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Die Gräserbrüder auf Monte Verità Von Adolf Grohmann |
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Wir kommen jetzt zum Gusti, dem Poeten und Künstler der Externen. Er ist etwa Mitte der Zwanziger, aus Siebenbürgen. Er hat eine Abneigung gegen das Wohnen in Häusern und gegen den Gebrauch von Geld. Eine Zeit lang hat er in jenen kleinen Gebetsnischen und Kapellen von etwa einem Quadratmeter Bodenfläche übenachtet, die dort, in katholischer Gegend, häufig sind. Später hat er sich eine ständige Wohnung zugelegt. Zu ihr gelangte er auf folgendem Wege. Die Bewohner eines sehr armen und sehr kleinen Dorfes in der Nähe von Ascona mochten sich wohl auch vegetarische Ansiedler wünschen. Vielleicht in Erwartung, dass Einer den Andern nachzieht, wie es in Ascona war, ging die Gemeinde auf den Vorschlag ein, den ihr der Gusti machte. (Die Leute dort haben ihn auch sehr gerne.) Sie traten ihm ein Stück des Gemeindebodens als bleibende Wohn- und Pflanzstelle ab und ein Dokument stipulierte die Bedingungen. Gusti wollte keine Schenkung. Er ist gegen Privatlandbesitz. Auf seinem Lande haust er in einer malerischen Felsenspalte. Ich liebe das Herbe, sagte er mir am Wege zu seinem Heim. Dort erblickte ich ausser einigen Decken auf dem Boden nichts einer menschlichen Spur ähnliches als einen kleinen Trog aus vier flachen Steinen gebildet, in der Grösse etwa eines Zigarrenkistchens. Er enthielt Obstkerne. Er hebt die bei seinen Obstmahlzeiten verbleibenden auf und verwendet sie bei Gelegenheit seiner Spaziergänge in der Umgebung: er streut sie aus am Wege und rechnet auf den Genuss und Vortheil, den die aus den Kernen wachsenden Obstbäume dem durstigen Wanderer am Wege bieten werden. Er ist gelernter Kunstschlosser und ein sehr talentierter Mann mit vielen originellen künstlerischen Ideen und Fertigkeiten. Das Stirnband, dessen Erfinder und erster Benutzer er ist, ist bei ihm von Leder und hat einen kronen- oder diademartigen Zuschnitt. Ein grüner oder brauner Mantel aus einem viereckigen Stück Tuch, mit einem Loch in der Mitte für den Kopf, geben ihm ein durchaus echtes und distinguiertes Aussehen. Als ich ihn vor Jahren zum erstenmal - 19 Jahre alt, aber älter aussehend, in Zürich sah, und nach dem Zweck der Lederkrone frug und von den kurzen Hosen sprach, sagte er: Das ist keine Krone, sondern ein Riemen zum Zusammenhalten meiner langen Haare. Ich gab dem Ding nur eine zierliche Form und was die Hosen betrifft, so gesteh ich Ihnen offen, dass mir die Elefantenbein-Facon bei unserer Männerkleidung wenig gefällt. Er anerbot sich auf meine Bitte, mir das Wesentliche seiner Weltanschauung schriftlich auszuarbeiten. Vielleicht nicht Alles, aber vieles davon würde auch ich gutheissen. Er brachte mir den Text: "Baue neben das Böse das Edle und Gute." Alles Übrige folgere sich hieraus, setzte er mündlich hinzu. Die Sandalen, seiner Erfindung und Mache, sind aus Seil geflochten. Oder er trägt Holzschuhe von sehr zierlicher Form, die er, genau seinem Fusse angepasst, aushöhlt, mit einer kokett nach oben gerichteten Spitze, die beste Sohlenform genau nach Versuchen festgesetzt. Er ist auch der Verfasser eines Projektes zu einem grossartigen elliptischen Bau, einem Wahrheitstempel, der aber aufgegeben wurde. Er arbeitet sehr geschickt in Eisen, Holz, Leder, Seilwerk etc., und hat (in seinem 18. bis 20. Jahre) interessante Bilder in Öl gemalt, die in der Komposition einfach und gross gedacht sind. Da wirkt er mit grossen Massen, unter Vermeidung alles Kleinlichen und Konventionellen und aller Lückenbüsser. Er will Stimmungen und Ideen wiedergeben. Viel Allegorie. Die Landschaft bevölkert er mit nur wenigen Menschen oder Tieren im Mittelgrund. Das Meiste ist ernst, ruhig, abgewogen und mit wenig Bewegung, in einfachen Linien. (Leider sind die Sachen weit verstreut). Trotz jugendlichen Alters hat er schon viel erlebt, beobachtet und nachgedacht. Er überlegt alles. Seine Verweigerung des Fahneneides als Rekrut in seinem österreichischen Vaterlande hat ihm zwar eine Festungsstrafe eingebracht, aber sein Benehmen führte ihm die Achtung und die Neigung seiner Vorgesetzten und Kameraden zu. Ich weigere mich zu töten, hatte er erklärt. Gelegentlich gerät er auf Widerstand bei seinen Mitmenschen, da er immer wieder versucht communistische Beziehungen anzuknüpfen. Bei diesen Versuchen lässt es zum Teil die Geringfügigkeit der Objekte, besonders bei der Natürlichkeit im Auftreten des jungen Mannes, in den wenigsten Fällen zu einem energischen Proteste auf Seiten der Geworbenen kmmen, und zum Teil bewegt sich sein Communismus in den Formen, die die Gesellschaft seit den grauesten Zeiten gekannt hat. Mein junger Freund verhilft sich nämlich gelegentlich zu einer Mahlzeit etwa durch Warten bei einem seiner sehr vielen Bekannten, bis etwas kommt, oder so, dass er an der Haustüre eines Wohlhabenden anläutet, die Magd um ein abgelegtes Stück altes Brot bittet, die Erfahrung macht, dass er meist frisches und zum Brot oft noch Zulagen erhält und von der Neugierigewordenen durchaus nicht hart behandelt wird. Da mag er wohl meist als interessanter Pilger ins gelobte Land oder (trotz seines Germanenkopfes) als irgend ein exotischer Priester gelten: Ein sehr guter, milder, nachdenklicher Gesichtsausdruck, eine tiefe weiche Stimme, ruhiges Sprechen, langes, unbedecktes, dunkelbraunes Haar, Sandalen, der wallende Mantel mit dem aufgenähten Epheublatt auf der Brust. Ein Handwerker berichtete mir: Er sei mit seiner Frau und seinen Kindern zu Hause am Tische sitzend vom Gusti aufgesucht worden im Auftrag einiger Ansiedler, die ihm eine Arbeit bestellen wollten. Auf dem Tische lag ein Laib Brot. Er setzt sich zu uns, beginnt seinen Auftrag zu erledigen, zieht sein Messer hervor und bedient sich des Brotes. Bei seinem letzten Besuche bei mir in Zürich traf er meine Magd allein im Hause. Sie kannte ihn nicht. Er nahm ein breites Sofa in Beschlag und erklärte, dass das ein prächtiger Platz zum Übernachten für ihn sei. Eine lange Unterhaltung, aber kein böses Wort ist da gefallen - dem Gusti wird eben niemand bös - , und noch heute, ein Jahr später, schildert mir die Schwäbin die Begegnung mit einem Ausdruck, als wär ihr diese Erinnerung ein Geschenk des Himmels. Vielfach verdingt er sich gegen Kost aber ohne Lohn bei seinen Genossen oder er malt gegen Kost oder er ist sonstwie bemüht, die Verwendung von Geld möglichst zu umgehen und doch den Lebensunterhalt zu verdienen. Er hat vor, sein Felsenheim zwar klassisch einfach, doch malerisch und gemütlich auszugestalten aus allerhand Siebensachen, die er sich zusammensucht, und dann eine Lebensgefährtin zu suchen, ein braves und schönes Felsenweib, das er gewiss noch finden wird, denn er ist ein schöner Mann und von der grössten Liebenswürdigkeit, offen, wahr und treu. An ihm ist alles echt und eigen, und ein reges, tiefes Gemüthsleben liegt in ihm. Als ich mich auf alle Fälle zum künftigen Gevatter in Vorschlag brachte, wurde mit Dank abgelehnt: Die Natur kenne keine Taufe. - Aber ich freue mich doch schon auf das Bild, das entstehen wird, wenn sich die kleinen Heiden einstellen werden und es sich regen wird hinter dem Gestein.
Vom Carl hat er
gehört,
dass ich über die Ansiedlung etwas veröffentlichen
wolle.
Er schreibt mir, verhöhnend mein Unterfangen: Ja, malen Sie
nur
Ihr Bild, denn es ist ja doch nur Ihres, wie eben klar oder wie
gebrochen verzerrt Ihr Spiegel dies Leben gerade auffangen kann.
Lässt sich ein Werden überhaupt fassen? Doch nur zu.
- Ich
freue mich alles fröhlichen Treibens.
Ernst Ein jüngerer Bruder vom Gusti, eine gewinnende Erscheinung, Kunstschüler, 16 Jahre alt, als ich ihn kennen lernte, ist auch für das Leben in der Ansiedlung bestimmt. Das Denken auf dem Gebiete der höheren Lebensaufgaben war ihm schon ganz geläufig. Auch er ist Vegetarier. Zu einer Mahlzeit bei mir zugezogen, wurde ihm angezeigt: es könne ihm leider kein vegetarisches Essen geboten werden, es gebe heute zwar kein Fleisch aber Fleischbrühe. Das macht nichts, sagte er, er nehme es nicht so genau. Nach der Mahlzeit: Das Zeug ist mir doch in die Beine gefahren, ich fühle mich ganz matt von der Fleischbrüh! Karl und Jenny
Trotzdem die Ansiedler fast nichts für Propaganda durch gedruckte Veröffentlichungen und dergleichen tun, da sie durch das persönliche Vorbild zu wirken wünschen, so leben sie doch in reger Beziehung zur Mitwelt. Sie erhalten viele Besuche von Neugierigen und pflegen Beziehungen zu demjenigen Teil der Aussenwelt, den sie als ihnen geistesverwandt anerkennen. Durch Briefe und vegetarische Zeitschriften etc. haben sie Verbindungen in aller Herren Länder bis nach Russland, Zentral- und Südamerika, Spanien, England und ganz besonders Österreich, und besonders Personen aus den gebildeten Kreisen und dem Mittelstand aus Deutschland und Österreich haben sie vielfach besucht und manche davon sind, befruchtet vom Geiste dessen, was dort lebt und webt, in die Heimat gezogen mit halben und ganzen Vorsätzen, es ihnen gleich zu tun. Neben typischen Besuchern, englischen Misses und internationalen Hotelbummlern aus Locarno, trifft man unter den Besuchern der Ansiedlung extreme Gestalten und Ansichten - viele finden als "wunderliche Geister" wenig Anklang auf dem Monte Verità. ... Aber auch die ständig niedergelassenen Ansiedler verlassen gelegentlch Ascona und machen Reisen nach Nord und Süd ... und nach Zürich sind sie schon oft gekommen, wo sie viele Bekannte und mich, den alten Freund und von jetzt ab den Historiographen ihrer Bewegung haben, an den sie alles berichten können. Auch der Gusti war schon mehrmals hier, wo er in seinem malerischen Gewand allgemein auffiel. Im Schwurgerichtssaal in Zürich, jenem Auditorium für die so merkwürdigen volksaufklärenden Vorträge, naturheil-kundlichen Bestrebungen und spiritistisch-religiös-okkultuistischen Seancen, wollte er einen Vortrag halten. Da dies nur bei Bezahlung an unseren Staat gestattet ist, so hielt er seinen Vortrag in einem anderen Lokal. Die Geschichte seines Werdegangs war das Thema. In der Zeitungsankündigung seines Vortrags (von einem Freunde bezahlt) hatte er seinen Namen Gustv Gräser in Gusto Gras umgewandelt. Er ist der Ansicht, dass ihm, als Einzelwesen, nicht ein Name zukomme, der eine Mehrzahl bedeutet, und Gusto nenne er sich, weil er Gefallen habe an den Dingen dieser Welt. ... Von einigen Ansiedlern war eine Zeit lang der Vorschlag besprochen worden, für besuchende Mütter ein eigenes Haus zu bauen. Eine windige Kuppe, hoch oben, aber mit herrlicher Aussicht, war als Baustelle gedacht. Hier sollten sie, im Genuss des erweiterten Horizonts, "das Ganze überblicken. Zwar nahe, aber doch nicht gar zu nahe von uns, die wir noch im untern Getriebe sind, wäre das Richtige". Hier sollten sie alle beieinander wohnen: Besuchsmütter und bleibende Mütter. Communismus, Freiheit und Freundschaft war für ihren Haushalt vorgesehen. "Nur sich Kennenlernen kann zur Freundschaft führen", hat der Gusti gesagt. ... Einst sass ich mit einem halben Dutzend meiner dortigen Freunde im Gras. Rechts ein Feigenbaum, links ein Esel. Neben einer Schüssel mit Äpfeln die nackten Füsse des Einen, dann ein Körbchen Nüsse und die Füsse mit Sandalen eines Andern, nackte Waden in allen Verkürzungen und zugreifende Hände, sonnverbrannt in allen Schattierungen. Das Gesprächsthema bildete der Bericht eines zugereisten Vegetariers über den Fortschritt der natürlichen Lebensweise im südwestlichen Viertel von Österreich. Nach dem Mahle gab es ein allgemeines Herumliegen auf den Hüften und Bäuchen. Der Gastgeber las dazu, auch auf dem Bauch liegend, den Kopf auf die Hände gestützt, andächtig und langsam und unter allgemeiner Befriedigung der Zuhörer aus einem theosophisch-ästhetischen Buche, das vor ihm im Grase lag. Ein Satz, der allgemein befriedigte, hat gelautet: Die Liebe ist der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen. ... In der Ansiedlung wird - wenn ich von Einzelnen absehe - zwar nicht viel und begreiflicherweise manches sehr dilettantisch gearbeitet, trotzdem rechnen die Leute darauf, es bald dahin zu bringen, dass sie von den Erträgnissen ihrer Arbeit werden leben können. ... Die Meisten sind durchaus Optimisten und betreiben die Kunst des Wegzauberns aller vorübergehenden Eindrücke von Misserfolg. Die freudige Vorstellung, berufen zu sein als Eröffner einer neuen Ära, ist das Zentrum bei den besseren und massgebenderen Ansiedlern und sehr vielen ihrer besuchenden Freunde und ich denke, dass wir Menschen, denen solche Regungen innewohnen, glücklich schätzen müssen. ... Gross ist ihre Vorliebe fürs Theoretisieren. Einmal in dieser, das anderemal in jener ihrer Hütten oder unter einem Kastanienbaum bilden sich Konventikel, die die höchsten Fragen der Menschheit anschneiden, Formeln bilden, Standpunkte präzisieren und Schlagwörter prägen, nach denen in nächster Zeit zwar auch gelebt - vielfach aber auch nur weiter gegrübelt wird. Oft hörte ich das Wort Brückenhintersichabschlagen, noch öfter Entwickeln und Werden. ... Die Meisten lesen Schriften von einer Sorte, wie sie der übrige Teil der Menschheit gar nicht kennt. Jedenfalls lebt sich der Einzelne in der Ansiedlung in fast schrankenloser Freiheit aus und dadurch sowie durch ihre nicht gleichlautenden Theorien entsteht leicht das Bild des Zersplittertseins der Ansiedlung im Auge der Beurteiler. Aber es ist doch viel mehr als ein blosses Nebeneinander von einzelnen Individuen, denn in dem, was ihnen das Aller-wichtigste ist, fühlen sie sich doch völlig einig: es ist das Verlangen nach persönlicher Freiheit, nach dem Ausleben auf Grund eigener Ansichten und Bedürfnisse, das Verlangen zu entfliehen aus der Welt der Gemeinheit, der Konvenienz, der ungesunden Kompliziertheit, und mitzuhelfen an einer grossen Zukunft und neuen Epoche, zu der sie die Zeit reif finden. Aus Adolf Grohmann: |
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