufgrund dieser Umstände erhielt die Institutionalisierung des Neukantianismus in Rußland eine informelle Gestalt in der Tätigkeit philosophischer Zirkel und Gemeinschaften, unter denen die so genannten „Hausseminare“ von großer Bedeutung waren, insbesondere das von dem „Marburger“ Boris Vogt veranstaltete Seminar, das mit geringen Unterbrechungen von 1904 bis 1946 in Moskau bestand.

Die Analyse der Werke der russischen Neukantianer erlaubt es, mit Blick auf das Verhältnis der behandelnden Probleme zur Tradition eine methodische Unterscheidung in deutsch-neukantianische und russisch-neukantianische Schriften vorzunehmen.

Zu deutsch-neukantianischen Untersuchungen gehören wissenschaftlich-methodologische Werke, historisch-philosophische Studien zur Philosophie der Antike, sodann Arbeiten über die transzendentale Methode in der Philosophie Kants, Cohens, Hegels und Leibniz’, ferner zusammenfassende Untersuchungen, die allgemein der theoretischen Philosophie des Marburger Neukantianismus und speziell der Lehre Hermann Cohens gewidmet sind, und schließlich Untersuchungen zur Rechtsphilosophie.

Russisch-neukantianischen Untersuchungen kann man diejenigen Werke zurechnen, in denen die Besonderheiten der russischen Kultur und entsprechend die Spezifikation des russischen Neukantianismus deutlich werden. Das Problem, das die meisten russischen Neukantianer beschäftigt hat, kristallisierte sich in ihren Auseinandersetzungen mit russischen religiösen Philosophen heraus und wurde als das „Problem des Rationalen und Irrationalen und ihrer Wechselbeziehung“ (N. Aleksejew) formuliert, wobei man unter dem „Irrationalen“ das Psychische, das Intuitive und schließlich das Individuelle verstand. Einen umfassenden Ausdruck hat dieses Problem in historisch-philosophischen Untersuchungen über Plotin sowie in einer Folge von Arbeiten gefunden, die der Philosophie Fichtes gewidmet sind, was die nachfolgende „anthropologische Wende“ im russischen Neukantianismus in vielem vorbereitete und verursachte.

Im Laufe der Arbeit gelang es, einige Fälle der Rückwirkung der im russischen Neukantianismus entwickelten Ideen auf den Neukantianismus der Marburger Schule auszumachen. Es handelt sich um die Untersuchungen W. Sesemanns über die Frage nach dem Irrationalen (1911), die auf die Überlegungen P. Natorps einwirkten, um die Auseinandersetzung Natorps und Wischeslavzeffs über das Problem der Wechselbeziehung von Moral und Recht, ferner um „die erste Anregung“ von B. Vogt an H. Heimsoeth zu seiner Dissertation über Descartes’ Methode (1911), sodann um die indirekte Polemik zwischen D. Gawronsky und E. Cassirer über das Kontinuitätsproblem bei Poncelet (1910–1912) und über den philosophischen und physikalischen Sinn der Relativitätstheorie Einsteins (um 1920), wie schließlich um die Idee einer kritischen Sprachphilosophie, die B. Pasternak im Gespräch mit E. Cassirer (1912) äußerte. Hier steht eine detaillierte Untersuchung noch aus.

In Rußland, wo das künstlerische Schaffen stets vom Standpunkt nicht nur seiner ästhetischen, sondern auch seiner gesellschaftlichen Bedeutung aus betrachtet wurde, entfalteten die Ideen des „neuen Kantianismus“ eine erstaunliche Wirkung bei den Vertretern des russischen Symbolismus. Hier ging es nicht nur um neukantianische Ideen wie die unendliche Aktivität des schöpferischen Bewusstseins, sondern auch um genuin kantische Ideen, die von den Neukantianern angeeignet wurden, wie, z. B. die Autonomie der Person oder die „Uninteressiertheit“ der künstlerischen Produktion. Als Träger dieser Ideen fungierten die russischen Neukantianer gleichsam als „Zentren“ in einem höchst lebendigen und wirkungsvollen intellektuellen Austausch von Konzepten, Programmen und Überzeugungen. Im unmittelbaren Verkehr mit ihnen fand die Formierung der ästhetischen und weltanschaulichen Ansichten so bedeutender russischer Künstler wie V. Brjusov, Andrej Belyj, A. Skrjabin u. a. statt.

Nach der Revolution wurde das Problem einer philosophischen Begründung der Kultur und des künstlerischen Schaffens zu einem der dringlichsten Anliegen. Hier traten viele russische Neukantianer hervor, sowohl Emigranten als auch diejenigen, die im sowjetischen Rußland geblieben waren. Die Frage nach einem „Ausgang zum Sein“ (N. Berdiajew), d. h. nach einer neuen Ontologie, deren Antwort die russischen emigrierten Neukantianer (S. Hessen, W. Sesemann, A. Weidemann, J. Gordin u. a.) in einer Synthese der Grundlagen des Marburger Neukantianismus, des Hegelianismus und der Phänomenologie suchten, wurde zu einem vordringlichen Problem.

Im sowjetischen Rußland, das vom europäischen philosophischen Raum abgeschnitten war, hatte die Transformation der neukantianischen Ideen zwei Haupttendenzen. Zum einen, im Blick auf das Prinzip der Tätigkeit, die Verbindung des Marxismus mit dem Problem des Bewusstseins und der Theorie der Persönlichkeit, was sich in den Werken des größten sowjetischen Psychologen S. Rubinstein, in den Arbeiten über Kulturphilosophie von M. Turowsky und teilweise in den paläopsychologischen Untersuchungen von B. Porschnew zeigt. Zum anderen die Bewahrung der bereits ausgearbeiteten und dem klassischen Marburger Neukantianismus nahestehenden Position, was sich in den Werken B. Vogts und implizit besonders bei P. Kopnins, Vogts Schüler in den 1940er Jahren, zeigt, der sich um die Bearbeitung spezifischer Probleme der marxistischen Theorie, wie des Problems der logischen Begründung des wissenschaftlichen Wissens, der Rehabilitierung des Begriffs der Idee und der anthropologischen Orientierung der philosophischen Forschung insgesamt verdient gemacht hat.

Als höchst widerstandsfähig und wirkungsmächtig hat sich sowohl im vorrevolutionären als auch im sowjetischen Russland das Projekt der Marburger Schule des Neukantianismus mit seinem Plädoyer für Aufklärung, der kantischen „Bildung des Verstandes“ und der Begründung einer wissenschaftlichen Programmatik erwiesen. Diese Prinzipien der Marburger Schule wurden von den je persönlichen Beziehungen, in denen die „russischen Marburger“ zu ihren russischen Mentoren (S. Trubetzkoj, A. W(w)edensky u. a.) und deutschen Lehrern (H. Cohen, P. Natorp) standen, sowie von der Protesttradition der russischen Intelligenz verstärkt, die sich für die russischen Neukantianer zu einem großen Teil im Einklang mit dem „ethischen Sozialismus“ des Marburger Neukantianismus befand. In diesem Projekt fand in Russland die europäische philosophische Tradition, in der die Philosophie als eine von Weltanschauungsansprüchen, und zwar sowohl von Religion, als auch von Ideologie freie Wissenschaft verstanden worden ist, ihren Ausdruck. Die kritische europäische Tradition und die russische Protesttradition erlaubten den russischen Neukantianern, sich eine relative Geistesfreiheit unter den Bedingungen absoluter Unfreiheit in der totalitären Epoche zu erhalten und die Prinzipien einer freien wissenschaftlichen Philosophie ihren Schülern im sowjetischen Rußland zu vermitteln.


  


INHALTSVERZEICHNIS


Statt eines Vorworts

Einleitung

I. Quellen

Kant und Neukantianer in Deutschland und in Rußland – Eine komparative Analyse

1. Deutschland und Rußland – Kulturgeschichtlicher Kontext

2. Deutschland: Von Kant zum Neukantianismus

3. Neukantianismus: Zum Problem der philosophischen Schulen

4. Marburg und seine Schulhäupter

4.1 Hermann Cohen

4.2 Paul Natorp

5. Kant und Neukantianer in Rußland – Die Anfänge der Rezeption

5.1 Kant in Rußland (1860 – 1905)

5.2 Neukantianer in Rußland (1890 – 1905)

II.Russisches Marburg“ 

  1. Intellektuelle Wallfahrt nach Deutschland

1.1. Von Baden nach Marburg

1.2. Russen in Marburg

  1. Russische „Universitätsphilosophie“, „religiöse Philosophie“ und der Neukantianismus

in wechselseitigen Einflüssen und Kontroversen

  1. Zur programmatischen und funktionalen Identität den neukantianischen Schulen

in Rußland

III. Russische Neukantianer

Beiträge zur russischen neukantianischen Bio- und Bibliographie

1. Otto Petrowitsch Buek

2. Boris Aleksandrowitsch Vogt

3. Gabriel Osipowitsch Gordon

IV. Symbolisten und Neukantianer

Kantianische Ideen im russischen künstlerischen Symbolismus

  1. Valerij Brjusov

  2. Andrej Belyj

  3. Aleksandr Skrjabin

Statt eines Schlusses

Sowjetischer“ Neukantianismus?


Anhang

Marburger Briefe von G.O. Gordon an B.A. Vogt (1906–1907)

Literaturverzeichnis

Personenregister

Zusammenfassung (Deutsch)


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