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Landschaft der Sucher, Dorf der Denker
Siehe auch: Landschaft der Sucher




Im Januar des Jahres 1914 hat der Maler Alexander Wilhelm de Beauclair eine Lageskizze des Monte Verità gezeichnet. Die Abbildung bei Szeemann (Katalog S. 13) ist so klein, und vielleicht war schon die Vorlage so undeutlich, dass die beigefügten Namen nur schwer oder gar nicht zu entziffern sind. Aber Eines wird schon beim ersten Blick auf diese karge Skizze klar: Das Sanatorium von Oedenkoven macht nur einen sehr bescheidenen Bruchteil dieses Geländes aus. Und das auch im geistigen Sinn. Denn während von den Gästen der Kuranstalt kaum jemand im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt sich erhalten hat, finden sich außerhalb seiner Zäune jene Namen, die uns in Geschichte und Geschichten überliefert sind: Johannes Nohl, Raphael Friedeberg, Anna Fischer-Dückelmann, Emil Ludwig, Max Kruse, Baron Wrangel, Carlo Vester, die Gebrüder Gräser und so fort.



Lageplan von Alexander de Beauclair, 1914, mit vergrößerten Namen in Druckschrift

Kurz und schlicht: Jener Monte Verità, der ein Stück Geschichte geschrieben hat, Kunst- und Geistesgeschichte, lebte außerhalb des Sanatoriums. Zwar waren die meisten dieser „Externen“, wie Grohmann, oder „Sezessionisten“, wie Mühsam sie nennt, ursprünglich Gäste des Sanatoriums gewesen oder gar Teilhaber der ursprünglichen Genossenschaft, wie die Gräsers. Im Laufe der Zeit aber waren sie ausgewandert, hatten sich selbständig gemacht, nicht wenige aus Opposition und Protest: Auszug der Intelligenz. Grundstücke wurden gekauft, Häuser gebaut, Wege geebnet. So legte sich, ausblutend und ausblühend, um den Kern Sanatorium ein breiter Schleier von Gebäuden, unter dem östlichen Gipfel beginnend bis hinunter zum See. Ein zweiter „Monte Verità“ entstand, den man im Unterschied zum „Monte Oedenkoven“ des Sanatoriums nach seinen Pionieren den „Monte Gräser“ nennen muss. Gusto Gräser, dann sein Bruder Karl, zusammen mit Jenny Hofmann und Lotte Hattemer, waren die Ersten gewesen, die sich von Oedenkoven getrennt hatten. Mühsam, Friedeberg, Nohl, Otto Gross, auch sie zunächst Gäste des Sanatoriums, waren diesem Schritt gefolgt.

So wuchs auf engstem Raum eine Kolonie von Malern, Schriftstellern, Reformern und Ärzten. Die vier Eckpunkte dieser Landschaft der Kreativen werden bezeichnet von dem deutschrussischen Ex-General und pazifistischen Schriftsteller Baron von Wrangel im Nordosten, von dem ungarischen Ex-Ingenieur und Tolstoianer Vladimir Straskraba-Czaja im Südosten, von dem deutschjüdischen Schriftsteller Emil Ludwig im Südwesten und dem Bildhauer Max Kruse im Nordwesten.

Ihre Herkunft und ihre Motive zur Ansiedlung können stellvertretend für die meisten anderen stehn. Widerstand gegen Krieg, Militarismus und Despotismus (Wrangel und Straskraba), Ausbruch aus liebesfeindlicher Spießermoral (Ludwig), Liebe zum Schönen in Natur und Kunst (Kruse). 

Nehmen wir zwei Namen aus der linken und rechten Mitte dazu. Die Reform-Ärztin Dr. Anna Fischer-Dückelmann, damals die in Deutschland bekannteste Naturärztin überhaupt, steht für Reform in der Heilkunde, die Gebrüder Gräser für Reform auf allen Gebieten des Lebens. Zwei andere Namen in der Mitte sind der Maler Alexander Wilhelm de Beauclair und seine Frau Friederike, ebenfalls Malerin.

Die Ärzte (und andere Doctores) sind stark vertreten: Dr. Raphael Friedeberg, Dr. Wilhelm, die anthroposophischen Ärzte Dr. Rascher und Dr. Schneider, Frau Dr. Paulus, Frau Dr. Anna Idona Zehnder (1877-1952) und Frau Dr. Anna Fischer-Dückelmann (1856-1917).

Viele Namen sind nicht entzifferbar. Aber wir dürfen annehmen, dass sie aus denselben Motiven sich angesiedelt haben. Es sind Sucher nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Gesundheit zugleich. Keine Künstlerkolonie: eine weltanschauliche Kolonie aus dem Geist der Lebensreform. Einigendes Band und Hauptwurzel war die „naturgemäße Lebensweise“, im besonderen der Vegetarismus. Von dieser Praxis her, die im Christentum keine Stütze fand, die Suche nach geistiger Grundlegung und Ausfaltung in alle Richtungen. Der Zug zur Natur musste die christlich geprägte Kultur in Frage stellen. Das Dorf der „Externen“ wurde so zu einem Dorf der Weltanschauungen, von der weltflüchtigen Esoterik der Theosophen bis zur „Propaganda der Tat“ der Anarchisten.

 

Die „Straße der Intelligenz“ verläuft unterhalb des Sanatoriums vom Ostgipfel des Monte Monescia hinunter nach Moscia und zum See (Ausschnitt)

Besonders herauszuheben ist der Weg, der, ausgehend vom Hause des Barons Wrangel bis zu den Häusern der Gräsers und de Beauclairs den Gipfel des Hügels wie ein Halsband umschließt. Man könnte ihn den „Weg der Intelligenz“ nennen. Rechts oben im Bild finden wir die Casa Günzel. In diesem Haus sammelten sich um den Psychiater-Sohn Robert Binswanger um 1919 die Schriftsteller Bruno Goetz und Friedrich Glauser, die Tänzerin Mary Wigman, die Malerin Elisabeth Ruckteschell und andere Malerinnen. Wenig unterhalb der Casa Günzel entdecken wir die Zuschrift „Torre“. Hier dürfte es sich um den berühmten Vogelfängerturm, das sog. „Roccolo“, handeln, in dem einige Jahre die Puppenmacherin Käthe Kruse wohnte, in dem dann die berüchtigte Franziska zu Reventlow ihre Bücher schrieb, dann Reinhard Goering seine ‚Seeschlacht’ entwarf und nach 1918 Werner von der Schulenburg sein Dichteratelier einrichtete. Etwas weiter unten, im Haus seines Freundes Dr. Schneider, brachte Hesse seinen Mäzen, den Waldorf-Astoria-Gründer Emil Molt, unter. Im Hause nebenan, bei den Gräsers, gingen er und Bloch und Mary Wigman in der Kriegszeit ein und aus. Auch der Tiefsee- und Stratosphärenforscher Auguste Piccard und die Pianistin Elly Ney. Mit dem benachbarten Maler de Beauclair stand Hesse lange im Briefwechsel. Zur selben Zeit siedelte sich der russische Maler Alexej Jawlensky, die Rilke-Malerin Lou Albert-Lasard und der rumänische Maler Arthur Segal in der Nähe an. Bei de Beauclair lernten die Maler Carlo Mense und Heinrich Maria Davringhausen. Bei Karl Gräser logierte der Maler Gustav Schütt, arbeiteten zeitweise Oskar Maria Graf und Georg Schrimpf.

Der Maler, Bildhauer und Dichter Hans Arp lebte zwischen 1915 und 1918 mehr als ein Jahr auf dem Monte Verità

Auf engstem Raum, in dörflich-nachbarlicher Nähe, trafen sich Menschen verwandten Geistes. Der Wille zur Veränderung auf allen Gebieten war ihnen gemeinsam. Im Russenhaus sollen sich, der Legende nach, zeitweise Lenin und Trotzki aufgehalten haben. In der nicht weit entfernten Mühle von Ronco nisteten sich die Grossianer ein. Das waren die Extremisten der Szene, nicht eben gern gesehen. Andere wie die Millionärsfrauen Steindamm, Paulus und Langvara widmeten sich dem Spiritismus und anderen okkulten Praktiken. In der Mitte – auch im übertragenem Sinn – zwischen den teils von Schmuggel und Raub sich nährenden Anarchisten in ihrer verfallenen Mühle und den von Aktien und Pensionen zehrenden Großbürgern in ihren Villen befand sich das Anwesen der Gebrüder Gräser.

Wo aber sind die Kunstwerke, die an Ort und Stelle geschaffen wurden? Die gibt es zwar - Labans Tanzdramen und Tanzbuch, Blochs Utopie-Buch, Jawlenskys mystische Köpfe, Wigmans Tanzstücke, Goetzens Reich-Roman, die sexual- und sozialrevolutionäre Theorie von Otto Gross -, aber was schwerer wiegt: es entstand ein Klima begeisterten Suchens und Experimentierens. Vorstöße in die Wildnis des Unbekannten wurden gewagt. Spitzenleistungen stehen nie am Anfang. Den Ernsthaftesten unter den Ansiedlern ging es um eine Revolution der Gesamtkultur, nicht um Hochleistung in einem begrenzten Fach. Wer so weit zielt, darf keine Ergebnisse auf kurze Frist erwarten. Sein Zielgebiet ist die Zukunft, sein Feld ist die Welt.

Vielleicht das Beste, was Oedenkoven geschaffen hat, war seine Namensfindung (wenn es denn seine Idee war): Monte Verità – Berg der Wahrheit. Damit war ein Anspruch erhoben, der größtmögliche überhaupt, der das Unternehmen über alle kurzgreifenden Versuche hinaushob in den Raum der Utopie. Es sollte ja, nach Oedenkovens eigener Erklärung, damit nicht ein Besitz von Wahrheit angezeigt werden sondern ein Suchen nach ihr. Im Unterschied zu den staatlich gestützten und geschützten Wahrheitsinstitutionen Universität, Wissenschaft und Kirche sollte hier frei, unabhängig und aus eigener Kraft Wahrheit erforscht und Wahrheit gelebt werden. Durch seine Umdeutung der ursprünglichen, als autark gedachten Genossenschaft in ein vom zahlenden Publikum abhängiges Sanatorium hatte Oedenkoven diesen Anspruch, nur der Wahrheit zu dienen und zu leben, aufgegeben. Darin, im Verlust der ideellen Perspektive und  Glaubwürdigkeit lag der tiefere Grund für den Auszug der Sezessionisten, darin auch der Grund für das Scheitern des Sanatoriums.

Auf dem „Monte Oedenkoven“ wurde gewirtschaftet, auf dem „Monte Gräser“ wurde gedacht, gedichtet, gestaltet. Unter großen Leiden und Entbehrungen. Hier aber entstanden Deutungen, Entwürfe von Wahrheit, die weiterwirkten: Otto Gross entwirft sein Konzept der sexuellen Revolution, Johannes Nohl will Psychoanalyse und Religion zusammenführen, Hermann Hesse will die dunkle und die lichte Weltseite im Symbol des Abraxas vereinigen, Ernst Bloch sieht die Wahrheit latent im utopischen Raum der noch ungestalteten Träume, Rudolf von Laban findet sie im Rhythmus, will sie in kultischen Festspielen inszenieren, Gusto Gräser setzt dem cartesischen „Ich denke, also bin ich“ seine eigene „Allweltordnungsfuge“ entgegen, eine Welt- und Wahrheitsformel, die das Ich ausschließt: Wir leben nur als Glieder des Weltenbaums, als Mitschaffende im „Baum-bin-im-baun“.

Das Denkerdorf, zugleich eine Ansammlung von Gärten, hat Früchte getragen. Sie sind dort gereift, wo Menschen sich den Ansprüchen des Staates, den Regeln der Gesellschaft und den Zwängen der Wirtschaft weitgehend entzogen haben: im Halsband um die Kuppe des Monte Verità.

Freilich – man darf sich diese Aussteigerkolonie nicht als eine akademische Gesellschaft vorstellen. Das Denken und Dichten erwuchs hier aus der Lebenspraxis, oft genug aus dem Leiden. Gusto Gräser hatte 1901 den Fahneneid verweigert und war dafür in den Militärkerker gegangen. Der deutsch-russische Baron Paul von Rechenberg-Linten hatte zwei Jahre in der Festung Gregoriowostok verbracht, vermutlich seiner tolstoianisch-theosophischen Überzeugung wegen. Sicher war dies der Fall bei dem slowakischen Arzt Dr. Albert Skarvan, der wegen Verweigerung des Militärdienstes sein Arztpatent verlor und in österreichisch-ungarischen Gefängnissen seinen Widerstand zu büßen hatte. Was den dem Milieu der russischen Aristokratie entstammenden Baron von Wrangel bewogen hat, auf den Monte Verità zu ziehen, ist unbekannt. Da er als leidenschaftlicher Pazifist auftrat und schrieb, sind seine Gründe jedoch nicht schwer zu erraten. Überhaupt fällt auf, wie viele Russen sich auf dem Berg angesiedelt haben. Neben Wrangel die beiden Barone Rechenberg-Linten, der deutschbaltische Schriftsteller Bruno Goetz mit Schwester und Mutter, der ebenfalls als Baron bezeichnete Russe Eduard Erdberg, die Malerinnen Zawestowska, Mischka und Werefkin und der Vegetarier Brempel. Zu Aufenthalten kamen zeitweise der deutschrussische Philosoph Dr. Otto Buek, sein Gesinnungsgenosse Werner Karfunkelstein, der sich Werner Daya nannte, der anarchistische Denker Peter Kropotkin und die Revolutionäre Lenin und Trotzki. Die Revolutionärinnen Vera Figner und Lidija Petrovna erholten sich auf dem Monte Verità von ihren Leiden; Johannes Nohl wird eine russische Ärztin heiraten…

In den Semesterferien der Jahre 1905/6 wurde Ascona von russischen Studenten geradezu überschwemmt. Dass dieser Zustrom mit der gescheiterten Revolution von 1905 zu tun hatte, liegt nahe. Gesichert ist jedenfalls, dass es in diesem Jahr einen Durchzug von Revolutions-flüchtlingen aus dem Zarenreich gab. Lotte Hattemer liest ihnen mit hohem Pathos aus Nietzsches ‚Zarathustra’ vor. „Unter den Russen genießt der Monte Verità eine ungeheure Popularität“ schreibt ein Historiker über diese Zeit[1]. Der Name des bis heute bestehenden „Russenhauses“ zeugt davon.

Das Denken kam hier aus dem Leiden, aus politischem und kulturellem Widerstand. Man fühlte sich als Schicksalsgemeinschaft, solidarisch mit allen, „denen sich gegen Knechtschaft und Vergewaltigung in echtem Grimme der Mensch aufbäumte“[2]. Und darum als „Vorkämpfer einer in jeder Hinsicht besseren, freieren und schöneren Gesellschaft“[3].

Die wenigsten dieser Zuzügler lebten, wie Wrangel, in Villen oder alten Palazzos. Der Russe Nicol hauste als Yogi auf dem flachen Dach der Casa Angolo in einer aufrecht stehenden Kiste, später in den Saleggi in einer räderlosen alten Postkutsche. Die Baronin Rechenberg-Linten, Witwe von Paul, ging nach dem Tode ihres Mannes ins Collegio Papio Kartoffel schälen, um zu überleben. In Ascona hoch geehrt wurde der Russe Eduard Erdberg, weil er sich während der Grippe-Epidemie von 1918, der viele Einwohner zum Opfer fielen, mutig und hingebend in den Dienst der Kranken stellte. „Wie andere Russen von Ascona hatte er gegen Ende der Zarenzeit sein Vaterland, seinen Rang, seinen Besitz aufgegeben und das Leben eines Armen unter Armen gewählt. … Ein Mensch, der alles zu tun, alles zu geben bereit war … ich erinnere mich, wie er oft zu mir kam, um für eine Kollekte zu sammeln oder Kalender des Roten Kreuzes zu verkaufen. So ging er von Tür zu Tür, immer mit kalten Händen und immer dankbar für einen Kaffee“[4]. In Ascona hieß er nur “el barön di zòcar”, „der Baron des Zaren“. 1923 wurde ihm die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde verliehen.

Die „Straße der Intelligenz“ von der Höhe der Wrangels bis hinunter zum See war auch eine Straße der Leiden. Zuunterst „residierte“  Gusto Gräser zeitweise unter einem Brückenbogen. Ein alter Asconese erinnert sich: “Era un povero CHRISTO e viveva dentro l’ultima arcata, sotto la Strada che va à Brissago. - Er war ein armer CHRISTUS und wohnte unter dem letzten Arkadenbogen unter der Straße nach Brissago.“[5]


Fussnoten

[1]  Schischkin, Michail: Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer. Limmat Verlag Zürich 2003, S. 257.

[2] Erich Mühsam: Ascona. Eine Broschüre. Locarno 1905, S. 59.

[3] Erich Mühsam ebd., S. 58.

[4] Caterina Beretta: La mia Ascona. Bellinzona 1980, S. 17f.

[5] Ferdinando Bacchetta in GiorgioVacchini: Ascona. Verdetti popolari e documenti. Ascona 1996, Nr. 1477


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