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UND WELTKRIEG
Zwei
Voraussetzungen haben wir zu prüfen, bevor wir daran gehen
können,
das Verhalten der deutschen Jugend gegenüber dem Kriege, im
Sommer 1914 und seinen weiteren Entwicklungen, zu analysieren.
Zum ersten die öffentliche Erziehung, von der wir nichts mehr in
Erinnerung zu bringen haben, als dass sie die Jugend als
Material, als Objekt wertete und ihr eine dünkelhafte
Nationalitätsgesinnung
nach außen und anbetungsbereite Gesinnungsfrömmigkeit
gegenüber dem Staate im Innern einpflanzte. Zum zweiten aber
haben wir zu untersuchen, welche politischen Wirkungen und Tendenzen
die seit einigen Jahrzehnten in Deutschland bestehenden
Jugendvereine
aufweisen.
Deren zweckmäßige Einteilung scheint gegeben, wenn wir bis Kriegsausbruch folgende Entwicklung der Jugendvereinigungen verzeichnen : I. Jugendpflege; a) konfessionelle; b) „vaterländische" ; II. Jugendorganisation der sozialistischen Jugend; III. Jugendbewegung.
Es handelt sich
bei dieser Klassifikation um eine Teilung
entsprechend
den verschiedenen Entstehungsursachen und den
daraus
resultierenden verschiedenen Zwecken bezw. Zielen.
Beginnend bei
der
JUGENDPFLEGE
ist zu betonen,
dass das Charakteristische an ihr ihre Institution
„von oben"
ist. Sie ist ein Kind der alten Generation, von ihr
mit Zielen und
Absichten geschaffen, die Anschauungen und Ideale
dieser alten
Generation in die junge zu überpflanzen. Die Leitung
besteht
ausschließlich aus Erwachsenen; gleicherweise bei der konfessionellen
wie bei der „vaterländischen" Jugendpflege.
Von der
konfessionellen ist in diesem Zusammenhang kaum
zu reden.
Wichtiger, weil wesentlich ausgesprochener, ist die Ent-
stehung und
Wirksamkeit der sogenannten vaterländischen Jugendpflege. Es wäre
die Sache bezeichnender, hätte man sie offen und
209 ehrlich als
militaristische Jugendpflege bezeichnet, was aber offiziell
aus guten
Gründen nicht geschah. Ihre SupraOrganisation ist der
unter
besonderer Begünstigung des vor kurzem verstorbenen Frei-
herrn von der
Goltz im Jahre 1911 ins Leben gerufene sogenannte
„Jungdeutschlandbund",
der eine Reihe kleinerer, früher schon be-
stehender
Verbände ähnlicher Tendenz, wie „Jungsturm", „Pfad-
finder",
„Wehrkraftverein" etc. zusammenfasste. Sein Erfolg darf
nicht
unterschätzt werden. Er wird verständlich, wenn man sich
vergegenwärtigt,
dass dem Staate alle möglichen Mittel zur Ver-
fügung standen,
Propaganda dafür zu machen. Besonders geschah
das in den
höheren Schulen.1)
In bezug auf die Organisation
ist an
Bedeutungsvollem zu erwähnen, dass die Leitung nahezu
ausschließlich
in den Händen aktiver und — vielleicht noch
schlimmer —
außer Dienst gestellter Militärs ruht, was für den
Wissenden Grund genug
ist, an dem dort gepflegten
Geiste
nicht mehr zu
zweifeln. Wollte man nach Parteien des deutschen
Reiches
charakterisieren, so scheint diese vaterländische Jugend-
pflege das
Instrument zu sein, alldeutsche bis rechts-nationalliberale
Ideen in die
Jugend hineinzutragen. Das Feld ihrer unmittelbaren
Betätigung
stimmt nahezu vollständig mit dem später dargestellten
der
„Militärischen Jugendvorbereitung " überein. Die beiden Organe
sind der Jungdeutschlandbund
und die Jungdeutschlandpost,
zwei
Zeitschriften,
von denen man leider der Ehrlichkeit halber gestehen
muss, dass sie
im Laufe der letzten Jahre die Jugend geradezu
zum Kriege
hetzten. Etwa 200,000 Angehörige der deutschen Jugend
fanden sich
darinnen zusammen, und man kann sich leicht einen
Begriff machen von
den geistigen Zerstörungen, die eine
derartige
militaristische
Propaganda in Wort, Schrift und Bild verursachen musste.
Wenden wir uns
der
JUGENDORGANISATION
der
sozialistischen Jugend zu. Sie ist ein Mittelding zwischen Jugendpflege und
Jugendbewegung, von denen beiden sie ein wichtiges
1) Wie man
überhaupt bei der ganzen politischen Beeinflussung der Jugend sich
klugerweise vor allem an jene Jugend gehalten hat, die voraussichtlich später in
leitende Stellen des Staates aufzurücken berufen sein konnte. Also die sogenannte
intellektuelle Jugend. Bei ihr hoffte man durch Intensität der Beeinflussung zu
erreichen, was bei der Jugend der Massen durch die Breite gelingen sollte.
210 Symptom an sich
trägt. Man müsste sie zur ersteren zählen insofern,
als sie zum
großen, ja größten Teile von Erwachsenen geschaffen ist,
ebenfalls mit
dem Ziele, der Jugend die Ideale dieser Erwachsenen
zu vermitteln,
und damit dieses Ideal selbst — das bekanntlich
ein rein
politisches ist und über die verneinende Haltung gegen-
über dem Kriege
keinen Zweifel lässt — weiterexistieren und
gedeihen zu
lassen. Es besteht aber insofern ein Unterschied, als
diese Jugend
für Ideale eintritt, die auch zugleich ihrem Interesse,
ihrer
Psychologie entsprechen, und dass sie dafür kämpft, Wünsche
und
Überzeugungen durchzusetzen, die aus den Verhältnissen
und dem Milieu
dieser Jugend in ihr erwachen und erwachsen
müssen.
Dieses eignet
ihr zugleich mit der deutschen
JUGENDBEWEGUNG
Um das Wesen und Handeln dieser Jugendvereinigung zu verstehen, braucht es — leider — einer eingehenderen Darstellung. Sie besteht seit etwa zwei Jahrzehnten und ist in ihrem Kerne eine durchaus revolutionäre Bewegung.1) Ihr eignet, dass sie, im Gegensatz zu jener Institution „von oben", selbst eine Bewegung ist. Eine Bewegung, die innerhalb der Jugend entstand, von der Jugend getragen wird und eine Organisation der Jugend unter sich bezweckt. Revolutionär, nicht auf politischem Gebiete, sondern vielmehr gegen Lebensart und Lebensweise der Gegenwart, gegen die Art und Weise heutiger Erziehung, gegen die durch innere Unwahrheit krampfhaft aufrecht erhaltene Konvention und Tradition. Sie bedeutete insofern in gewissem Sinne eine Organisation gegen die Erwachsenen, und man versteht, dass Leitung und Führung in rein jugendlichen Händen, oder doch mindestens bei wirklich jugend- lichen Geistern liegt. Die innerste Ursache ihrer Entstehung war die „innere Not" der Jugend, ihr Wille und Wollen nach einer 1) Vgl. H.
Blüher: „...dabei steht die Schule als der eigentliche Antipode der Jugend da.
Freilich schloss die offizielle Wandervogelpolitik stets Kompro- misse mit ihr
— eben jene phraseologischen Ertüchtigungsbestrebungen, — im Innern aber
war der Wandervogel stets von revolutionärer Art. Das Vereins- verbot gegen
Schüler wurde klug umgangen, wirklich im großen Stil umgangen. Ich habe
dieses Unternehmen in meiner Geschichte des Wandervogels (2 Bände bei Weise
Tempelhof) den Betrug der Jugend gegen die Schule genannt, und in der Tat kann
man es kaum anders auffassen, als eine große planmäßige Überrumpelung der
Pädagogenkaste.' (Tat. VllI, 7.)
211
neuen Erziehung, nach einer neuen Auffassung von Autorität, die sie sich durch die innere Freiheit bei einer sie als Subjekt wertenden Erziehung gewinnen wollte. Es war der Wille zu einem neuen Leben, das sie „nach eigener Verantwortung leben" wollte. Diese Jugend strebte hinaus in die Natur und lebte mit ihren alten deutschen Volkstänzen und -liedern in einer gewissen, manchmal nahezu sentimentalen Romantik. Sie war lebensreformerisch, mit einem Worte, das speziell ihr alles sagte: sie schaffte sich einen neuen Lebensstil, 1) Ihren Anfang
hat sie mit dem „Wandervogel" genommen, später
kam die
„Freideutsche Jugend" hinzu, die selbst wieder einen
Sammelnamen für
eine Reihe von Bünden darstellt, wie die
„Frei-
schar",
die „Vortruppjugend", die „Monistische Jugend", die
„Freien
Schulgemeinden", den „Anfang-", später den „Aufbruchkreis" und
ihrer Tendenz nach auch die meisten Gruppen der
akademischen
Freistudentenschaften. Da nun diese
Art Jugendvereinigung der
jugendlichen Wesensart bedeutend natürlicher war
als die
Jugendpflege, so bildete die deutsche Jugendbewegung ihr
gegenüber ein
starkes Gegengewicht. Dass sie aber nicht irgend-
wie
militaristisch sein konnte, dürfte aus dem wenigen klar hervorgehen, was über
Entstehungsursachen und Ziele gesagt werden
konnte. Man
dachte auch hier „deutsch", aber es war ein Deutschtum
im kulturellen,
manchmal völkischen Sinne, und man hielt sich,
ohne Ausnahme
darf mit Stolz gesagt werden, von jedem nationalistischen
Chauvinismus ferne. Fragen wir nach der Stellung und
der
Vorbereitung dieser Jugend auf den Krieg, so kann gesagt
werden, dass
sie durch ihre innere Überzeugung gegen den Krieg
arbeitete, muss
aber zugeben, dass sie bei alledem die verhängnisvolle
Unterlassungssünde beging, zu übersehen, dass man außer
politischem
Movens, auch politisches Motum sein kann, und sie
infolgedessen
eines Augenblicks überrumpelt werden und in ein
Netz geraten
konnte, aus dem es einen Ausweg nicht mehr gab.
In ihrem ganzen
Leben dem Schönen zugewandt und in allem
1) Man lebte
wieder draußen, lebte einfach, kochte sich selbst, machte Wochen- ja
monatelange „Fahrten", lernte dabei Land und Leute kennen und lieben und was
mit Schönste daran ist — man fand
wieder ein
Verhältnis der beiden
Geschlechter zueinander, das innerlich schön und rein, nach außen hin aber
etikettelos und natürlich war.
212 Politischen nur
das Hässliche sehend, hatte sie es versäumt, sich
die nötigen
politischen Kenntnisse zu verschaffen, und darum
mangelte ihr
das soziale Gewissen, das ihr mit schneidender Stimme
hätte befehlen
müssen, ihre Ideale und Überzeugungen auch ins
öffentliche
Leben hinauszutragen. Zum Teil mangelte ihr die Stoß-
kraft, zum
größeren Teile die politische Schulung um zu erkennen,
dass es dabei
ohne gewisse Härten nicht abgehen konnte, und
dass dieser
Zustand einer passiven Resistenz ihr Gefahr bringen
musste, wenn nicht
heute, so morgen.
Und das Morgen kam.
Es waren heiße
Sommertage des Jahres 1914. Die deutsche
Jugend genoss —
wie ihre Brüder jenseits der Grenze — in vollen
Zügen die
Freiheit ihrer Ferien. Sie durchwanderte die Welt und
schweifte in
die Ferne .. Die Ernte reifte, der Himmel blaute...
Da kam der Krieg!
Die deutsche
Jugend handelte in diesem Augenblicke eben so
und nicht
anders, als sie handeln konnte. Das heißt, entsprechend
der Erziehung,
die sie genossen, und entsprechend den für
sie
typischen
Merkmalen höchster Intensität der Gefühlswerte, wie feh-
lenden Urteils.
Es ist also
letztlich nicht zu verwundern, dass der Krieg von
der ganzen in
der Schule oder gar noch in der Jugendpflege mili-
taristisch
erzogenen Jugend mit einer Art Jubelruf empfangen wurde.
War ihr doch
seit Jahren als der feierlichste und erhabenste Augen-
blick
dargestellt worden, wenn es „Ernst würde" und es gelte,
„das Vaterland
zu verteidigen". Es war der Augenblick, wo man
„Held"
werden konnte, wo man sich die bisher versagte (siehe
Erziehungssystem)
Männlichkeit erwerben konnte durch seine „Taten".
Von den Jammern
des Krieges hatte man keine Ahnung, konnte
man unter
dieser Jugend keine Ahnung haben. Es kam so
weit,
dass die
Angehörigen der „vaterländischen" Jugendpflege in ihren
Pfadfinderuniformen
nicht nur zu ihren militärischen Übungen gingen,
sondern auch
ins Feld hinaus zogen, und mindestens hinter der
Front und in
der Etappe einige Wochen lang regelrechten Militär-
dienst unter Benutzung
scharfer Waffen taten. 1)
Die
sozialistische Jugend Deutschlands blieb vom ersten
Augenblick an
konsequent und hat wohl von allen Organisationen
1) Nach
Bekanntwerden stellte der Generalstab diesen Mißstand ab.
213 Deutschlands
überhaupt den Kopf am wenigsten verloren. Sie ar-
beitete gegen
den Krieg, protestierte aktiv gegen die Beschränkungen
der
öffentlichen und persönlichen Freiheit und trat vom ersten
Augenblick des
Krieges an — für den Frieden ein. An Stelle der
sozialpatriotisch
gewordenen Arbeiterjugend
wurden zwei prinzipien-
getreue Jugendblätter,
die Proletarierjugend
und das süddeutsche
Morgenrot,
gegründet und Hand in Hand damit ging ein
wertvoller
Schritt
vorwärts zu den Tendenzen der Jugendbewegung, insoferne
man die
Erwachsenen mehr und mehr aus den Leitungen zu entfernen begann
und sie durch jugendliche Kräfte ersetzte. Die sozia-
listische
Jugend beginnt sich unabhängig zu machen. Da obendrein
Teile der
Partei diese Tendenzen unterstützen und zugleich dafür
eintreten, der
Jugend nicht einseitig das sozialistische Dogma nach
dem
Prinzipe „ôte-toi de là que je m'y mette" beizubringen, sondern für eine
politische Bildung mit späterer Selbstentscheidung
der Jugend
arbeiten, sind hier wertvolle Perspektiven geöffnet.
Was geschah nun zum dritten mit der Jugend der deutschen Jugendbewegung? Auch sie handelte natürlich nicht anders, als sie handeln konnte. Sie zog in hellen Scharen hinaus aufs Land, um den Bauern bei der Arbeit zu helfen, und um die Ernte zu sichern. Sie tat Friedensarbeit im Kriege. Soweit sie ins Feld hinaus musste, folgte sie dem Rufe wie einer unkritisierbaren Pflicht. Nur ein kleiner Teil dieser Jugend verhielt sich schon damals zu Beginn des Krieges — nun, sagen wir: sehr zurückhaltend. Auf ihn wird im folgenden sofort näher einzugehen sein. Die Presse der deutschen Jugendbewegung ist auch während des Krieges durchaus würdig geblieben. Aufrichtig gesagt: ich habe keinen gehässigen Artikel oder gehässige Berichte und Briefe finden können. Man trägt alles als unumgängliche notwendige Pflicht, für die man wenig Begeisterung, dafür um so mehr Aus- dauer aufbringt, von Hass aber keine Spur. Im Gegenteil habe ich gerade unter diesen Teilen immer und immer wieder das Menschliche betont gesehen. Viele Aufsätze verraten ungenügende politische Schulung, fast jeder aber Menschlichkeit. Der Krieg, selbst nur möglich durch die auf die Höhe getriebene Militarisierung, brachte als erstes die Militarisierung alles noch Militarisierbaren. Während die ersten Schlachten geschlagen wurden, und während 214 die Jugend noch
bei den Bauern die Ernte retten half, wurden
im Binnenlande
durch eine Unzahl kurz aufeinanderfolgender Erlasse der
verschiedenen Ministerien Jugendkompagnien über Jugend-
kompagnien
gegründet. Der für jene Zeit typische, fast krank-
hafte Drang,
sich irgendwie patriotisch zu „betätigen", zeigte sich
fast nirgends
in gleichem Maße wie bei der Einrichtung dieser
militärischen Jugendvorbereitung.
Schulen,
Militärs, Eltern, Lehrer,
Berufene,
Unberufene, und noch mehr solche, die sich berufen
fühlten,
wandten ihre ganzen schriftstellerischen und organisato-
rischen
Fähigkeiten daran, der militärischen Jugenderziehung Ver-
breitung zu
schaffen. Auf Gemeindekosten oder durch Privat-
stiftungen
wurden Uniformen für die „Jungmannen" beschafft,
Sonn- und freie
Schulnachmittage wurden für die Übungen mit
Beschlag
belegt, man exerzierte, hob Schützengräben aus, hielt
Gelände-,
Ziel-, Terrain- und Scharfschießübungen; jeder Jung-
mann bekam sein
eigenes Gewehr, man grüßte und lebte mili-
tärisch, stand
unter Offiziers- und Unteroffizierskommando, mar-
kierte Angriffe
und kam bei alledem so weit — wofür wir die
Belege dem
verdienten Professor Dr. Nicolai an der Berliner Uni-
versität verdanken
— dass sich die jungen Leute bei einem „Nah-
kampf"
ernstlich zu Leibe rückten und sich mit den Kolben die
Köpfe blutig
schlugen.1)
Trotz alledem: im Anfange war der Erfolg unter der Jugend selbst ein sehr, sehr großer. Vor allem natürlich deshalb, weil die ganzen Gruppen der Jugendpflege mit fliegenden Fahnen zu den Jugendkompagnien übergingen. Diese Begeisterung unter der Jugend aber dauerte, wie jedes derartige, auf Augenblicksaffekte begründete Strohfeuer, nur eine ganz kurze Weile, und schon wenige Wochen später begann der katastrophale Rückstrom aus den Jugendkompagnien. Sie gingen innerhalb kurzer Zeit auf ein Fünftel, ja ein Sechstel ihrer Anfangsbestände zurück. Das war die unzweideutige Antwort, die die deutsche Jugend denen gab, die sie vom 14. und 15. Lebensjahre ab zu militarisieren versuchten. Diese Antwort verwunderte den wirklichen Pädagogen nicht, der wusste, was der jugendlichen Psyche ent- 1) Eine nicht dementierte Nachricht besagt, dass bei Unruhen in Düsseldorf das Militär sich weigerte, gegen die Massen vorzugehen, die Jugendwehr aber diese jämmerliche Pflicht mit Hurra übernahm. 215 spricht und was
ihr widerstrebt. Aber sie entfachte verständlicher-
weise die laute
Entrüstung derer, die sich zuerst um die Schaffung
der
Jugendkompagnien „verdient" gemacht hatten. Anstatt aber
den einzig
richtigen und logischen Schluss aus dieser Tatsache zu
ziehen, dass
diese militärische Jugendvorbereitung eben durch
und durch
unjugendlich ist und daher von der Jugend abgelehnt
wurde, anstatt
dessen verlangte man an Stelle der bisherigen Freiwilligkeit den
gesetzlichen Zwang der Teilnahme.
Auf die Argumente, die benutzt wurden, diesen Gedanken populär zu machen, braucht im Einzelnen nicht eingegangen zu werden. Man stellte das „soziale" Moment in den Vordergrund, sprach von einer Gesundung des Volkes, von einem sozialen Ausgleich und einer sittlichen und körperlichen Festigung der Jugend. All diese Argumente sind für die gewollte Form einer militärischen Jugend- vorbereitung natürlich hinfällig. Denn es ist ein alter Satz, dass die Gesundung eines Volkes ganz und gar nicht durch Kommandodrill und Unteroffizierston, durch Uniform und Waffentragen erreicht wird, dass ein sozialer Ausgleich, wenn er nicht bloß eine Ver- mischung bleiben soll, niemals zwangsweise herbeigeführt werden kann, und dass man über die Moral und Sittlichkeit einer Erziehung, die einem Kinde Gewehr, Schwert und andere Mord- waffen in die Hand drückt, sehr verschiedener Ansicht sein kann. Das aber würde dieses Gesetz bedeuten: Stellung der ganzen deutschen Jugend unter Kommandodrill und Unteroffizierston und unmittelbare geistige Hinerziehung zum Kriege, für den man die psychologischen Voraussetzungen in den Herzen der Jugend schafft. Dagegen wehrte sich der beste Teil der deutschen Jugend. Denn ihm ist nicht verborgen geblieben, was der wirkliche Grund dieses militärischen Jugendvorbereitungsgesetzes ist. Der aber ist kein sozialer, auch kein militärischer, sondern ein rein politischer. Was erreicht werden soll ist dieses: die heutige Generation in Deutschland ist dem bisherigen, alldeutschen, politischen System — mögen die Zeitungen dieser Parteien immerhin auch das Gegenteil behaupten, wer die deutschen Verhältnisse kennt, glaubt ihnen ja doch nicht — nachdem sie zwei und ein halbes Jahr in den Schützengräben gelegen hat und die fürchterlichen Schrecken des Krieges über sie hingebraust sind, durch und durch feind und ab- hold geworden. Dieser fundamentale Stimmungswechsel innerhalb 216
des deutschen Volkes, vor allem der Armee, ist der Reaktion nicht unbekannt geblieben. Um nun dennoch — und gegen das Volksempfinden — ihren berüchtigten „alten Geist" weiterpflegen zu können, wendet sie sich an die Jugend. Darum auch soll das Jugendwehrgesetz geschaffen werden. Einige seiner Hauptvorkämpfer (die Allzugeschäftigen ! !) haben diesem Gedanken laut Ausdruck gegeben. Sagt doch der Abgeordnete Müller-Meiningen in seiner Rede Wir brauchen ein Reichsjugendwehrgesetz die bezeichnenden Worte: „Sie (die militärische Jugendvorbereitung) ist eine Forderung der Staatsklugheit ..." Und der Wirkliche Geheime Oberregierungsrat Herr Adolf Matthias verrät in seinem Buche Deutsche Wehrkraft und kommendes Geschlecht, aus unserer deutschen Jugend müsse werden „ein Riese an Wehrkraft, vor dem unseren Feinden schon im Frieden Hören und Sehen vergeht". Was tat dagegen die deutsche Jugend? Wir wissen, dass z. B. die Berliner Freistudentenschaft eine mutige Resolution erließ, des Inhalts, dass sie bereit sei, gegen die für den Frieden geplante militärische Jugendvorbereitung anzukämpfen. Wir wissen aber vielleicht nicht alle, zu welchen „Schwierigkeiten" es daraufhin gegen die Freistudentenschaft und ihre einzelnen Anhänger kam und welcher „Apparat" in Szene gesetzt wurde. Dies geschah besonders auf Betreiben des damaligen Rektors, Exzellenz V. Wilamowitz Möllendorf. Desselben, der kurz vorher einen der tüchtigsten Berliner Studenten, Ernst Joël, von der Universität relegiert hatte, weil er sich gegen den militärischen Geist in seinem Organ Der Aufbruch vergangen hatte. Es kann an dieser Stelle besonders betont werden, dass überhaupt fast die ganze Arbeit gegen die Militarisierung der Jugend — abgesehen von der Arbeiterjugend, die durch ihre Zentralstelle theoretisch und praktisch den Krieg gegen diese Bestrebungen erklären ließ — von jungen akademischen Kräften geleistet wird. So erschienen in der geradezu vorbildlich tapferen freistudentischen Zeitschrift Die Neue Hochschule bereits verschiedene sehr energische Aufsätze. Die Akademische Rundschau kämpft Hand in Hand mit ihr im gleichen Sinne. In den Hauptstädten und in der Provinz wurde von selten dieser Jugend an die Presse herangetreten und unter anderem erreicht, dass im Berliner Tageblatt ein maßgebender Aufsatz von Professor Fr. W. Foerster erschien, 217
der den Titel Die militärische Jugendvorbereitung vom pädagogischen Standpunkt trug. Ihm folgte ein weiterer, W. Heines. Als in Sachsen-Koburg das Gesetzblatt einen Jugendwehrgesetz- entwurf brachte, wurden alle möglichen Schritte getan, durch genaue Information der Abgeordneten und durch Artikelserien in der dortigen Presse das Gesetz zum Scheitern zu bringen. Im übrigen wurde darauf hingearbeitet, möglichst viele Zeitungen und Zeitschriften für den eigenen Standpunkt zu gewinnen. So erschienen auch in der Schaubühne etliche Aufsätze. In den Schriften zur Jugendbewegung veröffentlichte der Göttinger Privatdozent Leonard Nelson seinen Appell Erziehung zur Tapferkeit. Noch eine ganze Reihe anderer Zeitschriften fanden sich bereit, im gleichen Sinne zu arbeiten, wie die Tat, die Weißen Blätter, die Aktion, die Neue Generation etc. Aber umsonst schrie die deutsche Jugend: „Sir, gebt uns Gedankenfreiheit." Die wertvollsten Manuskripte müssen unbenutzt liegen bleiben, da ihre Veröffentlichung nicht möglich ist. Eine größere Broschüre mit Beiträgen von Leopold v. Wiese, Baron Gleichen-Russwurm, Pro- fessor Foerster, Professor Nicolai wurde zuerst im Manuskript beschlagnahmt, dann wieder freigegeben, im Drucke aber wieder aufgehalten und verzögert. Ende 1915 begonnen, ist sie unter dem Titel Das Reichsjugendwehrgesetz im Sommer 1917 — von Professor Foerster als Herausgeber gezeichnet — erschienen. Die Jugend selbst ist darin mit verschiedenen Arbeiten (Karl Vetter, Max Hodann, Rudolf Leonhard, der Verfasser) vertreten. Durch persönliche Fühlungsnahme gelang es auch, eine Reihe einfluss- reicher Persönlichkeiten zu gewinnen, ihren Einfluss gegen die Militarisierung aufzuwenden. Wie weit dadurch ein praktischer Erfolg erreicht worden ist, lässt sich natürlich kaum sagen, immerhin ist es nahezu ausschließlich durch diesen energischen Kampf der deutschen Jugend gelungen, zu erreichen, dass der Gesetzentwurf bis heute in den ministeriellen Schränken liegen geblieben ist. Und je länger er dort bleibt, desto sicherer wird seine Verwerfung, denn die Arbeit geht von Tag zu Tag weiter und verliert nicht, sondern gewinnt immer mehr an Intensität. (Schluss im
nächsten Hefte.)
GENF JAKOB FELDNER
DEUTSCHE JUGEND UND WELTKRIEG (Schluss) Im ersten Teile
dieser Arbeit wurde aufgezeigt, wie in kriegerischem Sinne vorbereitet
die
deutsche Jugend im Jahre 1914 der Katastrophe
gegenübertrat, in sich wesentlich gespalten nach Jugendpflege, sozialistischer
Jugendorganisation und Jugendbewegung. Wir haben die
Kontraste dieser Stellungsnahme kennen gelernt, und zum Ende gesehen, wie
sich
bei der Frage der militärischen Jugendvorbereitung
bereits ein bedeutender Widerstand und eine erfolgreiche Gegenaktion
aus den
Reihen der Jugend erhob.
Es gab aber außer dieser Frage der Militarisierung für die deutsche Jugend auch noch andere von Bedeutung. Die Arbeiter- jugend wurde besonders betroffen von der Verfügung des Spar- zwanges für Jugendliche. Mag er im einzelnen Falle selbst segens- reich gewesen sein, als Prinzip bleibt er ein unberechtigter Eingriff in das persönliche Verfügungsrecht. So fasste ihn auch der größte Teil der betroffenen Jugend auf, und es kam zu recht heftigen Auseinandersetzungen, wobei in zahlreichen Fällen die Jugend Herr der Situation geblieben ist, was einem kommandierenden General gegenüber in der Jetztzeit nicht eben eine kleine Aufgabe ist. Am bekanntesten dürfte allgemein der „Jugendaufstand" in Braunschweig sein, bei dem etwa dreitausend Jugendliche außerhalb der Stadt eine große Demonstration veranstalteten, und die zur Folge hatte, dass der Sparzwang innerhalb weniger als achtundvierzig Stunden wieder verschwand. Das ist nicht der einzige Fall; wer näheres Interesse gerade für dieses Thema und diesen Kampf der Jugend hat, der findet das Material dazu zum Teil in der Hamburger Proletarierjugend, andererseits und besser noch in der in Zürich erscheinenden Jugendinternationale. Für die akademische Jugend Deutschlands brachte der Krieg ebenfalls schwere Kämpfe, vor allem den Kampf um die Übernationalität der Wissenschaft. Die deutsche akademische Jugend 304 musste mit Bedauern sehen,
dass
ein großer Teil ihrer Lehrkräfte trotz aller früherer
Behauptungen
und Beteuerungen vom Strudel der Kriegspsychose ganz
und gar
mitgerissen wurde. Ich brauche nicht auf die
bedauerlichen
Erklärungen der „93% oder die Tätigkeit eines
Mannes wie Dietrich Schäfer hinzuweisen. Die akademische Jugend musste
sehen,
wie die Universität die Forderungen ganz und gar nicht
erfüllte, die man an sie als höchst- entwickelte Pflegestätte
der
übernationalen Wissenschaft zu stellen das Recht zu haben glaubte.1)
Maßgebend für exklusive Hochschulpolitik gegenüber
Angehörigen „feindlicher" Staaten (nach dem Kriege!!) ist
die Eingabe des Ausschusses der Berliner Studentenschaft an das
Kultusministerium.
Sic zielte auf zahlenmäßige und finanzielle Beschränkungen
der
Ausländer hin, und erreichte in manchen Punkten geradezu
den
Charakter von Schikanen, wie z. B. in der Frage des
Nachweises der
„Mittel zu einem standesgemäßen Leben". Die
Eingabe dürfte im allgemeinen bekannt sein,
da sie
auch in der ausländischen
Presse, z.
B. der Neuen Zürcher
Zeitung auszugsweise wiedergegeben
wurde. Es
ist selbstverständlich, dass diese Richtung — die
allerdings unter der Studentenschaft selbst die weiteste Unterstützung
der sogenannten Korporierten hat — nicht unwider- sprochen bleiben konnte.
Es kam
zum Wiederaufleben des „Inter- nationalen
Studentenvereins"
in Berlin, der unter den augenblick- lichen Verhältnissen
verständlicherweise, fast nur aus Deutschen bestand. Er wurde von der
reaktionären Presse aufs schamloseste angegriffen und
verdächtigt, ließ
sich aber dadurch in seinem Ziele, eine Gegeneingabe der
Berliner
Studentenschaft anderer Anschauung an das Kultusministerium
zu
richten, nicht einschüchtern. Darin wird die rechtliche
Gleichstellung der Ausländer gefordert. Um der Eingabe ein größeres
Gewicht
zu geben, und den gehässigen
1) Aus dieser Erkenntnis heraus setzte auch während der Kriegszeit — doch insofern nur unmittelbar mit dem Kriege in Zusammenhang - eine immer stärker werdende Hochschulreformbewegung unter der akademischen Jugend ein. Vergl. dazu die ganz prächtig redigierte Zeitschrift für Hochschulreform und Heft I, 4 der Schriften zur Jugendbewegung spezieil über „Hochschulfragen". Außerdem sind von Bedeutung Ernst Joëls bei Eugen Diederichs erschienene Wartende Hochschule und der Universitätsrevolutionare Artikel R. Leonhards in Kurt Hillers Ziel (Georg Müller. München 191t). der eine "Sezession der Universität" fordert und das Ideal einer Hochschule aufstellt, in der die jungen Akademiker zu durchgebildeten Menschen, und nicht allein zu willenlos ergebenen Staatssklaven und -beamten erzogen werden.
305 Angriffen der
alldeutschen Presse zu begegnen, wurden ca. hundert
Exemplare
dieses Entwurfes an bedeutende Gelehrte, Staatsmänner,
Politiker des
In- und Auslandes gegeben und Kritiken und Stellung-
nahme erbeten. Es gelang
in der
Tat, ca. achtzig Antworten —
fast durchweg zustimmenden
Inhalts — zu bekommen.
Eine andere Angelegenheit, die geeignet war, die Jugend zum Kampfe aufzurufen, war der sogenannte Fall Foerster. Professor Fr. M. Foerster, der bekannte Pädagoge der Münchner Universität, hatte in der Friedenswarte einen Artikel veröffentlicht, der eine ziemlich absprechende Kritik der Bismarckschen Politik darstellt, und trug die gleichen Gedanken in seinem Kolleg an der Münchner Universität vor. Es kam zu den bekannten wütenden, meist all- deutschen Kreisen entstammenden Presseangriffen, die erklärten : „Derartig schiefe und unhistorische Auffassungen... könnten durch die akademische Freiheit nicht mehr gedeckt werden," und der bekannten Fakultätserklärung, die einer regelrechten Unterdrückung der Lehrfreiheit gleichkam. Wie Professor Foerster mir persönlich erklärte, gab es kein besseres Mittel, Propaganda für seine Ideen zu machen. Er hatte wie im Sturme die Sympathien der Jugend für sich, mochte sie nun in allen Punkten seiner Lehre mitüberein- stimmen oder nicht. Öffentliche Beifallskundgebungen von selten der Studentenschaft folgten, und neben einer Unmenge persönlicher Sympathiekundgebungen junger Akademiker kam es zu summarischen Kundgebungen von denen folgende, von Münchner Studenten abgefasste hier als besonders bezeichnend für die Auffassung dieses Einzelfalles, wie auch der ganzen augenblicklichen Verhältnisse durch die Jugend ist. Sie wurde am 8. Juli 1916 veröffentlicht und hatte folgenden Wortlaut: „Da wir nach wie vor eine Beschränkung und einen Angriff auf die akademische Lehrfreiheit darin erblicken, dass eine Gruppe alldeutscher Studenten und Professoren eine andere Überzeugung als ihre Doktrinen zu unterdrücken suchen, erheben wir, die den verschiedensten geistigen Richtungen angehören, auch nicht für alle Ideen Professor Foersters Partei nehmen wollen, gegen das unwürdige Kesseltreiben gegen einen hochverdienten, in ganz 306 Deutschland
angesehenen Forscher und Menschen entschieden
Protest. Wir
möchten dem Mann, der den Mut hat, unbekümmert
und unbeirrt von der
Tagesstimmung seine Meinung zum Heile
des Vaterlandes zu
vertreten,
der, obgleich er dabei auf unritter-
lichen Widerspruch
gestoßen ist,
sich durch keine Bedrohung
in dem Bekenntnis dessen,
was er
für Wahrheit hält, einschüch-
tern ließ, unsere
Bewunderung
aussprechen und ihm zum Ausdruck bringen, dass, wie
man auch
zu dem Inhalt seiner Äußerung sich stellen möge,
die bei
diesen ungerechten Angriffen
bewiesene echte deutsche,
ritterliche Gerechtigkeit das schon
vorhandene große Vertrauen
zu ihm
als geistigem Führer der
Jugend nur
gesteigert und gefördert hat."
Die Neue Hochschule widmete dieser Affäre eine eigene Nummer (Nr. I, 10) ; in der Mehrzahl der Jugendzeitschriften fand man Stellungnahmen für Foersters Verhalten; in Berlin sollte eine eigene Versammlung der gesamten Studentenschaft einberufen werden. 1) Die ganze Jugend der deutschen Hochschulen war in Wallung, und trat ebenso für ihren Führer ein, wie kurz vorher bei dessen Relegierung für Ernst Joël, dessen „Fall" bis vor die Parlamente getragen wurde, um ihm die, jetzt auch erreichte, Genugtuung zu verschaffen. Einen besonders heftigen Kampf hatte die deutsche Jugend — soweit sie sich zu diesem Kampfe verantwortlich fühlte — auch gegen den patriotischen Schund zu kämpfen. Auch hier musste die Jugend gutmachen, was ihre sogenannten Leiter : Lehrer, Professoren etc., versündigt hatten. Unter anderen war es die Berliner Freie Studentenschaft, die den einzigen möglichen Weg wählte und dem Schlechten das Gute gegenüberstellte; sie ließ viele, viele Tausende von Flugblättern au die deutsche Jugend hinausflattern, die besonders dank ihrer Wohlfeilheit (à 10 Pf.) große Verbreitung fanden. 2) Was man damit wollte, schrieb die Neue Hochschule: „Die Flugblätter wollen der im Kampf und in der Heimat stehenden Jugend die Forderungen ihrer unverwirklichten Meister in Erinnerung bringen und sie zur Erfüllung bereit machen. 1) Der Rektor v. Wilamowitz-Möllendorf verbot sie im letzen Augenblick. 2) Bis Herbst 1916 allein 30,000 Stück. 307 Nicht auf
nächstliegende, tagespolitische Kämpfe und Reformen
darf es für die Jugend
ankommen;
vor allem Wirken nach
außen gilt es, als
aufbauende
Kräfte den Mut zur Wahrheit und
den Mut zur Wirklichkeit
zu wecken.
Die Blätter geben den
Geist eines
vornehmen und innerlichen Deutschtums wieder,
das auf eine
Verwirklichung harrende
Idee ist. Deshalb, und
weil dieses Deutschtum
weder
durch Waffengewalt geschaffen
noch vernichtet werden
kann, ist
die weiteste Verbreitung dieser
Blätter von
größter Bedeutung. Vorzüglich eignen sie sich für
den Versand ins
Feld."
Bei solcher geistiger Auffassung wird es nicht verwundern, wenn die deutsche Jugend, dem Kriege zum Trotz, Männer wie Fichte, Platon, Schleiermacher, Kleist, Jean Paul, John Ruskin, Leo Tolstoij, Voltaire, Kierkegaard, Wienbarg, Dostojewski, zu ihren unverwirklichten Meistern rechnete. Ausgewählte Stücke aus ihren Werken speziell auf politischem Gebiete gingen als solche Flugblätter hinaus. Neben dieser
politisch-philosophischen, hat die schöne Literatur
und ihre Verbreitung im
Kampfe
gegen den Schund einen Erfolg
zu verzeichnen, der
ebenfalls im
letzten Sinne der deutschen Jugend
zuzurechnen ist. Der junge
Münchner Publizist Wilhelm Herzog
hat ein Unternehmen, die Weltliteratur,
geschaffen, das die besten
Schöpfungen
aller Länder zu billigsten Preisen (ebenfalls 10 Pf.)
gerade denen vermittelt,
die
heute am meisten darnach lechzen
und denen von reaktionärer
Seite
bisher Minderwertiges gegeben
wurde, das sie in
Ermangelung des
Guten widerwillig aber doch
gierig verschlangen.
Was bedeutet nun dies alles? fragt ein anderer im hitzigsten Kampfe der Jugend stehender Führer aus der Jugendbewegung, M. Hodann, der erste Redakteur der Schriften zur Jugendbewegung, und gibt selbst die Antwort: „Es bedeutet, dass der Jugend, soweit sie Anspruch auf kulturelle Zuständigkeit macht, heute keine andere Aufgabe mehr gestellt ist, außer dieser; für die Gewissensfreiheit in Deutschland zu kämpfen."
Für die Reste
der deutschen Jugend bleibt eine unendliche
Aufgabe. Es
bleibt ihr, die Fehler der bisherigen Zeit zu er-
308
kennen, zu bessern und vorzubeugen, dass sich nicht wieder ereigne, was Europa heute zum Eigentode treibt. Reste werden es sein: aber um so größere Verantwortung ruht auf diesen wenigen. Wir haben erleben müssen, dass es die Erziehung im beson- deren Maße war, an der es mangelte. Schon die einzige Möglichkeit des heutigen Weltkrieges war nur gegeben dadurch, dass man über eine jahrelang ganz bestimmt beeinflusste Jugend vcrfügte. Hier liegt der Angriffspunkt auf das Übel. Allen immer und immer wieder zum Kriege drängenden Elementen wird die Entfaltung ihrer verhängnisvollen Tätigkeit unterbunden sein, wenn ihnen das Material fehlen wird, das bereitwillig ihre kriegerischen Absichten verwirklicht. Hat man den kommenden Geschlechtern eine Erziehung angedeihen lassen, die sie nicht zu der heutigen politischen Einseitigkeit verbannt, sondern ihr die Möglichkeit gibt» im öffentlichen Leben mit einem selbständigen Urteil dazustehen, so ist eines der wichtigsten Kulturziele erreicht. Dazu muss an die Stelle der bisherigen politischen Beeinflussung die politische Schulung treten. Das will besagen : geschicht- liches Wissen und geschichtliche Fakta müssen der Jugend tendenz- los und so objektiv, als es der heutige Stand der geschichtlichen Forschung zulässt, übermittelt werden. Dies soll zum Zwecke haben, jeden einzelnen heranwachsenden jungen Menschen dadurch in die Lage zu bringen, auf Grund dieser allseitig gewonnenen Kennt- nisse politisch selbständig und vorurteilsfrei zu urteilen. Wobei sich ein ausgesprochenes Verantwortlichkeitsgefühl für die weitere Entwicklung des eigenen Volkes und seiner Kultur ganz von selbst einstellen wird. Eingehendste Kenntnisse der sozialen Schichtung, der sozialen Entwicklung, Soziologie und Wirtschaftsgeschichte, das sind Forderungen, die zum Gedeihen dieser neuen politischen Schulung ganz unvermeidlich sind Man spreche nicht von einer Vermehrung der Fächer. Darauf kommt es gar nicht an, sondern auf den Geist, der vorherrscht. Auf die Atmosphäre und das Gesamtmilieu. Aus einer solch erzogenen Jugend werden allen Völkern die besten Bürger erwachsen. Eine freiere, demokratische Gesinnung ist die selbstverständliche Konsequenz. Die politische Verhetzung im Innern und vor allem auch nach außen hin wird ein Ende haben, da sie keinen fruchtbaren Boden mehr finden wird. Die 309 Jugend wird die
Fehler am eigenen Volke richtig sehen lernen
und sich verpflichtet
fühlen,
nicht wie früher sie zu vertuschen,
sondern zu verbessern, wo
ein
Schade war. Feindschaft zwischen
den Völkern wird so von
innen
heraus durch die höhere Erkenntnis
des Einzelnen überwunden
werden.
Nicht im Verlaufe einer, sehr
wohl aber im
Zusammenwirken mit
andern gleichgerichteten Ten-
denzen, in zwei oder drei
Generationen. Das sind die Kriegsziele,
die der Pädagoge stellen
muss,
der es mit der deutschen Jugend
und mit dem Wohle der
Menschheit
ehrlich gut meint.
Wie stellt sich nun zu diesen Nach-Kriegs-Aufgaben die Jugend selbst? Von der Jugendpflege haben wir verständlicherweise nichts zu erwarten. Diese scheint sich nur allenfalls vermitteleuropäisieren zu wollen. Der im großen Stile angelegte, in Berlin geschaffene „Jugendtreubund der Zentralmächte" mit seinen 20 Exzellenzen im Ehrenpräsidium und seinen 120 Exzellenzen, Kommerzien-, Regierungs-, Hof- und sonstigen Räten, Rittergutsbesitzern etc. (Pädagoge findet sich keiner dabei !) im Ehrenausschuss, scheint aussichtsreicher Anfang sein zu wollen. 1) Von der sozialistischen Jugend sprach ich in diesem Sinne schon. Was uns im besonderen angeht, ist — glaube ich — die Jugendbewegung. Handelt es sich doch bei ihr speziell um die intellektuelle Jugend, die, groß geworden, in die leitenden Stellen
1) Der
schwarz-weiß-rot
arabeskengeschmückte, hochfeudale Aufruf bringt folgendes Programm:
.Für die
Zukunft der
Zentralmächte und ihrer Verbündeten besteht die
bedingungslose
Notwendigkeit,
den Geist der bundes- und waffen- brüderlichen Treue
in die Herzen
unserer
heranwachsenden Jugend zu verpflanzen und zu
pflegen. Nur die
unerschütterliche, aufrichtige Bundestreue gab uns in diesem
gewaltigsten aller
Kriege die
Kraft, dem Ansturm weitüberlegener Feindeszahl
standzuhalten. Es
ist daher
unsere Pflicht, die Jugend der Zentral- mächte zum
gegenseitigen
Verständnis, zur
gegenseitigen Achtung, Freundschaft und Treue zu
erziehen, denn der
Jugcnd
gehört die Zukunft. Ihr allein wird es vorbehalten
bleiben, die
erkämpfte
Erhaltung unserer Freiheit und Unabhängigkeit zu pflegen und
wenn es
gilt, sie zu
verteidigen. — Der Jugend-Treubund der ZentraImächte
und ihrer
Verbündeten
erstrebt die Erziehung zur gegenseitigen Hilfeleistung auf
nationalen und
wirtschaftlichen
Gebieten und die Förderung bestehender
freundschaftlicher
Beziehungen.
Er wendet sich an alle ohne Unterschied des
Geschlechts, des
Alters und des
Glaubens, an alle, die ihr Vaterland lieben, sich um
seine Fahne zu
scharen, um
mitzuhelfen an der Erfüllung der von ihm
übernommenen, so
dringend
notwendigen nationalen Aufgaben für unsere
hoffnungsvolle Jugend —
für das
Vaterland! — Es ist die Macht, die stets das Gute will und
stets das Böse
schafft,
wie einer der bekanntesten Schweizer Psychologen das
Unternehmen
charakterisierte.
310 aufrückt, die über die
Presse und
damit über die öffentliche Meinung verfügen, kurzum die
Direktiven des öffentlichen Lebens
geben wird. Und auf diese
Jugend
(trotz manchem Übel, das
nicht verschwiegen werden
soll)
kann ernstlich gerechnet werden.
Denn gerade
dort, wo ihre „Schuld am Weltkriege" nachgewiesen
werden musste, im Fehlen
ihres
sozialen und politischen Ge-
wissens, scheint ein
wertvoller
Schritt künftiger, öffentlicher Verantwortlichkeit sich
anzubahnen.
Grundsätzlicher Umschwung steht
bevor, der besonders von
einigen
Führern dieser Jugend tatkräftigst
vorbereitet wird. An
Stelle der
Romantik scheint Aktivität durchzubrechen, die nicht mehr
Erziehung um der Erziehung, sondern
um der Erreichung
bestimmter
Ziele willen fordert. Nenne sich dieses
Ziel ohne
Akzent, aber in der vollen Bedeutung des Wortes:
DENKEN ZU LERNEN Erster
Anhaltspunkt für eine solche Entwicklung ist die geschil-
derte Handlungsweise
während des
Krieges. Obendrein arbeiten
Männer wie
Wynecken, Lietz, Geheeb 1)
(die Ideen der Jugend-
bewegung im praktischen
Leben
verwirklichend) unmittelbar für
dieses Ziel, indem sie in
ihren
Schulen eine Erziehung der Selbständigkeit,
Urteilsfähigkeit und
Verantwortlichkeit verfolgen. Auch
Männer von der
Auffassung eines Foerster, 2)
Kerschensteiner etc.
— trotz bestehender
Kontroversen,
und selbst wenn ihre Erziehungs-
programme nicht im einzelnen
solche Pointiertheit besitzen — tun
das Wertvollste in diesem
Sinne.
Was die Jugend selbst
anbetrifft,
so teilt sich die innerhalb
der Jugendbewegung für
„Politisierung" eintretende in zwei Teile
(deutscher
Partikularismus!) in
einen der vorzüglich geistig, und
1) Letzterer
schrieb persönlich
an den
Verfasser : „Es tut mir leid, die Anfrage brieflich
nicht nur
infolge Zeitmangel gegenwärtig nicht
erschöpfend beantworten zu
können. Heute nur
so viel,
dass unsere Zöglinge eine sehr gründliche und
weitgehende politische
Schulung
erhalten, vor allem durch unsere Art des
Geschichtsunterrichts, der
im
wesentlichen Kulturgeschichte ist, aber auch noch durch das
übrige hier
herrschende
geistige Leben ' (Versteht man den
zensurumgehenden Stil?)
2) Vergl. sein prachtiges Buch : Die deutsche Jugend und der Weltkrieg, dem einzig und allein der Fehler anhängt, dass es die Jugend nicht zu Worte kommen lässt. Er zeigt darin prächtig auf, was die deutsche Jugend beseele und interessieren muss. Dass das Buch neuerdings in Deutschland verboten wurde, ist ein Selbsturteil, wie es nicht leicht ein zweites gibt. 311 den anderen der vorzüglich
praktisch gearbeitet wissen will. Aufbruchkreis (Aufbruch) 1)
gegen Zentralarbeitsstätte für Jugendbewegung (Schriften
zur Jugendbewegung).
2)
Es ist aber zu hoffen,
dass aus der Not der Zeit
heraus
die beiden Richtungen sich zu
einer Aktivität auf
geisterfüllter Grundlage vereinen.
Die Pflicht
wäre nicht erfüllt, wollte man nicht zum mindest
in wenigen Worten der
deutschen
Künstlerjugend gedenken, bei
der sich in Literatur und
gleicherweise in den sonstigen schönen
Künsten der
Sieg einer neuen Gesinnung zeigte. Die „Neue
Sezession
München 1916" war ein wuchtiger, großer Protest gegen
den Wirrwarr der Zeit. In
der
Literatur aber ist von Franz Werfel
1) Dank der ,
patriotischen"
Betätigung einiger Berliner Korpsstudenten auf Kriegsdauer
verboten. Vergl.
auch an dieser
Stelle Joëls Die Jugend
vor der sozialen
Frage
und Bauermeisters Vom
Klassenkampf der Jugend,
beide verlegt bei Diederichs, der
sich
überhaupt seit
neuerer Zeit in anerkennenswertester Weise dieser Ideen
angenommen
hat. In seinem
Verlage erscheinen der Aufbruch sowie das Organ
Wyneckens, die Freie
Schulgemeinde,
auf das nicht genug hingewiesen werden
kann,
Wyneckens Buch Schule
und Jugendkultur und sein prächtiger
Protest Gegen den
altsprachlichen
Unterricht, ein prägnantes Kultur-Erziehungsprogramm
darstellend. In
Eugen Diederichs Tat
erschienen im Oktober und
November 1916 eine
Reihe Aufsätze,
die das Beste darstellen, um sich einen genauen
und schnellen
Überblick
über Wollen und Kämpfe der Jugend- bewegung zu
verschaffen.
2) Vergl zu allem oben Gesagten das Programm der C. A. S. auf dem Gebiete politischer Erziehung: „Die C. A. S. bezweckt den Zusammenschluss einzelner Jugendlicher aller Länder, Klassen und Schichten im Alter von 17—25 Jahren. In der Verständigung der Jugend verschiedener Nationen untereinander, als Vertreter der heranwachsenden Politikergeneration, sieht die C .A. S. das Fundament für den Wiederaufbau Europas und die Erreichung einer neuen politischen Kultur, für die erforderliche internationale Aktivität aller Verpflichteten. Die C. A. S. fordert für die Jugend das Recht und macht es den einzelnen Regierungen zur Pflicht, die Erziehung der Jugend zu politisch denk- und urteilsfähigen Menschen ohne Einschränkung und Zuhilfenahme irgendwelches, den Geist der Menschheitskultur vergiftenden Chauvinismus durchzufüliren. Die Jugend selbst hat solidarisch für dieses Recht einzustehen, und muss dort, wo es an fruchtbarer Initiative fehlt, zur gerechten Selbsthilfe schreiten. Von der politischen Erziehung selbst verlangt die C. A. S., dass für sie nur die Massstäbe der Kultur und des Rechts ausschlaggebend sein dürfen, dass sie keiner irgendwie gearteten traditio nellen Bevormundung Vorschub leistet. Die C. A. S. erblickt nur in dem politisch erzogenen Menschen den wahren Bürgen für ein dauerhaftes friedliches Zusammenarbeiten der Völker. Politische Entschlüsse, soweit solche die Un- antastbarkeit und Freiheit der Jugend angreifen, müssen von der Jugend geschlossen auf dem legalen Wege des öffentlichen Einspruchs bekämpft werden, und es muss der Jugend, die bei allen Staaten in der militärischen Bilanz ein beachtenswerter Posten war, gelingen, sich auch endlich die nötige zivile Geltung zu verschaffen . . ." 312 zu reden, der seinen
verachtenden
Fluch gegen die Wortemacher
des Kriegs schleudert,
von Ehrensteins
namenlos schmerzlichen
Versen: Der
Mensch schreit und von
Bechers politischen Dichtungen
An
Europa und Verbrüderung. Th. Däubler sang
der Zeit zum
Trotz seine
dankende, stolze Hymne
an Italien. Wilhelm Herzog
zog bis zum zensurellen
Heldentode den Ungeist der Zeit vor sein
mustergültiges Forum.
Heute sehen wir
Pfemferts Aktion
um ihrer
Stellung gegen
den Krieg willen ihre Anhänger um das etliche
vervielfachen. Endlich die
in
Berlin-Charlottenburg erscheinende
Neue
Jugend, um die sich
speziell ein Kreis Berliner Künstlerjugend schart.
Wer nicht mit der Jugend in Kontakt war, konnte über all dieses nichts Bestimmtes wissen oder erfahren. Bekannte Gewaltumstände ermöglichten dem alldeutschen System, die Kenntnis von dieser Bewegung dem Auslande vorzuenthalten. Die Jugend hat sich dadurch nicht scheu und nicht mutlos machen lassen. Sie ist zum großen Teile einig — wie gezeigt werden konnte — in dem energischsten Kampfe gegen dieses System und sein Verbrechen am deutschen Volke und der ganzen Welt. Sie weiß sich damit einig mit ihren tüchtigsten jugendlichen Führern, um die Monarchie jener Parteien zu brechen, die durch Gewalt und Macht des Säbels dem deutschen Volke, der deutschen Jugend widerrechtlich Gewissens- und Geistesfreiheit und friedliches Glück der Nation vorenthalten. GENF JACOB FELDNER Aus: NEUE SCHWEIZER RUNDSCHAU, WISSEN UND LEBEN XI.Jg., Dez.1917, Heft 5, S.209-218 und Heft 6, S.304-312
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