Der
deutschbaltische Dichter und Schriftsteller Bruno Goetz (1885-1954) kam
1905 nach Ascona. Er hat später zwei Romane über den Monte Verità
verfasst: ‚Das
Reich ohne Raum’ (1919) und ‚Das göttliche Gesicht’
(1927). Im erstgenannten Buch, das von C. G. Jung sehr hoch bewertet
und in seinen Seminaren besprochen wurde, steht ein „Wanderer im
heilgen Narrenkleid“ im Mittelpunkt. Der zweite Roman behandelt
unübersehbar das Schicksal der Siedlerin Lotte Hattemer, die durch
Selbstmord endete. Bruno Goetz
wurde am 6. November 1885 in Riga geboren, war deutsch-baltischen und
russischen Blutes. Von jung auf hatte er mit seiner Schwermut zu
kämpfen. Er geht zu Freud nach Wien, der ihm jedoch von einer Analyse
abrät. Von dort 1905 nach Ascona. Hatte ein Wandrer im heilgen
Narrenkleid ihm den Weg dorthin gewiesen? Wir wissen es nicht, auch
über sein Tun und Treiben am Langen See ist nichts Näheres bekannt. Er
wird erst sichtbar, als eine Tessiner Zeitung am 21. Juli 1909
vermeldet, ein gewisser Bruno Goetz habe Ascona verlassen, ohne seine
Schulden bezahlt zu haben. Er sei in Begeitung des ebenfalls flüchtigen
Carlo Holzer gewesen. Dieser Carlo Holzer gehörte zum Schwabinger Kreis
um Groß und Mühsam, der seinen zweiten Standort in Ascona hatte.
Wüssten wir es nicht aus jener Zeitungsmeldung, so ginge aus Goetzens
zweitem Roman 'Das
göttliche Gesicht' deutlich genug hervor, dass
er mit Nohl, Mühsam und Lotte Hattemer bestens bekannt war. Er scheint
in jene Lotte verliebt gewesen zu sein. Länger als
ein Jahrzehnt, bis gegen die Zwanzigerjahre, hat er ein unruhiges
Wanderleben geführt, taucht mal in München, mal in Zürich oder Ascona
auf, gehört zu jener schweifenden Bohème, die wie ein surrender Schwarm
die Wanderzüge Gräsers nachzuvollziehen pflegte, in einigem Abstand und
auf ihre eigene, unentschlossene Art, ihr geheimes Vorbild karikierend
fast. Goetz war
damals, 1917-18, mit dem von Otto Gross analysierten Heinrich Goesch
befreundet, mit dem er später nach Berlin zieht. Möglicherweise also
ist der Roman ‚Reich
ohne Raum’, der hauptsächlich aus Traumszenen
besteht, aus einer Analyse bei Goesch oder Johannes Nohl
hervorgegangen. Er stellt in mehrfacher Hinsicht ein Gegenstück dar zu
Hesses 'Demian'.
Mit dem Unterschied freilich, dass sein Held den Lockungen des Fo,
dieses dionysischen Buddha, von dem er aufs stärkste fasziniert ist,
letztlich doch nicht folgen kann. Tatsächlich vollzieht der Autor in
den Zwanzigerjahren eine Rückkehr zu eher konservativen Positionen. Drei Poeten am Strand von Ascona, 1919 Von links: Friedrich Glauser, Robert Binswanger und Bruno Goetz Goetz
schrieb diesen Roman 1918 in Ascona. Er verarbeitet darin seine
Ascona-Erfahrung. Alles spricht dafür, daß hinter der Gestalt des Fo
die Person Gusto Gräser steht. Wie Fo ist
Gräser ein Wanderer und ein Flötenspieler. Er geht umher und fordert
die jungen Menschen auf, sich loszumachen und mit ihm zu ziehen.
Zeitweise tritt er mit einem kleinen Schwarm, einer "Bande" von
Gefährten auf, so 1907 in Gaienhofen, wo er mit drei anderen
"Sonnenbrüdern" bei Hesse erscheint. Er ist ein Tänzer und ruft zum
Tanz, feiert die Tiere und die Natur. Er sieht sich als Sohn der
Urmutter, warnt früh vor dem Waldsterben. Er liebt die Erde, will nicht
Herr sein. Er geht in einer besonderen Tracht, "im grauen Wanderkleid",
im "heilgen Narrenkleid". Gilt als Narr. Entfacht "dionysischen
Tanztaumel" im Wald von Ascona. Und nicht zuletzt: er ist mit Bruno
Goetz befreundet. Ein Leben lang hat er dessen Anschrift mit sich
herumgetragen, in einer kleinen Mappe mit der Aufschrift: "Menschen".
Gemeint waren solche, von denen er Gastfreundschaft und
Gesprächsbereitschaft erwarten durfte. 1919, nach seiner Ausweisung aus
München, führt ihn sein Weg an den Bodensee, wo Goetz sich inzwischen niedergelassen hatte. Der Flötenbläser
und der Gefangene (1885-1954) Als sie
am halbgeöffneten Portal des Domes vorbeikamen, blieben sie erstaunt
stehen. *
Der dies dichtet, Bruno Goetz, ein
Deutschbalte aus Riga, kam 1905 als Zwanzigjähriger nach Ascona. Über
sein Tun und Treiben dort haben wir keinen Bericht; wir erfahren nur,
aus einer Zeitungsmeldung vom 21. Juli 1909, daß ein "vagabondierender
mittelloser Ausländer" dieses Namens Ascona den Rücken gekehrt hat,
ohne seine Schulden bezahlt zu haben (z. n. Szeemann 144). Er befindet
sich in Begleitung eines gewissen
Carlo Holzer aus Trient, der als Mitglied der Münchner Bohème-Szene um
Groß und Mühsam bekannt ist. Er wandert los, "mittellos", wie die
Zeitung weiß, wenige Tage oder Wochen, nachdem Gusto Gräser in Ascona
wieder erschienen ist.
Wer hatte ihn berührt mit
"Silberaugen", wer "schritt von dannen unberührt und fremd", von woher
kam das "Neue Licht"? Wir wissen wenig über den
Aufenthalt von Bruno Goetz in Ascona, und doch können wir uns ein
einigermaßen deutliches Bild machen aus seinen Gedichten und zwei
Romanen, die er geschrieben hat: Ascona-Romane. In einem von diesen - 'Das göttliche Gesicht'
von 1927 - steht ein Gießbach oder Wasserfall im Mittelpunkt des
Geschehens, der auch in mehreren Gedichten sichtbar wird - und auf
einer Photographie. Es handelt sich um den Wasserfall bei der Mühle
hoch über Ascona in der Nähe von Ronco.
Auf dem Foto sind unten drei nackte Männer zu sehen - Erich Mühsam, Johannes Nohl und Raphael Friedeberg - , über dem Wasserfall, dort wo er aus dem Berg schießt, tummelt sich ein ebenfalls nackter schlanker Jüngling, in dem wir den jungen Goetz vermuten dürfen. Zu oft nämlich und zu bedeutsam und in ekstatischer Verklärung steht genau diese Szene im Brennpunkt seines erinnernden Dichtens.
"Das göttliche Gesicht" erscheint
ihm im Lichtstaub des Wasserfalls. Bruno Goetz hat es erfahren im
Augenblick seines Eintauchens in den schäumenden Gischt. Da warf ich alle Kleider ab und kletterte nackt ins Gestein unter den Felsvorsprung, über den der Fall in die Tiefe schoß. Ich stand in einem brausenden Funkenregen, zitternd vor Seligkeit, und schrie sinnlos vor Entzücken vor mich hin. (Gesicht 159) Ein neuer Sang "entgleißt dem
Strom": Von Berg zu
Berg ruft neuer Sang, Es ist die Schar vom Berg, vom
Monte Verità, die den neuen Sang anhebt , "das heile Wort" - - - für welches "neue Licht",
für welchen "Gott"? Gegen Ende des Krieges, spätestens
1918, lebte Goetz wieder in Ascona. Der Schriftsteller Friedrich
Glauser hat ihn dort kennengelernt: "Schwarze, strähnige Haare fielen
ihm auf den Rockkragen. Den Kopf trug er aufgereckt, und sein Gang war
schleifend und eilig. Langanhaltend und explodierend war sein
Gelächter. ... Bruno Goetz übernahm es, mir Ascona vorzustellen". Er
"hatte soeben einen Roman bei einem Verleger untergebracht". (Glauser
74f.) Dieser Roman nun - 'Das Reich ohne Raum'
- , 1919 erschienen, hat C.G.Jung zu tiefsinnigen Deutungen angeregt.
Für ihn war das ein prophetisches Buch, der hellsichtige Traum eines
Einzelnen, in dem Drama und Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts in
seinen seelischen Hintergründen enthüllt wird. Was er in diesem weithin
von Visionen und Träumen erfüllten Roman zu erkennen glaubt, ist
Folgendes: Ein neues Gottesbild ist angesagt,
verkörpert in dem Wanderer und Flötenbläser Fo, einem dionysischen
Buddha, einem zu höherem Bewußtsein gelangten neuen Dionysos. Dieses
aus der kollektiven Tiefenseele aufsteigende Gottesbild sei aber vom
Bewußtsein nicht angenommen worden - mit verheerenden Folgen. "Wenn der
Lebensstrom nach vorne an ein Hindernis stößt und eine unbewußt
angestrebte Weiterentwicklung schwierig wird, staut er sich und belebt
nach rückwärts alte Bahnungen" (Franz in RR 34). So sei ein älteres
archetypisches Gottesbild: Wotan im Unbewußten der Deutschen
wiederbelebt worden. Der Nationalsozialismus also als der finstere
Schatten eines zur Geburt drängenden, an seiner Geburt verhinderten
"neuen Lichts"[1]. Den psychologischen Beleg für diese
Deutung findet er in dem genannten Roman von Bruno Goetz. 'Reich ohne Raum'
wurde 1962 vom Verleger Jungs neu herausgebracht, Kapitel um Kapitel
nun versehen mit einem tiefenpsychologischen Kommentar der
Jung-Schülerin Marie Luise von Franz.
Der Gang der Handlung in äußerster
Verkürzung: Der Student Melchior fühlt sich angezogen und
hinundhergerissen von zwei gegensätzlichen Vorbildgestalten: dem
Wanderer und Flötenbläser Fo, der einen Nebennamen Buddhas trägt, einem
"erleuchteten" neuen Dionysos, und dem kaltgesichtigen Herrn von Spät,
dem Vertreter einer unfruchtbar gewordenen Tradition und eines starren
Rationalismus. Sein bartloses Gesicht, scharfgeschnitten und welk, endete in einem spitzen, energischen Kinn. Der Mund war dünn und breit, die Nase schmal und gebogen, die Wangen eingefallen und die Augen wie aus hellen durchsichtigen Steinen. (RR 50) Die Kommentatorin sagt über ihn:
"Macht ist das Ziel des Ulrich von Spät; sein Geist ist ... mit dem
Machtprinzip gekoppelt, es ist kein warmer 'Lebensgeist', kein 'Geist
der Liebe', sondern der Geist der starren Formel, welche ichhaft
vorgetragen und als 'Wahrheit' herrisch den Mitmenschen aufgezwungen
wird. Das Leben und das ewig sich Wandelnde (verkörpert) sich im Knaben
Fo" (Franz in RR 118). Frau Franz sieht in Spät die Verkörperung des
protestantisch-christlichen Prinzips. (Ebd.226) Wer aber ist Fo? und wie zeigt er
sich? - Er erscheint als göttlicher Knabe, als nackter Jüngling mit der
Flöte (in auffälliger Weise dem rosenbekränzten nackten Jüngling mit
der Pansflöte entsprechend, zu dessen Füßen sich die wilden Tiere
lagern, wie ihn Gräser in seinem Ölbild 'Der Liebe Macht'
gemalt hat). Meist aber tritt er, vervielfältigt, in einer Schar von
umherziehenden wilden Knaben auf, die seine Boten und Genossen oder
Stellvertreter sind: Nachts nahen
Wandrer Es sind "Knaben in auffallender
Kleidung" (RR 31), frei Schweifende "im grauen Wanderkleid". "Wir
müssen wandern, sagen sie, "immer wandern. Wir müssen alles verlassen.
Wir müssen frei sein. Wir dürfen nicht rasten." (RR 204) Sie besuchen den Studenten
Melchior; Fo ist unter ihnen. Melchior befragt ihn. "Wer wir sind? Das wirst du
erfahren, wenn du mit uns lebst. Du brauchst nur zu rufen: 'Ich will
fort!' Und wir kommen und holen dich." (RR 60f.) Mitzugehen ist die Bedingung. Es
geht nicht um Lehren, die mitteilbar wären, sondern um ein Tun. Fo ruft
- wie Gräser - zur Wanderschaft. Verstehen? * Frischauf,
Gesell - * Walle mit,
wandre mit, nicht zu verstehn, So spricht Gräser - und so spricht
Fo: "Wer wir sind, läßt sich nur leben,
nicht sagen. Du wirst uns folgen, wenn dein Herz dich treibt. ... Komm
mit uns, - und du wirst frei sein. Rufe uns ... !" (RR 61f.) Melchior zögert. Er kann sich nicht
entscheiden und verfällt so den Einflüsterungen des Herrn von Spät.
Zwar hat er die Botschaft des Wanderers schon in sich aufgenommen: "Ich liebe die Erde. Ich will nicht Herr sein, ich will mich verschenken!" Herr von Spät machte eine ungeduldige Bewegung. "Du sprichst wie die Knaben!" sagte er zornig. "Wer sind die Knaben?" fragte Melchior rasch, "wer ist Fo?" Herr von Spät zögerte. Fast widerwillig antwortete er endlich: "Niemand weiß es, niemand kennt ihre wahre Gestalt. Als wandernde Knaben nah'n sie euch, als flüchtige Mädchen, als huschende Tiere. So locken sie euch in Chaos und Dunkel hinein. Irgendwo haben sie ein Reich, zu dem ich den Zugang nicht finden kann. Aber sie sind nie dort. Sie sind immer hier. Vielleicht sind sie auch dort und hier zugleich. Überall treiben sie ihr Wesen und entführen euch in taumelnden Reigen. ... Ich muß ihr Reich zerstören. Die zügellosen Freien müssen mir dienstbar sein. ... Fo ist entronnen, der Freieste, Stärkste, Kühnste von ihnen. Kein Dunkel darf um sie bleiben, keine Nacht, keine Zuflucht. ... Alles muß hell um sie werden. Ihre wahllose wilde Liebe muß sterben." (RR 92f.) Der unentschlossene Melchior gerät
in einen heillosen Konflikt. Hunderte von Wölfen verfolgen ihn im
Traum. Keuchend stolpert er in eine zerfallene Steinhütte. Hinter
hölzernen Verkaufsständen stehen raubvogelgesichtige Menschen und
bieten "einander überschreiend, große gelbe Pilze mit hellgrünen
Flecken feil. Von den Pilzen stiegen Schwaden gelben Dunstes empor ... " "Kauft, kauft Pilze!" riefen die Raubvogelgesichter heiser durcheinander, "kauft Pilze! Es sind die letzten! Die Erde verdampft! Die Sonne verfault! Kauft Pilze, solange der Vorrat reicht! Der Wald stirbt! Die Welt platzt! Ausverkauf! Ausverkauf!" (RR 112) Die Pilze auf den Tischen quellen
auf, zerplatzen in immer neue Pilze, bilden ein Gewoge von brodelnden
Schwaden. Aus dem wogenden Schleim löst sich eine alte Hökerfrau und
umtanzt Melchior in unzüchtigen Sprüngen. Sie ist splitternackt. Ihr
graues Haar hängt ihr in Strähnen über den Rücken. Ihre welken
hängenden Brüste schlagen bei jedem ihrer Sprünge um den verfallenden
Leib. Sie reckt ihre Arme in die Höhe und schreit wie besessen mit den
Händlern im Chor: "Kauft, kauft Pilze! Es sind die letzten! Kauft, solange der Vorrat reicht! Die Erde verdampft! Die Sonne verfault! Der Wald stirbt! Die Welt platzt! Ausverkauf! Ausverkauf!" (Ebd. 113) Die Kommentatorin sagt dazu: "Die
alte Fruchtverkäuferin wird zur Mutter Erde; und - wie sich später
zeigen wird - gehören zu ihr auch Fo und seine Knabenschar, deren
geheime Verbündete sie ist. ... Fo ... ist ein 'Sohn der Urmutter' -
eine Göttergestalt, wie sie in der Antike Adonis, Attis oder auch
Dionysos gewesen sind. Der Dichter gibt ihm einen seltsamen Namen [:]
Fo d.i. Buddha, er läßt ihn aber sagen, dies sei nur ein Rufname,
während sein eigentliches Wesen Geheimnis bleibt ... nämlich das
Geheimnis des Selbst". (Franz in RR 55) Eine andere Schlüsselszene spielt
in einer Kirche. Während des Gottesdienstes erscheint der nackte Fo mit
seiner Schar, setzt sich auf die Altarstufen. Sein Flötenlied versetzt
die nüchterne Gemeinde in ekstatischen dionysischen Tanztaumel. Auf dem
Höhepunkt der Orgie erscheint auf der Kanzel, "mit den zottigen
Vorderbeinen auf das Betpult gestützt, ein schneeweißer Bock und
meckerte hell und durchdringend". (RR 148) "Es geht gegen Staat, Religion,
Sittlichkeit", flüstern sich die verzückt-verbiesterten Bürger zu. "Zu
uns, wer frei sein will!" rufen die Knaben. "Zu uns, wer die Flamme
liebt und die ewige Wandlung! Zu uns, wer ohne Gott ist! In unsre Nacht, wen ihr Tag
erstickt!" [2] (Ebd.
176) Zeitweilig schließt sich Melchior
den Knaben an, wird willkommen geheißen, Fo küßt ihn auf die Stirn. Er
wird ans Kreuz geschlagen, damit sich sein Blut verjüngend in die Welt
ergieße - und erlebt eine Verwandlung. Nicht mehr hing er an einem Kreuz. Er selber war Erde und Kreuz. Wurzeln drangen tief in nächtigen Grund und sogen feuchte Glut ein. Seine ausgestreckten Arme zersprossen in wildes Gezweig. Sein Kopf hob sich ins Ungeheure. Seine grünen Haare wehten im Winde. Helle Quellen brachen unter seinen Wurzeln hervor. ... Fo saß in seinem Schatten und spielte auf einem Weidenrohr. (RR 123) Aus dem toten Holz des Kreuzes ist
wieder der Weltbaum geworden, der Lebensbaum. Ihn umtanzt die Schar "in
kreisendem Taumel". (Ebd.) Fo, sagt die Kommentatorin,
"enthüllt sich ... als ein Gott der Tiere und der Natur in ihrem
paradiesischen Aspekt vor dem Sündenfall ... Die Rebe verbindet Fo mit
Dionysos, die Flöte mit Pan und das Kreuzigungs- und Todesmotiv ... mit
Christus". (Franz in RR 126) Melchior aber kann dem Neuen Licht
auf Dauer nicht folgen, obwohl er es gesehen hat und zutiefst von ihm
fasziniert ist. Er wird ein Opfer der "gläsernen Herren" des
kaltgesichtigen Herrn von Spät (RR 176). Als ordentlicher wenn auch
etwas wunderlicher Professor kehrt er in die Welt der seßhaften Bürger
zurück. Am Ende bleibt er der "Gefangene", der im Frost Erstarrte, den
der "Flötenbläser" nicht erlösen kann. Der Vogel ist
gefangen, "Man hat sich offenbar gescheut,
den letzten Schritt ... zu wagen", meint dazu die Kommentatorin, "in
diesem Gegensatzspiel zwischen ihm und Herrn von Spät, zwischen
erstarrter Tradition und ekstatischem Urerlebnis". (Franz in RR 229f.) Letztlich ging es um die Erfahrung
des von allen Konventionen und Konditionierungen befreiten Selbst.
"Solange ... dieses Erlebnis des Selbst nicht gefunden wird, spukt ...
Fo ... als ein beunruhigender Sehnsuchts- und auch wahnsinnsbringender
Dämon im Hintergrund der Seele des protestantischen Menschen herum. Er
kann nur Neurose, Massenwahnsinn und suizidalen Todesrausch erzeugen,
aber keine Erleuchtung". Würde Fo jedoch angenommen und damit jene
seelische Neugeburt, die er verkörpert, dann würde er statt eines
Todeskünders zu einem Lichtbringer, dann würde er "zu einer religiösen
und damit kulturellen Erneuerung führen". (Franz in RR 231) Goetz schrieb diesen Roman 1918 in
Ascona. Er verarbeitet darin seine Ascona-Erfahrung. Alles spricht
dafür, daß hinter der Gestalt des Fo die Person Gusto Gräser steht. Gräser ist ein Wanderer, Gräser ist
ein Flötenspieler. Er geht umher und fordert die jungen Menschen auf,
sich loszumachen und mit ihm zu ziehen. Zeitenweise tritt er mit einem
kleinen Schwarm, einer "Bande" von Gefährten auf, so 1907 in
Gaienhofen, wo er mit drei anderen "Sonnenbrüdern" bei Hesse erscheint.
Er ist ein Tänzer und ruft zum Tanz, feiert die Tiere und die Natur. Er
sieht sich als Sohn der Urmutter, warnt früh vor dem Waldsterben. Er
liebt die Erde, will nicht Herr sein. Er geht in einer besonderen
Tracht, "im grauen Wanderkleid", im "heilgen Narrenkleid". Gilt als
Narr. Entfacht "dionysischen Tanztaumel" im Wald von Ascona. Und nicht
zuletzt: Er ist mit Bruno Goetz befreundet. Ein Leben lang hat er
dessen Anschrift mit sich herumgetragen, in einer kleinen Mappe mit der
Aufschrift: "Menschen". Gemeint waren solche, von denen er
Gastfreundschaft und Gesprächsbereitschaft erwarten durfte. 1919, nach
seiner Ausweisung aus München, führt ihn sein Weg an den Bodensee, wo
Goetz sich inzwischen niedergelassen
hatte. Goetzens Reich-Roman stellt in
mehrfacher Hinsicht ein Gegenstück dar zu Hesses 'Demian'.
Mit dem Unterschied freilich, daß sein Held den Lockungen des Fo,
dieses dionysischen Buddha, von dem er aufs stärkste fasziniert ist,
letztlich doch nicht folgen kann. Tatsächlich vollzieht Goetz seit etwa
1919 eine Rückkehr zu eher konservativen Positionen. Sein rund zehn
Jahre später geschriebener zweiter Roman, 'Das göttliche Gesicht',
verteufelt geradezu die Asconesen, jedenfalls in den Nachbildern seiner
einstigen Genossen Nohl und Mühsam. Und an die Stelle des wandernden Fo
ist eine traditionsgefestigte "Fürstin" getreten, eine Aristokratin,
die für die "Naturmenschen" nur Verachtung übrig hat. Der kalte Herr
von Spät hat über den dionysisch tanzenden Fo gesiegt. Die mit uns
gewandert sind, Goetz hat ein Leben lang jenen noch
offenen Jahren, jener verlorenen Chance nachgetrauert. Noch als
Verlorenes machen sie den glühenden Mittelpunkt seiner Dichtungen aus.
Er sieht sich jetzt als Gefangenen, vereist und eingeschneit, an den
der Ruf des Flötenbläsers vergeblich ergangen ist. Im Traum freilich
und in nächtlichen Gesichten hört er noch immer seine mahnend-lockende
Weise: Viel Masken und
Gesichter Ich wars, der
Dich berührte Ich bin der
Herr der Wandlung, Ich blase meine
Flöte: So singt und sang der Flötenbläser.
Bruno Goetz, wie so viele andere, wußte auf seinen Ruf nur die
verzweifelt resignierende Antwort: Was suchst Du
den Versunknen? In Goetzens Essays der
Dreißigerjahre hat der heiter spielende Fo die düsteren Züge Wotans
angenommen, ist der Mann mit dem Schlapphut geworden. Bock oder
Buddha? Von Berg zu
Berg ruft neuer Sang, Bekränzte glühn
im Morgenlicht, Der "Gott", den Goetz im Wasserfall
erschaut, er trägt ein Bocksgesicht. Das Tier, das den Wanderer Fo
begleitet, es trägt ein Bocksgesicht. Ist es das Gesicht Gusto Gräsers?
Sein neuer Sang ein "anschwellender Bocksgesang"? Mitnichten. Wohl ist die Metapher des Tanzes eine der zentralen in seiner Dichtung, aber der hier "im Reigen schwingt", trägt weder Hörner noch Schweif, weder Fell noch Klauen und sein Lachen ist kein wieherndes Gemecker. "HIAHSONAIN"
- Sein Tanz ist ein philosophischer,
ein TAO-Tanz der Erkenntnis. Im JA und NEIN, im YIN und YANG der
Weltbewegung gilt es mitzuschwingen, im Pendelschwung der Polaritäten.
Licht und Dunkel, Vernunft und Trieb wird der Dichter, wird der Erdsternsohn
zusammenführen: Betrübte Welt
in seinem Dunklicht badend, Ost-West-Nord-Süd Tanz ist ihm ein Bild für die
seelische Ganz- und Heilwerdung des Menschen einerseits, für das
Weltgeschehen, den kosmischen Ringgang
andererseits, und für den Ineinanderfall von innerer und äußerer
Schwingung im Wirweltwirbel
dritterseits. Tanz, bei Gräser, ist ein mystisches Phänomen, eine
innere Erfahrung. Er ist Eingang
ins Werdenwollende, ein Sicheinreihen in den Wirweltreigen.
Du fügst uns
All, Geringlein um Gering, Weder spricht Gräser von einem
Bocksgesicht, noch von einem ziegenfüßigen Gott. Er beruft weder
Dionysos noch Pan noch Priapos, kennt weder "Taumel" noch "Rausch".
Sein neuer Sang, der bei oberflächlichem Hinhören dem von Goetz so nahe
verwandt scheint (und in mancher Hinsicht auch ist), tönt eine
andere Melodie. Alle dieses
Erdenrundes schwenken in ihr rundgesundes Die geistige Oberstimme ist es, die
den Ton angibt; ein anderer Notenschlüssel steht vor der Zeile. Für Bruno Goetz war "die Krone der
Einweihung in die höchsten Mysterien ... die heilige Hochzeit der Seele
mit der Erdmutter, ein kultischer, tief erotischer, tief
geschlechtlicher Vorgang" (Adel 117). Zwar weiß auch er und sagt es
ausdrücklich, daß diese einstige "erdverbundene Geschlechtlichkeit"
(ebd.) und ihre "alte Naturordnung" (151) der Vergangenheit angehört,
aber unter dem Einfluß des ihm eng befreundeten Groß-Schülers Heinrich
Goesch kreisen seine mythologischen Denkspiele wie seine Gedichte eben
doch um "des Gottes ewiges Bocksgesicht". Zwar will auch er "geistig
sich erheben(d) über Blut und Geschlecht; Geist mit Blut und Geschlecht
durchdringen(d), Blut und Geschlecht mit Geist durchglühen(d)" (Adel
153), doch bleibt diese hehre Absicht Programm, hochgreifende
Konstruktion im Stil der geistesaristokratischen Schule um Leopold
Ziegler und die Gebrüder Jünger, der er zugehört. Ein "neuer Adel", "im
Göttlichen gegründet" (Adel 42), sei berufen, "diesen erdverbundenen
Lichtgeist im kommenden Heiligen Reiche zu verwirklichen" (ebd. 152).
"Das Heilige Reich ist der Leib des Neuen Gottes". (150) Bruno Goetz, der einst mit Gräser
und seinen Gesellen "die hohen Lieder über den Bergen" sang, der,
wenigstens zeitweise, den Ruf des Wanderers, die Flöte des Fo vernahm,
aber ihrer Lockung sich entzog, Bruno Goetz sucht in Gedanken zu
retten, was ihm zu leben versagt geblieben ist. Den Abstieg in die
Freiheit des Armen, Gesetzlosen, Vogelfreien, der die Folgen seines
Denkens auf sich nimmt, hat er sich erspart. Seine "Fürstin", russische
Aristokratin nicht nur aus biographischen Gründen (als Nachbild der
Marianne von Werefkin), verachtet die "Naturmenschen, Anarchisten,
Theosophen, Rosenkreuzer, Neobuddhisten" des Monte Verità (Gesicht 69),
die in ihren Augen "Affen des Okkultismus" sind, "Abfallprodukte
unserer Zeit" (ebd.70). Dafür werden, unter ausdrücklicher Nennung von
Nietzsche, George und Jungdeutschem Orden, Künstler und andere
schöpferische Menschen als "neuer Adel" zur Herrschaft in einem
imaginären "Heiligen Reich" berufen. "Seine führenden Geister schöpfen
... aus den verborgenen heiligen Quellen des Lebens und wissen um die
ungeheure Gefahr, in der sich alles höhere Menschentum heute befindet."
(Adel 4) Dagegen Gräser: Was heisst
Adel? - Denn: Dies ist der
Eingang zu gröhsten Bereichen: Gräsers "Gesetz vom Dienen" hat ein
Kollege von Bruno Goetz, hat Hermann Hesse gelebt und weitergegeben. Er
verfiel darum auch nicht der Goetzschen Idee, "eine Wiedergeburt des
Mittelalterlichen Heiligen Römischen Reiches aus dem Geiste unserer
Zeit" anstreben zu wollen (Adel 3). Der "erdvermählte Sonnengott als
das göttliche Gesicht der kommenden Zeit" (Adel VIII) ist von Goetz
zwar auf der asconesischen Linie gedacht, aber eben nicht mehr als -
gedacht. Und ebenso schattenhaft blaß, wenig bekenntnishaft, bleibt
sein Gedenken, daß auch in unserer Zeit "adelige Geister ... das
Schicksal auf sich nahmen, die einsamen, verhöhnten und verfolgten
Vorverkünder des wieder erdverbundenen Lichtgeistes zu sein". (Adel 151) In seinem Essay 'Neuer Adel'
von 1930 spricht Goetz für die nach seiner eigenen Einschätzung "weit
rechts" stehende, nationalistische Zeitschrift 'Der Ring'
(Adel 4); Gräser, dieser einsame und verhöhnte "Vorverkünder", spricht
für den Wirweltring.
Das ist der Unterschied. Der "Neue Gott" des Bruno Goetz ist am
Reißbrett entworfen, ein Gott aus der Retorte, ein toter Gott. Gräsers Herzgott
will nicht mehr sein und besagen als ein Leben aus der Kraft und dem
Geist des Herzens. Jah, nur Geduld
walten lassen, Die tanzende Göttin im Wasserfall Noch einmal: Was ist das für ein
"Gott", der im Gischt des Wasserfalls erscheint? Zwei Bilder spielen offensichtlich
ineinander, überdecken sich, spiegeln sich eines im andern: der
strömende Quell, der wandernde Mensch. Gräser hat sich gern, einen
Schmähruf heiter zurückschleudernd, einen "Stromer" genannt: Jawohl, jawohl,
wir Stromer, wir strömen, dass es braust, "Mit uns zur Flamme fluten". Wir
erinnern uns dabei sogleich an die Worte des Wanderers Fo und seiner
Knaben: "Zu uns, wer frei sein will! Zu uns, wer die Flamme liebt und
die ewige Wandlung! Zu uns, wer ohne Gott ist! In unsre Nacht, wen ihr Tag erstickt!"
Und hier wie dort,
bei Gräser wie bei Goetz, steht am Ende die Vision vom "Reich", einem
Reich ohne Raum, einem dichterisch-prophetischen Utopia. ...Jah -
Stromer, unbeklommen strömend Es ist kein Reich, kein Volk, keine
Heimat von dieser Welt, ist Innen-Reich, Urreich des Menschseins, Reich
ohne Raum. Oder, in gewohnterer Sprache: Gottesreich. Wer wahrhaft
Strom, Auch in Gräsers Dichtung
überkreuzen sich Mensch und Wasserfall im Bild des strömenden Menschen,
des strömenden Gottes. Und dieses Zeichen wird aufgerichtet gegen alles
Starre und Verstockte in der Gesellschaft wie in den Seelen der
Menschen.
Kein Wunder auch, daß es an diesem
Ort geschieht. Es ist ein Raum, wie er archetypisch-symbolischer nicht
sein könnte. Dunkle Felsenschlucht mit dem aus den Steinen schießenden
Quell, von Wald umschlossen. In seiner lichten Mitte auf grüner Wiese
die Mühle: uraltes sexuelles Symbol. Die Landschaft ein vergrößertes,
den Menschen umfangendes weibliches Geni-Tal. Ein Kultraum der Natur,
der Einweihung in die Mysterien des Lebens: Zeugung und Geburt. Darin
nackt mit nackten Freunden auf der Wiese des Paradieses: Bruno, im
Mutterschoß, im Schoß der Mutter Erde, im Ort der Wiedergeburt[3]. Sollte zutreffen, was mir ein
heutiger Nachbar der Mühle, der fast neunzigjährige Heiner Hesse
schreibt? Daß es neben dem bekannten Foto noch ein weiteres gab, das
eine Frau mit Kind über dem Wasserfall zeigt, zusammen mit den nackten
Männern (und ebenfalls nackt)? Es wäre der Symbolik fast schon zuviel.
Und würde doch zu den biographischen Befunden ebenso passen wie zu
Goetzens Ascona-Roman. Denn es ist bekannt, daß jene auf dem Foto
abgebildeten Männer - Erich Mühsam und Johannes Nohl - zeitweise mit
der Siedlerin Lotte Hattemer zusammenlebten, mit eben jener Santa Lotta
von Ascona, der Goetz in seiner Erzählung ein Denkmal setzt. Im Höhe-
und Angelpunkt des Romans steht sie mitten im Wasserfall der Mühle von
Ascona. Eine Biegung -- und in der Ferne erblickte ich die alte Mühle. Nach wenigen Minuten hatte ich sie erreicht. Alle Fenster waren dunkel. Die wie immer offene Haustür gähnte schwarz. Die Lotte schlief wohl schon oder war noch nicht zu Hause. Der Wasserfall donnerte betäubend laut. Ich ging auf ihn zu. Er sprühte in stäubenden Funken. Und in diesen Funken glaubte ich ein Gesicht zu sehen. "War es mein Gesicht?" zuckte es in mir auf. Es lockte und lockte mich in die wirbelnde Flut. Da warf ich alle Kleider ab und kletterte nackt ins Gestein unter den Felsvorsprung, über den der Fall in die Tiefe schoß. Ich stand in einem brausenden Funkenregen, zitternd vor Seligkeit, und schrie sinnlos vor Entzücken vor mich hin. Durch das hallende Getöse glaubte ich ganz von fern ein Antwortschreien zu vernehmen. Ich schrie von neuem. Und wieder und wieder antwortete es mir. Ich trat unter dem Fall hervor. Da stand unten auf der Wiese die Lotte, vom Mondlicht beleuchtet, starrte zu mir empor und breitete mir schreiend die Arme entgegen. Ich klomm zu ihr hinab und sprang auf sie zu. Einen Herzschlag lang verharrten wir Auge in Auge. Noch ein zögernder Schritt aufeinander zu. Und wir umarmten uns unter dem großen Himmel mit seinen kreisenden Sternen. (Gesicht 158f.) In einer solchen Szenerie konnte es
nicht anders kommen. Goetzens Dichtung kreist um "die urtümlichste
Kraft allen naturhaften, allen erdnahen, allen stoffseligen Lebens -
die Geschlechtlichkeit" (Adel 121). Im Sinne der Schwabinger Schwärmer
und in dem (aber eigentlich gegen den) "des großen Basler Gelehrten
Johann Jakob Bachofen", auf den er sich ausdrücklich beruft (Adel 118),
will Goetz in seinem Roman die Lotte von Ascona zur heidnischen Madonna
erheben. Für ihn hat "die Bachofensche Vision vom Zeitalter der großen
Mütter", die von Männern "wie Carl Albrecht Bernouilli, Ludwig Klages,
Alfred Bäumler und Leopold Ziegler" uns wieder ins Gedächtnis gerufen
worden sei, "eine unerhörte und alles überragende Bedeutung" (Adel
119). Auf das "Zeitalter der großen Erdmütter" müsse jedoch eine neue
Stufe folgen. "Mit dem Erwachen der Seele zum Licht beginnt eine neue
religiöse Phase. Das Zeichen dafür ist, daß Dionysos an die Seite der
Erdmutter tritt." (Adel
119) Was also in der Mühle von Ascona
sich abspielt - im Roman -, das ist nicht irgendein Techtelmechtel. Es
soll uns nicht weniger bedeuten als die (heilige) Hochzeit des Dionysos
mit der Erdmutter, des neuen Dionysos Bruno mit der neuen Erdmutter
Lotte. Und daß die Lotte im Roman wahnsinnig wird wie ihr reales
Urbild, sollen wir als geistige Entrückung, als heiligen Wahnsinn
verstehen. "Die Lotte hat nicht dich umarmt", sagt die Fürstin dem
Icherzähler, "sondern ein Bild ihrer Sehnsucht, einen Gott, der in
jenem Augenblick in deiner Gestalt für sie wirklich wurde" (Gesicht
174). Die alten Zeiten der griechischen Götter sind wiedergekehrt; sie
erscheinen wie einst in menschlicher Gestalt. Von der durch den neuen
Dionysos schwangeren, kräutersammelnden Lotte geht heilende Kraft aus.
Sie wird eine Ärztin für die Armen. Und gewiß hätte sie den neuen
Göttersohn geboren, wären da nicht die bösen Mächte in Gestalt der
Herren Schwierig und Pahl gewesen - Erich Mühsam und Johannes Nohl - ,
die ihre unbefleckte Empfängnis in Zweifel und damit in den Schmutz
ziehen. Aus Gram darüber stürzt sich Lotte vom Felsen in den
Wasserfall. Die Tote und nunmehr Unsterbliche erscheint dem Icherzähler
in einer Vision. Auf einmal überfiel mich ein strahlender Glanz. Mir war, als würde ich auseinandergerissen. Die Wände taten sich auf. Wasser rauschte um mich. Ich stand im Wasserfall. Ich blickte auf. Über einer unendlichen Wiese breitete sich der gestirnte Himmel. Da regneten die Sterne nieder. Und aus dem Sternenregen trat die Lotte hervor. Mit ausgebreiteten Armen schritt sie auf mich zu. Am Fuße des Falles hielt sie inne und tanzte. Immer wilder kreiste sie um sich selber. Immer dichter regneten die Sterne auf sie nieder. (Gesicht 207) Sie verwandelt sich schließlich in Wasser und Welle, von Fels zu Felsen fallend mit dem Wasserfall, wird zum lebendigen Strom, das den Erzähler wie Herzblut trägt und umspült. Die Gräserfreundin wird zum leibhaften dichterischen Gleichnis:
Die moralische Ermordung der neuen
Erdmutter-Madonna durch Mühsam und Nohl bezeugt zugleich den
politischen Standpunkt des Autors. Innerhalb der matriarchal gesinnten
Schwabingerei gehört er dem konservativen Flügel zu, oder vielmehr: er
hat sich ihm im Lauf der Jahre zugewendet. Mit Ludwig Klages und
Leopold Ziegler steht Goetz, zumindest in seinen späteren Jahren, gegen
Mühsam, Nohl und Groß. Unausgesprochen steht für ihn zugleich Lotte
Hattemer, die Heilige und Jungfrau-Mutter, gegen Franziska zu
Reventlow, die Hetäre und mütterliche Hure. Und dies nicht ohne
historisch-biographischen Hintergrund. Denn Lotte Hattemer ist tatsächlich
gestorben, gestorben
an dem Gift, das Nohl und Groß ihr gebracht hatten. Und an ihrer Stelle
hat Franziska zu Reventlow Einzug gehalten in Ascona, vermittelt und
verkuppelt durch Erich Mühsam und Ernst Frick. Einer, der nicht weit
von der Mühle wohnte, der Schriftsteller Emil Ludwig, hat die letzten
Stunden der Lotte miterlebt. (Auch er nennt sie eine jungfräuliche
Heilige.) Lotte Hattemer lebte den
kosmogonischen Eros. Ein anderer Beobachter, der Schriftsteller Emil
Ludwig, bestätigt diese Sicht. In einer Ruine wohnte Lotte. Sie war die Heilige dieses Kreises, trotz festen Wuchses jungfräulich und von dem Mantel ihres Glaubens so fest umhüllt, daß sie bei Nacht und Nebel einen oder den anderen wandernden Künstler aufnehmen konnte, ohne daß ihre Freiheit sie reute. Zuweilen ging sie, einen roten Schal über ihr langes Hemd geschlagen, angetan mit Sandalen und einem Blumenkranze, den sie täglich erneuerte, zu Fuß nach Florenz, begriff nicht, daß sich in den Straßen alles staute ... Als sich ihre Ekstasen steigerten, sie nichts mehr aß als etwas Obst und, im Gedanken an die Heilige Katharina, immer durchsichtiger und immer glücklicher wurde, ... floh (sie) ... in eine Höhle oberhalb der Wasserfälle." (Geschenke 270) Die Höhle gehört zu Demeter, zur
Erdmutter. "Im Erdenschoße träumt die dunkle Mutter", läßt Bruno Goetz
seine Lotte singen (Gesicht 113). Emil Szittya erhebt sie vollends in
den Bereich der Legende und der Heiligkeit: Lebte in einem ruinenhaften Haus. Schlief auf bloßem Stein. Aß nur rohe Wurzeln. Jede Nacht kletterte sie auf einen Berggipfel. Klaubte trockenes Reisig zusammen. Legte ein großes Feuer an und siebte die Asche, wobei sie jammervoll schrie: 'Mein Gott, es ist noch nicht fein genug!' (Szittya 92) Eine andere Zeugin, die
Puppenmacherin Käthe Kruse, ergänzt: Sie war Lehrerin gewesen. Eine hochgebildete, tief leidenschaftliche Frau. ... Alle Philosophien lagen hinter ihr, alles war erlebt, erlitten und überwunden. Was nun? Sie führte die Gedanken Ödenkovens und Gräsers folgerichtig zu Ende. Jede Anstrengung zur Erhaltung des Lebens war ihr Raub an der Natur, und Einkehr ins wunschlose Nichts das einzige Ziel. (Spiel 63f.) Groß hat nie geleugnet, der Lotte
das Gift für ihren Selbstmord gegeben zu haben, angeblich tat er es, um
der Kranken zu helfen. Der Bericht von Emil Ludwig gibt jedoch ein
anderes Bild, und die dichterische Deutung im Roman von Bruno Goetz
scheint dieses Bild zu bestätigen. Trifft diese Deutung zu, dann wäre
Lotte Hattemer das erste Opfer gewesen im Kampf zwischen Links und
Rechts, zwischen einer eher (wert-)konservativen und einer
libertär-revolutionären Linie des schwabingerisch-asconesischen
"Matriarchats". "Demeter versus Aphrodite"
überschreibt Richard Faber ein Kapitel seiner Monographie über die
Reventlow. Und sagt dann: "Reventlow war die Reinkarnation jener
'Astarte', ... deren Kult Otto Groß ... 'der Gegenwart näher bringen'
wollte" (Faber 54). Wenn die Reventlow für die freizügige Aphrodite
stand, dann die Hattemer für die keusche Demeter. Demeter nahm sich in
Ascona das Leben, Aphrodite-Astarte starb dort einen Unfalltod. Gräser gehört weder der einen noch
der anderen Linie zu. Weder will er einen alten Mutterkult
wiederherstellen, noch predigt er die zügellose Freiheit der Venus
vulgivaga. Seine "urgrohse Mutter" trägt andere Züge. Sie ist weder
Fruchtbarkeitsgöttin noch Sexgöttin, weder Demeter (im alten Sinne)
noch Aphrodite. Sie hat überhaupt mit historischen Vorbildern nichts zu
tun, ist keine Kopfgeburt antiquarischer Gelehrsamkeit. Sie kommt aus
den tiefsten Tiefen seiner Erfahrung, sie kommt aus der Not. Gegrühset sei,
Weltmutter Not,
Wenn Welt, Leben, Natur und Seele als gebärendes und nährendes, als schutzgebendes und wärmendes Weibliches erfahren wurden, dann wird auch der Gegensatz dazu am Bild des Weiblichen erlebt, und die Menschheit erfährt Tod und Abgrund, Gefahr und Not, Hunger und Schutzlosigkeit als Preisgegebensein an die dunkle und furchtbare Mutter. (Neumann 148) Sie ist aber, für Gräser, nicht nur dunkel und furchtbar, sondern die "Glückmutter", "Heilemutter", "Weisheitmutter Not".
Die Mutter Not ist eine
Bienenkönigin. Zur symbolischen Bedeutung der Biene und des
Bienenstocks sagt uns Bachofen: Durch diese Eigenschaft ist der Bienenschwarm das vollständigste Vorbild der ersten menschlichen, auf der Gynäkokratie des Muttertums beruhenden Vereinigung, wie wir sie in den Zuständen der genannten Völker finden. Ja Aristoteles stellt die Bienen höher als die Menschen jener ersten Zeit, weil das große Naturgesetz in ihnen vollkommener und fester zum Ausdruck gelange als bei den Menschen selbst. Daher erscheint nun die Biene mit Recht als Darstellung der weiblichen Naturpotenz. Mit Demeter, Artemis und Persephone ist sie vorzugsweise verbunden und hier eine Darstellung des Erdstoffes nach seiner Mütterlichkeit, seiner nie rastenden, kunstreich formenden Geschäftigkeit, mithin das Bild der demetrischen Erdseele in ihrer höchsten Reinheit. (Z. n. Neumann 251) Bei Gräser "schaltwaltet" die
"Urgrohse Mutter", die als "Mutter Treu" oder "Mutter Not" vorgestellt
wird, "in ihrem Bien als alldurchtreumend hehre Königin" (ESZ IV, 3).
Sie durchdringt die Welt mit Wärme und Treue, ist ebenso Jungfrau wie
Mutter, ist "Allmaidmütterlein". (ESZ IV, 2 und 4) Dazu wiederum Erich Neumann: Die "Jungfräulichkeit" der Großen Mutter, das heißt ihre Unbezogenheit auf den Mann, wird im amazonischen Bienenstaat, in welchem nur die Königin und auch diese nur einmal vom Männlichen befruchtet wird, besonders augenfällig. Deswegen und wegen ihrer Nahrung ist die Biene rein, Demeter die "reine Bienenmutter", und die Bienenpriesterinnen der Demeter müssen wie die Vestalinnen und viele andere Priesterinnen der Großen Mutter Jungfrauen sein. (Neumann 252) Was sagt die Symbolik der
Jungfräulichkeit, auch die der christlichen Gottesmutter Maria? Nichts
anderes, als daß hier das Weibliche nicht biologisch und geschlechtlich
gemeint ist, sondern als Bild für eine zugleich seelische und kosmische
Potenz. Jene Weltkraft ist gemeint und wird von Gräser neu berufen, die
in der abendländischen Geschichte und namentlich in der jüngsten
Neuzeit mehr und mehr aus unserem Gesichtskreis verdrängt und durch die
Einseitigkeit kalter Rationalität und Utilität ersetzt worden ist.
"Europa geht den Rückweg zu den Müttern" - das ist die Hoffnung und
Losung von Hermann Hesse, Gusto Gräser, Bruno Goetz, auch von Ernst
Bloch, in den Umbruchsjahren des Großen Krieges auf Monte Verità. Es bleibt die Frage, wem von diesen Dichtern und Denkern wirklich ein "Bild der großen Eva-Mutter" (Hesse) gelungen ist. Lotte Hattemer auf dem Monte Verità, um 1903 Santa Lotta Die heilige Lotte
von Ascona! Sie ist umschwärmt, bewundert und
zur Legende verklärt, ja fast schon zur heidnischen Göttin erhoben
worden. Schon wenige Jahrzehnte nach ihrem Tod ist in eine Dichtung
eingegangen. Das Bild ihres frühen Todes schwebt wie ein Menetekel über
der als Paradies gedachten Kolonie. Ein Selbstmord in Eden, verübt von
einer jungfräulichen Heiligen; ein hochintelligenter Verführer unter
Mordverdacht. Das hat die Züge einer Urszene vom Einbruch des Bösen und
Ungeheuerlichen in die Gefilde der Reinheit und Unschuld. Sie hat die Phantasie der Menschen
beschäftigt wie keine andere der Frauen von Ascona - oder doch: wie
eine ganz andere, Franziska zu Reventlow nämlich. Sie galt als die
Keusche, die Verschlossene, die Ruhige, die Einsame und Weltferne aber
Naturbeseligte – die andere war die Gesellige, Umgetriebene, Ruhelose,
vielseitig Offene, die Dame von Welt und von Halbwelt, die erotisch
Rasende. Tochter der Demeter und Tochter der Aphrodite, Jungfrau und
Hetäre. Beide haben die Mitwelt und Nachwelt fasziniert, jede auf ihre
Weise. Jenseits der Legende, der
phantasievollen Übermalungen - wer war sie, die Lotte von Ascona? Im Unterschied zu der Reventlow,
deren Leben überreichlich dokumentiert ist, hat die Hattemer keinerlei
schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Ihr Dasein ist nicht mehr als ein
Gerücht, aber daß das Gerücht sie bewahrt hat, spricht für die Stärke
ihre Daseins. "Sie sprach kein belehrendes Wort",
sagt ihr Dichter, "sondern unterwies mich durch ihr ganzes Wesen, durch
ihr Schreiten und Singen, ihr Tun und Wirken, ihre Gestalt und ihre
Augen". (Gesicht 186) Wann ist sie geboren? Wir wissen es
nicht, wir wissen nur das Datum ihres Todes (und auch dieses nur
ungenau). Sie soll die Tochter eines Berliner Bürgermeisters oder eines
Eisenbahnbeamten gewesen sein. Konflikt mit dem Vater und seiner
wilhelminischen Väterwelt. "Als er sie einmal zu einer studentischen
Kundgebung mitnahm, kam es nachher zu einer heftigen Auseinandersetzung
zwischen ihnen; sie hatte in die hochtönende Rede eines Studenten mit
exaltierter Stimme hineingerufen: 'Alles, was ihr sprecht, ist ja
Unsinn!' Das konnte den Herrn Bürgermeister natürlich nicht freuen"
(Landmann 17). Ein solcher Ausruf bezeugt aber ihren Eigensinn, ihren
Mut, ihre Leidenschaft. Sie scheint eine Ausbildung zur
Lehrerin gemacht zu haben, wie die Reventlow, und wie diese reißt sie
aus. Nicht ohne einen kleinen Einbruch im Elternhaus verübt zu haben,
die übliche Rache eines zu wenig geliebten Kindes. Was man mir nicht
gibt, das nehme ich mir: Geld für Liebe und die Freiheit des
Andersseins für eure starre und falsche Moral. Das bildhübsche Mädchen arbeitet in
einer Hamburger Matrosenkneipe als Kellnerin. Dort sollen die
zukünftigen Gründer der Monte Verità-Siedlung sie gefunden haben. "Sie
war in dem Sumpf rein geblieben", heißt es, "und hatte noch nie eine
Berührung mit einem Manne gehabt" (Szittya 90). Sie kommt in die Stadt,
in der die Reventlow und ihre Trabanten ihre ausgelassenen Feste
feiern: München, Schwabing. Dies ist nicht ihr Boden und nicht
der ihrer neuen Freunde. Sie suchen eine andere Kolonie, eine andere
Art von Gemeinschaft. Die Laszivität der Künstlerbohème - nur die
Kehrseite, wie die Prostitution, der heuchlerischen Bürgermoral. Freie
Liebe, ja - aber eben frei, und das heißt auch: offen vor aller Welt,
nicht heimlich oder als Luxus der Reichen. Freiheit der Liebe als
Verfassung, als Grundrecht (wie Fourier sie forderte), nicht als
Diebstahl oder privilegiengeschützte Extravaganz. Lotte trifft sich sich in München
mit Gusto Gräser, mit der Erzieherin Ida Hofmann, dem Industriellensohn
Henri Oedenkoven und Gustos Bruder Karl. Man beschließt, gemeinsam über
die Alpen zu wandern und im wärmeren Süden den geeigneten Platz für
eine Siedlung zu suchen. Am Comer See trennt sich die
Wandergesellschaft nach verschiedenen Richtungen. Oedenkoven bleibt in
Cadenabbia zurück, die Gebrüder Gräser bewegen sich dem Lago Maggiore
zu, Ida Hofmann und Lotte zum Luganer See. In Madonna del Piano, einem
Dörfchen bei Porlezza, finden die beiden Frauen in stockdunkler Nacht
Unterkunft in einer kleinen Herberge. Ein freundliches Kaminfeuer beleuchtete die dunklen Arbeitergestalten, welche in der Wirtsstube am Kamin und an Tischen sassen. Man trank viel Rotwein, man ass Polenta und Minestra und unterhielt sich laut miteinander. Unseren fremdartigen Erscheinungen wurde natürlich die grösste Aufmerksamkeit aber auch gutherzige Bewillkommnung zu teil. Man setzte uns vor was es gab und nach gebührender Stärkung folgten wir der vor Magenweh gekrümmten Wirtin nach dem für uns bereiteten Zimmer mit Doppelbett. Lotte's, von gymnastischen Uebungen begleitetes Luftbad rief das heftigste Staunen der "padrona" hervor. Sie glaubte es wohl mit einer Närrin zu tun zu haben, liess es sich jedoch nicht nehmen, Jede von uns eigenhändig mit einem besorgten "bennone, bennone?" in die Decken zu hüllen. (Hofmann 11). Die Schülerin Gustos, von dem eine
entsprechende Praxis berichtet wird, hat offenbar mehr Mut, sich
hüllenlos vor andern zu zeigen als die ehemalige Gouvernante. Auch in
anderer Hinsicht unterscheidet sie sich von der nüchtern-verständigen,
aufs Praktische abzielenden Ida. "Ihr Feld blieb ... dasjenige
transzendentaler Anschauuungen - sie schwebte stets in 'höheren
Sphären'". (Hofmann 23) Am anderen Morgen ziehen die beiden
Frauen weiter. "Lotte und ich wanderten bei stets strömendem Regen und
Kälte gegen Ponte Tresa. In Agno suchten wir Nachtquartier, man
begegnete uns jedoch mit scheuen Blicken und wies uns überall ab.
Lotte's losgelöstes Haar, das in dichten straffen Strähnen ihr Gesicht
fast bis zur Nase zu verhüllen pflegt, gab ihr allerdings ein etwas
ungewöhnliches Aussehen" (Hofmann 12). Gelegentlich werden sie von
einem Italiener eingeladen, "a tre" in seinem Hause zu schlafen, und in
Punto Cerisio entgehen sie nur knapp ihrer Verhaftung. "Personen, die
ohne Dokumente, blossfüssig in Sandalen und baarhäuptig in fremdes Land
kommen, gelten unbedingt als sehr verdächtig", muß die Hofmann
konstatieren. (Hofmann 14) Aus Locarno schreiben die Gebrüder
Gräser: "Hier findet man wirkliche Menschen, auch langhaarige ..."
(Landmann 21). Die Siedlergruppe sammelt sich in Monti della Trinità,
man wechselt hinüber zum Weinberg von Ascona, den die Gebrüder Gräser
als zur Ansiedlung geeigneten Platz entdeckt haben. Die Aufbauarbeit
kann beginnen. Doch die Gemeinsamkeit währt nicht lange; zu verschieden
sind die Ziele der Gräsers einerseits und von Oedenkoven und Ida
Hofmann andererseits. Liebeskommune oder wirtschaftlich rentierende
Naturheilanstalt, das ist die entscheidende, die Siedler scheidende
Frage. Zur Enttäuschung von Ida gelingt es den Gräserbrüdern, "dem
jüngern (Gusto) in mildem Predigerton, dem älteren (Karl) in seiner
apodiktischen Weise, welche seine soldatische Vergangenheit nur
verstärkt hatte, meine Schwester Jenny, vorübergehend auch Lotte
Hattemer zu beeinflussen". (Hofmann
20f.) Die Beeinflussung der beiden Frauen
ist nicht nur vorübergehend. Nachdem Gusto von Oedenkoven
hinausgedrängt worden ist, ziehen auch Karl, seine nunmehrige
Lebensgefährtin Jenny Hofmann und Lotte Hattemer die Konsequenz. Sie
treten aus der ursprünglichen Genossenschaft aus und
ziehen sich auf eigene, nunmehr private Grundstücke
zurück. Die Utopie von der großen Neuen Gemeinschaft, die ohne Geld,
ohne Technik, ohne Trennung in Herren und Knechte auskommen wollte, ist
gescheitert. Wie Karl mit seiner Jenny, so
bezieht auch Lotte die Ruine eines verlassenen Stalles und ein
Stückchen Land. Ihr ansehnlicher Weinberg, in dem sie auch Gemüse
zieht, ist "kunstgerecht gehalten", wie ein Beobachter bemerkt. "Den
Überfluß an Weintrauben, der ihr zufließt, verkauft sie jedoch nicht:
im Herbst holt sie vielmehr Kinder zu sich, die sich denn nach
Herzenslust an den Trauben gütlich tun können. Ihr Vater stellt ihr
Geld zur Verfügung, allein für sich gebraucht sie nichts. Neulich hat
sie ihn um Geld für ein neues Gebiß gebeten, allein dasselbe war nicht
für sie, sondern für eine arme Frau. So tut sie denn also doch
wenigstens etwas Gutes", meint ein um ihre Moral besorgter Besucher aus
dem deutschen Norden. (Dennert 123) Ihre Bedürfnislosigkeit ist ja wie geschildert sehr groß, allein oft nimmt sie sich auch völlig harmlos, wie Herr N. N. erzählte, dies und jenes aus seinem Haushalt z. B. Decken, Bücher usw. mit, bis das Vermißte oben bei ihr gefunden wird, falls sie es nicht selbst vorher schon wiedergebracht hat. (Dennert 124)
Lotte Hattemer
zwischen Ida Hofmann (links außen) Von ihrer einstigen Wanderkameradin
und Genossin Ida Hofmann wird sie jetzt mit gehässiger Schärfe
gezeichnet: Sie wie all' jene Ansiedler, Durchzügler und Mitarbeiter, welche Bedürfnislosigkeit zum Zwecke freiwilliger Entbehrung des Geldes vorgeben, sind meist nur dann in der Tat bedürfnislos, wenn der Mangel an Geld sie dazu zwingt - entschiedene Trägheit und Unlust zur Arbeit, sowie Unmut über Besitzende ist ihnen eigen; sie kehren dort gerne ein, wo es was Gutes zu essen gibt und geben gerne - "sehr gerne" - haben jedoch nichts zum geben. .. Pathologisches Lügnertum ist da vorherrschend." (Hofmann 78f.) In zwei jungen Zuwanderern,
ebenfalls aus Berlin kommend, die bei Lotte einen Unterschlupf finden,
sieht Ida"zwei im Großstadtleben heruntergekommene Figuren, erfüllt von
gepriesenem Gedankenleben und verkehrter Lebenslust" (Hofmann 80).
Gemeint ist der Theologiestudent Johannes Nohl, "mit schönem Kopf und
feiner Leidensmiene", und der Schriftsteller Erich Mühsam. Lotte Hattemer und Elly Lenz, eine weitere Ansiedlerin, haben diesem Freundespaar die Pforten ihres Heims geöffnet, um ihnen in althergebrachter Weiblichkeit die praktischen Daseinswege zu erleichtern. Sie leben bald kommunistisch, bald voneinander getrennt, schwärmen für Individualismus und Nietzsche. (Hofmann 80) Aus seiner intimen Kenntnis gibt
Mühsam ein anderes Bild der Lotte. Nachdem er zunächst ein
verehrungsvolles Bild von Karl Gräser gezeichnet hat, fährt er fort: Nannte ich Gräser die originalste Persönlichkeit unter den Asconeser Ansiedlern, so hat Lotte unbedingt Anspruch darauf, als originellstes Wesen der ganzen Gegend angesprochen zu werden. Man wird den Unterschied der beiden Begriffe fühlen. Ihre Originalität hat einen starken Einschlag ins Groteske, Abenteuerliche, Absurde. Dass sie die Tochter eines höheren preussischen Beamten ist, sieht man ihr in der Tat nicht an, wenn sie, den rundlichen Körper in die notdürftigsten, Kleidungsstücke vorstellenden Textilerzeugnisse gehüllt, einige Blumen in den Händen und in den wüsten flachsblonden Haaren, die Chaussee entlangträllert. Ihr eine Viertelstunde südlich [nördlich!] von Ascona sehr hübsch gelegenes Grundstück mit dem fensterlosen schief dastehenden Häuschen, erweckt denselben romantischen Eindruck, wie die Besitzerin. Irgendwo im Freien verstreut, liegt eine Decke und ein Reisigbündel. Das ist Lottens Nachtlager. Hie und da stolpert man über ein Kleidungsstück, ein Küchengeschirr oder ein Andenken aus der höheren Tochterzeit. Im Hause selbst, das aus zwei übereinanderliegenden Räumen besteht, sieht es noch bunter aus. In tollem Durcheinander Koffer, Utensilien, Nahrungsmittel, Bücher, Briefe und Ratten; dazwischen Bindfaden, Lederriemen, Matratzen, Holzklötze und was noch alles. Eine einzelne Sandale, ein ehemaliger Hut und ein paar Glasscherben vervollständigen das Bild. (Ascona 37) Es sei nicht immer leicht, "die
psychologischen Gründe ihres oft sehr wunderlichen Gebahrens zu
erkennen", findet Mühsam (Ascona 39). So habe er viele Male beobachtet,
"wie sie aus einem Kreise gemütlich beieinander sitzender Menschen
plötzlich ostentativ verschwand, um nach einer Viertelstunde mit Blumen
behangen ostentativ wiederzukommen" (ebd.). Sie ist das Blumenmädchen
des Kreises, gefällt sich in hippiehafter Spontaneität. In sprunghaftem
Entschluß wandert sie barfuß und mit offen wehenden Haaren quer durch
Italien bis nach Florenz, betätigt sich dort einige Wochen als
Gesellschafterin einer Dame, kehrt dann auf den Monte Verità zurück.
Mühsam meint etwas Gekünsteltes in ihrer forcierten Natürlichkeit zu
gewahren. Zweierlei ist zur Charakteristik der Lotte zunächst von Bedeutung: einmal ihre katholische Herkunft und daraus entspringend ihr Hang zum Mystischen, und zweitens der unverkennbare Einfluss Gräsers auf ihre Ideenbildung, dieses bei aller Natur- und Ich-Versunkenheit doch ganz rationalistisch empfindenden, nach innerer Unabhängigkeit lechzenden Menschen. Den Einfluss verborgener Kräfte hinter den Dingen zu erkennen, rastlos sich hinzugeben, aufzugehn im Gefühl der Gotteskindschaft, demütig anzubeten und im Glauben zu leiden, und doch zugleich sich als Mittelpunkt zu wissen, als treibende Kraft zu betätigen, spontan draufzugehn und sorglos jeder Laune zu folgen, dahin geht, wie mir scheint, wohl ziemlich unterhalb der Bewusstheit ihr Streben. (Ascona 38) Ihr bizarres Verhalten, die
"Zwiespältigkeit ihrer Wesensäusserungen" zwischen mystischer
Natur-Versunkenheit und rationalistischem Unabhängigkeitsstreben sucht
sich Mühsam damit zu erklären, daß ihrem vorgegebenen Selbsthaß die
Gräsersche Liebes- und Lebensmystik nur willensmäßig aufgepfropft sei. Das unablässige Bemühen nun, zwei so heterogene Empfindungen miteinander zu verquicken, lässt die Lotte nie aus dem Zustand einer fast krankhaften Ekstase herauskommen. Dazu kommt, dass der Eindruck des Gewaltsamen in ihrem Benehmen dadurch noch verstärkt und peinigender empfunden wird, dass ihre völlig misautische Natur sie zwingt, den ihr ganz unnatürlichen philautischen Zug spontaner Energieentfaltung nach aussen hin zu dokumentieren. (Ascona 38f.) Mit anderen Worten: Mühsam, der ja
ebenfalls unter dem Einfluß von Karl Gräser steht, ist der Meinung,
Lotte habe die gräserschen Einsichten nicht recht verdauen, nicht
organisch sich anverwandeln können. Er ist aber ehrlich genug
zuzugeben, daß er die psychologischen Hintergründe des "dieses
unzweifelhaft selten tief veranlagten Mädchens" nicht erschöpfend sich erklären kann. (Ebd.
39) Wie diese Wesensart der Lotte bei ihrem blossen Anblick äusserlich in die Erscheinung tritt, das will ich damit zu illustrieren versuchen, dass ich immer, wenn ich sie in ihrem primitiv-phantastischen Anzug daher schweben sehe, das schöne Lied singen möchte: "Vom Himmel hoch, da komm ich her -" , und dass ich manchmal glaube auch die Drähte noch zu sehn, an denen sie Gottvater herumtanzen lässt. (39f.) Daß dem ansonsten eher zu einem
deftigen Zynismus geneigten Mühsam beim Anblick der Lotte Worte wie
"Himmel" und "Gottvater" auf die Zunge schlüpfen, spricht doch für ein
nicht unbeträchtliches Charisma dieser, wie er findet, "sehr
bemerkenswerten und komplizierten Erscheinung" (ebd. 40). Ein anderer
Besucher, der sie gar nicht gesehen hat, sie also nur vom Hörensagen
kennt, bestätigt diesen Eindruck: Bei den Genossen ruft sie zwar sehr verschiedene Gefühle hervor in ihrer üppigen Gesundheit und Jugendkraft, durch ihre sehr grosse Freiheit des Benehmens (bei voller Sittlichkeit), ihrer Guthmütigkeit, ihren stürmischen Freundschaftsgefühlen und äusserst lebhaftem Wesen, "sie hat den Teufel im Leib"; aber Alle achten sie, die meisten hatten sie sehr lieb. (Grohmann 44). Käthe Kruse nennt sie "eine
hochgebildete, tief leidenschaftliche Frau. ... Mit Tragik begnadet
möchte ich sie nennen, wenn ich daran denke, wie ich sie einmal in
einer Schwärmernacht mit geflohenen russischen Nihilisten antraf,
Nietzsche und Goethe mit unbeschreiblicher Inbrunst vorlesend." (Kruse
63) Und dann, gegen Ende des Jahres
1905, die Nachricht, von Ida Hofmann nicht ohne heimliche Genugtuung
aufgezeichnet: Lotte irrte mehrere Tage mit der Absicht sich das Leben zu nehmen umher, wurde dann im Auftrag ihres herbeigeeilten Vaters gesucht, gefunden und befindet sich nun so lange im Hause meiner Schwester Lilly, bis Vater, Tochter und die ihnen wohlwollende Umgebung sich über Lotte's zu reformierenden Lebensgang einigen. (Hofmann 97) Das ist noch nicht das Ende der
Katastrophe. Zu dieser Einigung kam es nicht. Der Schriftsteller Emil
Ludwig, der in der Nachbarschaft des Monte Verità sich eine Villa
gebaut hatte, ergänzt aus seiner Sicht: Als sich ihre Ekstasen steigerten, sie nichts mehr aß als etwas Obst ... traf eines Tages, von Fremden benachrichtigt, ihr beleibter Vater ein, ein norddeutscher Eisenbahn-Direktor; sie floh, als sie ihn den Berg hinaufkeuchen sah, in eine Höhle oberhalb der Wasserfälle, hielt sich versteckt, wurde am Ende doch gefunden, zwangsweise nach Hause und dort in ein Sanatorium gebracht, wo man sie auffütterte, bis sie aufs neue entfloh. (Ludwig 270) Sie scheint sich ihrer Nachbarin,
der Schauspielerin und Puppenmacherin Käthe Kruse, anvertraut zu haben.
Die fand sie "mit sich und der Welt zerfallen, gänzlich verkommen." 'Wenn man alles versucht hat, und es war alles nichts, kehrt man am Ende wieder zum Anfang zurück.' Haltlos, verloren, zerstört starrte sie mich an. Mit Schrecken sah ich, daß ihr Weg zum sicheren Hungertode führen mußte. Ich sprach mit ihr, sie wurde weich, dankbar und glücklich. ... Nach zwei Tagen gelang es mir, sie zu überreden und mit einer Fahrkarte nach Domodossola zu versehen. Dort befand sich gerade ihr Vater, ein vermögender Mann, der tiefunglücklich über das Schicksal seiner Tochter war. Er wollte sie in die Heimat mitnehmen zur Mutter. Was zwischen Vater und Tochter in den zwei Tagen in Domodossola vorging, weiß ich nicht. In der letzten Nacht nahm Lotte Gift und erwachte nicht mehr." (Kruse 63f.) Die Version von Emil Ludwig, weiter
oben schon zitiert, braucht dieser Darstellung nicht zu widersprechen.
Lotte hat offenbar bei verschiedenen Menschen Schutz und Hilfe gesucht.
Das Ende bleibt das selbe. Wie konnte es dazu kommen? Sieben Jahre später gibt der
Psychiater Dr.Otto Groß, zu der Zeit zwangsweise in einer Irrenanstalt
interniert, folgenden Bericht an eine Zeitschrift: Ich habe im Anfang des Jahres 1906 dem Fräulein Lotte Hatemer in Ascona auf ihr Verlangen das Gift gegeben, mit welchem sie Selbstmord begangen hat. Ich habe Das gethan, um ihr den Tod, zu dem sie absolut entschlossen war, so leicht wie möglich zu machen. Ich habe Alles, was in meiner Macht war, gethan, um sie von ihrem Entschluß, zu sterben, abzubringen. Als sich das Gift bereits in ihrem Besitz befand (ich habe es ihr unmittelbar vor meiner Abreise von Ascona gegeben), bin ich zu ihr gegangen und habe sie noch einmal gebeten, sie solle lieber zu mir nach Graz kommen und mich versuchen lassen, ob ich nicht doch noch ihr helfen könnte. Ich habe das Gift in ihren Händen zurückgelassen, weil ich die Überzeugung bekommen hatte, daß Lotte Hatemer, wenn sie zu sterben entschlossen war, diesen Entschluß auf jeden Fall durchführen und gewiß nicht davor zurückschrecken würde, nöthigen Falls auf schreckliche und schmerzvolle Art zu sterben. Dies zu vermeiden, wollte ich ihr die Gelegenheit lassen. Ich habe nicht aus Fahrlässigkeit gehandelt; denn was ich that, war wissentlich gethan; und ich habe nicht die Absicht gehabt, daß sie sterben solle. (Z. n. Szeemann 109) Das klingt überzeugend. Doch ist
nicht zu vergessen, daß es Groß mit dieser Selbstverteidigung darum
ging, sich aus der Zwangshaft und aus der Entmündigung wegen Wahnsinns
zu befreien. Schon vier Jahre früher war eine Untersuchung wegen
mutmaßlichen Giftmords gegen ihn in Gang gewesen. Und die hatte nun
doch ein anderes Bild ergeben. Ein Gefangener hatte von einem aus
Ascona kommenden Artur Weiler gehört,
dort sei eine Anarchistin namens "Lotte" mit Gift
getötet worden. "Von derselben habe man gewußt, daß sie Mitwisserin
eines anarchistischen Unternehmens sei und daß sie vorhabe, dasselbe zu
verraten. Es sei deshalb beschlossen worden, sie aus dem Wege zu räumen
und dies sei geschehen durch ihn, Nohl und Dr. Gross. - Er habe der
Lotte ein Getränk vorgesetzt in dem Kokain und Opium aufgelöst gewesen
sei und diese Giftmischung selbst sei von Dr. Gross präpariert worden".
(Z. n. Hurwitz 200) Diese Version scheint Bruno Goetz
zu bestätigen, wenn auch nur in der fiktionalen Form eines Romans. Nach
seiner Erzählung sollte ein hoher Geldbetrag, den Lotte von dritter
Seite erhielt, ihr abgeschwatzt werden, um damit "einen Tempel unserer
neuen Religion zu errichten". "Mit dieser Summe", so Pahl (= Nohl) im
Roman, "könnte unsere Gemeinschaft, die höchsten geistigen Zielen
dient, sich hier ein Heim schaffen und ins Weite wirken" (Gesicht 191).
Und zu Lotte selbst sagt Pahl/Nohl mit schulmeisterlicher Feierlichkeit: "Du solltest sehen, daß du zu uns gehörst. Bleibe bei uns! ... Was du uns geben kannst, ist dreierlei: erstens die Ausstrahlung deines Wesens, deine Lieder, deine Tänze; zweitens deine ärztliche Kunst. Bedenke, welch ein helles Licht auf unsere Gemeinschaft fiele, wenn du diese Kunst in unserem Namen ausübtest ... Und drittens liegt es bei dir, ob wir schon jetzt in Stand gesetzt werden, unsern Zielen und Idealen eine weit in die Welt sich ausbreitende Wirksamkeit zu verleihen.'" (Gesicht 199f.) Nun, es handelt sich hier um
Fiktion. Und doch ist bekannt, daß Mühsam und Nohl zu jener Zeit auf
allen Wegen und ohne große moralische Hemmungen versuchten, sich Mittel
zu verschaffen für den Ausbau ihrer anarchistischen Gemeinschaft.
Damals hatte Otto Groß die Absicht, in Ascona eine Freie Hochschule zur
Befreiung des Menschen zu errichten. Dazu waren Geldmittel nötig und
auch die Mitarbeit von Frauen, die den Junggesellen die
hauswirtschaftlichen Notwendigkeiten abnehmen konnten. Lotte hatte
schon einmal die Freunde Mühsam und Nohl in ihr Häuschen aufgenommen,
hatte sich ihnen nützlich erwiesen, dann aber sich zurückgezogen. Wohl
möglich, daß sie, wie der Roman nahelegt, für die Gemeinschaft
wiedergewonnen werden sollte. Für Mühsam, Nohl und Genossen,
einkommenslose, vagabundierende Literaten, ging es schließlich darum,
in Ascona Fuß zu fassen. Lotte besaß immerhin ein Grundstück und ein
Häuschen, das ihnen Unterschlupf hätte bieten, außerdem einen
vermögenden Vater, den man hätte ausnehmen können. Schon 1904, kurz nach seiner
Ankunft, hatte Mühsam aus Ascona geschrieben: Voraussichtlich werde ich mich mit meinem Freunde Nohl hier am Lago ankaufen (in vollem Ernst!). Wir haben schon eine Ruine in Aussicht, die wir auf Abzahlung hoffen erstehen zu können (...). Wollen Sie nicht eine Aktie kaufen auf unser zu erwerbendes Grundstück. Einlagen in jeder Höhe werden angenommen." (Z. n. Szeemann 27) Das mag halb im Scherz gesprochen
sein. Aber die beiden haben damals im Ernst ein schwindelhaftes
Unternehmen versucht, das Mühsam selbst dann in seinem Lustspiel 'Die Hochstapler'
von 1906 persifliert. Ein amerikanischer Literaturwissenschaftler
findet in diesem Drama eine "deep ambivalence" zwischen des Verfassers
"sincere desire for social change" und seiner von ihm selbst als
"frivolous and eccentric" erkannten Bohème-Mentalität (Shepherd 99). Der "Held" seines Lustspiels versuche "to
reject capitalism while remaining essentially capitalist" (ebd. 100). Eben
dies war Mühsams Fall, wie obige Briefstelle zeigt. Nachdem Otto Groß sich den beiden
angeschlossen und eine ganze Gruppe von Anarchisten sich um sie in
Ascona gesammelt hat, versuchen diese Leute, durch Kokain- und
Sacharinschmuggel, auch durch Einbrüche und Diebstahl, ihr Dasein zu
finanzieren. Im Münchner Geheimbund-Prozeß von 1910 ist dies einer der
Anklagepunkte gegen Mühsam und den "bekannten Schmuggler und
Anarchisten Nohl, Johann Alb. von Berlin" (z. n. Szeemann 107). Nohl
zog es vor, sich der Verfolgung durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Es ist also keineswegs abwegig, die
Romankonstruktion von Goetz bis zu einem gewissen Grade ernst zu
nehmen. Zumal wenn man an den werbenden Jüngling denkt, der, nach der
Darstellung von Emil Ludwig, die unschlüssig zögernde Lotte zu sich
lockt und drängt - mit tödlichem Ausgang. Von Mord ist nicht die Rede. Daß
Lotte selbst seit längerem einen Sog zum Suizid entwickelt hatte, ist
keine Frage. Wohl aber legt sich die Wahrscheinlichkeit nahe, daß sie
von den Anarchisten-genossen ebenso bedrängt worden ist wie von ihrem
Vater (und von den ersteren in nicht ganz uneigennütziger Absicht), und
daß sie zwischen der Vielzahl von Stimmen in ihr und außer ihr keinen
anderen Ausweg mehr wußte als den in den Tod[4]. Jedenfalls stehen drei
Zeugenaussagen gegen eine - die Selbstdarstellung des Beschuldigten.
Die eines anarchistischen Kameraden und Mittäters, Artur Weiler, und
sie lautet auf Giftmord aus eigennützigen Beweggründen, und die eines
einstigen Vertrauten und Beobachters, Bruno Goetz, und sie deutet auf
ein psychisches Kesseltreiben mit tödlichem Ausgang. Auch Emil Ludwig,
als dritter Zeuge, behauptet ein aktives Drängen von seiten der Nohl
und Groß. Die Lotte mag schon vorher seelisch gefährdet gewesen sein,
aber erst gegen Ende des Jahres 1905, nachdem Groß sich zu Mühsam und
Nohl gesellt hat, hören wir von ihren Selbstmordabsichten und ihrer
weitgehenden Nahrungsverweigerung. Die Symptome, die sie zeigt, könnten
auch eine Folge von Drogengebrauch bei gleichzeitigem psychischem Streß
gewesen sein. Die eigentlichen Ursachen für ihren
Absturz liegen freilich tiefer. Lotte hatte sich die Gebrüder Gräser
zum Vorbild genommen: ein Leben aus innerer Schau und Selbstbestimmung,
in ungehemmter Spontaneität, fromm-bescheiden sich einfügend in die zu
schonende Ordnung der Natur. Deshalb möglichst bedürfnislos, frei von
Besitz und Gelderwerb, zugleich aber genußfreudig und sinnenfroh,
spielerisch und phantasievoll, und doch als uneigennützige Helferin den
Menschen sich zuwendend, ihnen ein Vorbild und ein Abbild der
göttlichen Mutter Natur. So zeichnet sie, in unübersehbarer
Idealisierung, der Lotte-Roman von Bruno Goetz. Sie lebte in einer phantastischen Wunder- und Märchenwelt, die für sie keine poetische Ausschmückung der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst war. Das seltsamste schien mir, daß sie dadurch nicht, wie ich anfangs angenommen, den Blick für die gewöhnliche Wirklichkeit verloren hatte. Sie beobachtete sehr genau, was um sie herum vor sich ging. Nur daß alles für sie im Lichte ihrer inneren Welt eine doppelte Bedeutung erhielt. ... Die Kräuter, die für sie von unsichtbaren Wesen besessen waren, sammelte sie als Heilkräuter für Kranke. ... Ich half ihr gelegentlich bei ihren Krankenbesuchen und staunte immer wieder von neuem mit welch sicherem Blick sie das Wesen der verschiedenen Krankheiten erkannte und welch gute und vernünftige Ratschläge sie in ihrem gebrochenen Italienisch den Dorfleuten gab, von denen sie mit scheuer Ehrfurcht angeschaut wurde. Viele machte sie gesund, andern brachte sie dauernde Milderung ihrer Leiden. ... Sie nahm nie Geld von ihnen, ließ sich aber gerne von ihnen bewirten und bestand darauf, daß ich an solchen Mahlzeiten teilnahm. (Gesicht 183ff.) Das erinnert in manchen Zügen an
das Auftreten von Gusto Gräser und mehr noch an das seiner Gefährtin
Elisabeth, die in Ascona ebenfalls als heilkundige Pflegerin von
Kranken geschätzt war. Die Reaktion von Mühsam/Schwierig auf dieses
pietätvolle Heiligenbild im Roman von Bruno Goetz: "Mystischer Schmus!
Kehrt lieber in der Wirklichkeit alles um. Ändert die Welt! ... Bomben
statt schöner Gefühle!" (Gesicht 95). Mühsam und Nohl sind in der Sicht
von Goetz die Gegenspieler der Lotte, zynisch-heuchlerische Verderber. Zur Gräserschen
Selbstbefreiungsmystik außerhalb der Gesellschaft und ihrer Gesetze
trat nun bei Lotte steigernd hinzu ihre katholische Herkunft und ihre
Neigung zur Theosophie. Sie war es, als einzige unter den ersten
Ansiedlern, die dem Sektengründer Josua Klein sich zuwandte und nach
Locarno pilgerte, um den Lehren der Theosophen Alfred Pioda und Franz
Hartmann zu lauschen. Solche Neigungen waren es wohl auch, die sie den
Gräserbrüdern entfremdeten. Die standen mit beiden Beinen auf der Erde
schon deshalb, weil sie dort stehen mußten, weil sie dank ihrer Armut
sich den Ausflug in die "höheren Sphären" nicht leisten konnten. Lotte konnte es, weil ihre Armut,
zum Teil wenigstens, eine gespielte war. In Wirklichkeit wurde sie, wie
Otto Groß von dem seinen, von ihrem vermögenden Vater unterhalten. Wie
Groß hatte sie sich von der elterlichen finanziellen Unterstützung und
der damit verbundenen Abhängigkeit nicht wirklich freigemacht. Und wie
Groß den nicht vollzogenen Sprung in die Selbständigkeit durch die
Radikalität seiner psycho-politischen Theorie kompensierte, so Lotte
durch die überzogene Idealität ihrer mystischen Schwärmereien.
Blumenkränzchen im Haar und Nietzschegedichte am Lagerfeuer - auf
diesem "Boden" wuchs auf Dauer kein Brot. Je höher sie stieg in ihren
himmelstürmenden Phantasien, desto tiefer mußte sie stürzen. Zwischen
dem Spiritualismus ihrer theosophischen und dem harten Realismus ihrer
anarchistischen Freunde fand sie keine Brücke, keine Mitte, die sie
hätte auffangen können. In der Szenerie von
Schwabing-Ascona stellen Lotte Hattemer und Franziska zu Reventlow zwei
entgegengesetzte Ausformungen der neuen Weiblichkeit dar. Beide spielen
sie mit im Theater der matriarchalen Revolution, beide haben ihre
Rollen zu symbolischer Repräsentanz gesteigert. Hier die Tochter der
mütterlich-jungfräulichen Demeter, in pantheistischer Schwärmerei sich
verlierend, dort die der männerjagenden Aphrodite, die hemmungslose
Venus vulgivaga. Beide sind in Ascona einen frühen Tod gestorben. Aus
heutiger Sicht wirken sie wie Versuchsmodelle, die in ihrem Extremismus
die Spannweite der neuen Möglichkeiten ausgemessen haben - an ihnen
zerschellend. Sie zeigen die Gefahren an, aber keine gültige Lösung. Jungs Antwort auf Groß Es ist nicht ohne Reiz, zwei
Ascona-Romane zu vergleichen: Hesses 'Demian'
und Goetzens 'Reich
ohne Raum'. Und dies in mehrfacher Hinsicht: Zum
ersten in Hinsicht auf die psychologische Theorie, nach der sie gebaut
worden sind: hier die von C. G. Jung, vermittelt durch Bernhard Lang,
dort die von Otto Groß, vermittelt durch Heinrich Goesch. Zum zweiten in Hinsicht auf die
Deutung, die Jung später dem Roman von Goetz zuteil werden läßt. Zum
dritten in Hinsicht auf die Verfasser dieser Romane und ihre weitere
Entwicklung. In beiden Romanen zeichnet sich die
jeweils dahinter stehende psychologische Theorie deutlich ab. Im
quasi-kultischen Mittelpunkt bei Goetz steht, wie bei Groß, die Orgie,
der Tanztaumel; beim Flötenspiel des Fo verfällt die Schar der Knaben
"in kreisenden Taumel" (RR 123), "in taumelnden Reigen" (RR 93). Wie um
Groß so entsteht auch hier das Gerücht, "bei Doktor van Lindenhuis
würden schamlose Orgien gefeiert" (RR 31). Melchior selbst erlebt einen
erotisch-mystischen Ineinanderschlang mit allen Wesen. Er paart sich
mit Frauengestalten aller Zeiten und Zonen, wird selbst zum Weib und
schließlich zum Tier. Er "wird eins mit der großen Göttin Natur und
löst sich in ihr auf". (Franz in RR 210) Lippen drängten sich wild an seinen Mund. Unter hängendem Gesträuch lag er in umschlingenden Armen. Eine zarte Gestalt zog ihn sanft an ihre Brust. Ihre Glieder verflochten sich bebend. ... Blumengewinde kränzten ihr Lager. Draußen blitzte mondbeschienenes Meer. Von ferne hallte Gesang zu ihnen herüber. Durch die Endlosigkeit des Säulenwaldes bewegte sich eine Schar von Tanzenden. ... Aus den Nischen tönten, bald näher, bald ferner, Beckenschlag und leiser Trommelwirbel. (RR 182f.) Man glaubt eine Szene aus den
nächtlichen Tanzgelagen auf dem Monte Verità vor sich zu sehen, wie sie
in der Erinnerung alter Asconesen sich erhalten haben, und was den
Säulenwald durchblitzt, wäre nicht das Meer gewesen sondern ein
mondbeschienener See: der Lago Maggiore. Wir dürfen davon ausgehen, daß
Erinnerung im Spiel ist, wenn Goetz in seinen Gedichten immer wieder
den "bockshäuptigen", den "ziegenfüßigen", den "rasenden" Gott
beschwört: ...
es tanzt in verwunschenen Gärten des Südens
Das Drama in Goetzens Roman lebt
aus dem Konflikt des Eigenen und Fremden. Ulrich von Spät vertritt die
Tradition, das Vaterprinzip, die Herren, den Zwang. Wer ihm folgt ist
"Herr über Menschen, Tiere und Erde" (RR 114). Wo die "Stadt der
gläsernen Herrn" sich ausbreitet, verstummt die Erde (ebd. 218),
erstarrt die Welt in Ordnung und Arbeit (176). Herr von Spät steht für
"ein rein patriarchales Geistesideal". (Franz in RR 109)
Melchior aber will nicht Herr sein,
er will sich verschenken, will frei sein, will die Wandlung. Die Welt
der gläsernen Herren ist ihm fremd und feind, wie sie Bruno Goetz fremd
war, der von sich bekennt: "Meine Jugend fiel in die Periode des noch
unerschütterten Aberglaubens an die Wundermacht der mechanistischen
Naturwissenschaften und des allgemeinen ignoranten Unglaubens an die
religiösen und metaphysischen Lebensgewalten. Solange ich denken kann,
bin ich dieser entgötterten und entseelten Welt, deren höllisches
Geheimnis in den beiden Weltkriegen wie eine Eiterbeule aufbrach, fremd
und feind geblieben." (Goetz
in RR 9) Melchiors Sehnsucht gilt dem
geheimnisvollen "Reich ohne Raum", das in Fo sich verkörpert. Zwar lebt
er im Konflikt, erliegt wieder und wieder den Lockungen und Täuschungen
des Herrn von Spät, kann sich nicht gänzlich von ihm befreien, aber
noch im Tode - so die Deutung von Marie Luise von Franz - erhofft er
sich die Vereinigung mit Fo, seinem Wunschbild, seinem tieferen Selbst.
"Erst sterbend findet er ihn wieder". (Franz in RR 229) Fo ist von einer Schar von Knaben
umgeben, die wandernd umherziehen, bald hier und bald dort auftauchen -
wie Groß mit seiner Trabantenschar, die bald in Ascona, bald in
Schwabing zu sehen ist, dann in Zürich oder Wien, Bern oder Berlin.
Groß wechselt ständig seinen Wohnsitz, hat gar keinen Wohnsitz, ist mal
in Florenz anzutreffen, in Spiez, in Prag, in Dresden, in Ungarn, auf
dem Balkan, dann wieder in Ascona. Er ist überall und nirgends, und wie er so scheint auch
Goetz in den Jahren bis 1918 ein unruhiges Wanderleben geführt zu haben. Die Knaben leben das Leben der
Bohème. Groß gibt an, kein Gefühl für Verpflichtungen zu haben, er
kennt keine Bindungen an Vaterland und Familie, an Ordnung oder Arbeit.
Die Knaben wollen nur frei sein, wandern und tanzen, mit der Erde sich
vermählen, mit den Wesen sich verschlingen. Mit seiner zentralen Leitgestalt
steht der Roman näher noch bei Gräser als bei Groß. Fo ist im Spiel und
im Tanz, in der Lust, im Lachen und im Sturm. Er ist ein Wanderer, ein
Flötenbläser mit Rosen im Haar, der zum Aufbruch ruft, zum Mitgehen. Er
ist der Freieste der Freien, als einziger seiner Schar von Spät nicht
zu bändigen. Nach der Deutung von Marieluise von Franz verkörpert Fo
das verborgene Selbst (210), ist "Symbol eines positiven Gotterlebens,
das einen Sinn des Todes und des Lebens vermittelt" (231), ist
"ekstatische(s) Urerlebnis", ein "Rauschgott" (227), ein "erlösender Gott".
(229) In diesen Fo - eine mythisch
überhöhtes Gräser-Nachbild - setzt Melchior noch im Sterben seine ganze
Hoffnung (wie Hesses Knulp und Hauptmanns Quint erfriert er im Schnee): "Einst wird ein Morgen sein. In frühester Dämmerung wird ein Windstoß tönend über die Erde fegen. Und du wirst zu mir treten, nackt und glühend, den Staub wirbelnder Sterne in deinen Haaren, den Widerschein leuchtender Firnen um deine Stirn ... Die Erde wird nicht mehr stumm sein: dein Wort ruft aus allem Leben, dein Atem klingt aus jedem Leibe, deine Liebe blüht aus jedem Herzen. ... Das neue Spiel hebt an. Hinschmilzt Blau in Glut. Dunkler drängen Trauben und harren dein. ... Tritt aus Laubnacht zu uns in nacktem Brande, junge Flamme, singende Flamme, Herr und Kind!" (RR 225) Ein neuer Dionysos wird erwartet,
ein erdnaher Lebensheiliger, soviel ist deutlich. Vergleicht man nun
das psychologische Profil von Götzens Roman mit dem Hesses, so fällt
ohne weiteres ins Auge, wieviel bewußter, zerebraler, disziplinierter
der 'Demian' gebaut
ist. Wie in der Botschaft von Fo alles auf Wandel und Wechsel gestellt
ist, so auch in der Form der Erzählung: ein unaufhörliches Gewoge von
Bildern, Visionen, Traumgestalten, die fließend oder sprunghaft,
proteushaft ineinander übergehen, sich ineinanderschlingen. Aus Kreuz
wird Baum und Erde, aus Mann wird Weib, aus Weib wird Tier, und selbst
die Gegenspieler Fo und Spät können trügerisch täuschend die Form des
anderen annehmen. Dazu sagt die Kommentatorin: Herr von Spät fängt Li [d. i. Melchior] in der täuschenden Gestalt Fo's ein und entführt ihn in die tiefe Nacht. Dieser Betrug ist psychologisch nicht nur als eine schlaue Travestie Ulrich von Späts zu verstehen: denn von Spät ist Fo. Hier schlagen die Gegensätze nicht mehr nur ineinander um, sondern sie verschmelzen in eines. .... - sie sind zutiefst im Unbewußten Ein und Dasselbe. Melchiors Bewußtsein erlischt, während er dies erlebt. ... Statt daß das Bewußtsein die Gegensätze dadurch, daß es sich eine schöpferische Anschauung derselben bildet, in der Retorte zur Einigung und Wandlung "in langsamem Feuer", wie die Alchemisten sagen würden, zwingt, haben sie es überrannt. (Franz in RR 212) Ganz anders bei Hesse. Eben jene
"schöpferische Anschauung" der Gegensätze ist bei ihm von vornherein
gegeben: in der Lehre von dem Gott Abraxas, der die Gegensätze in sich
vereinigt. Es ist natürlich die Lehre C.G. Jungs, die Hesse hier zugute
kommt. Es ist das Ergebnis von Jungs eigener Aufarbeitung seiner
Groß-Erfahrung, die ihn sein Problem - das der lichten und der dunklen
Welt in sich - mit größerer Bewußtheit erfassen läßt. Gemessen also an 'Reich ohne Raum' wirkt
der 'Demian'
straff strukturiert und bewußt konstruiert. Gemessen an der flüchtigen
Geistigkeit des Fo erscheint sein Gegenstück Demian als konkret und
körperlich, fast schon als bürgerliche Figur. Gegenüber der Vielzahl
schnell erscheinender und ebenso schnell sich auflösender Gestalten bei
Goetz steht bei Hesse nicht mehr als eine Handvoll fester, deutlich
abgegrenzter Figuren. Diese größere Klarheit, Festigkeit
und Bewußtheit hat ihren Preis. Aus Fo, der zu Aufbruch und Wandlung
ruft, der ins Leben ruft -
"Wer wir sind, läßt sich nur leben, nicht sagen" (RR 61) -aber
keinerlei Lehre zu bieten hat, aus Fo wird
der "Klugscheißer" Demian, der lange und weise Reden hält aber nichts
bewegt. (Aber auch seine
Losung ist: "Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert".) Die
Bilder von Tanz und Taumel sind verschwunden, die Erde ist verstummt.
Der ökosophische Aspekt bei Goetz - seine prophetisch wirkende Vision
von Waldsterben, von berstenden Atom-Pilzen und ratio-aktiver
Verstrahlung - fehlt völlig. Es fehlen die mütterlichen Motive des
Weltbaums, von Wald und Meer, von rauschhafter Allvermählung, es fehlt,
versteht sich, die Orgie. Aus dem mitreißenden Tanz der nackten
Jünglinge, aus der betörenden Musik des Flötenbläsers, aus dem
revolutionären Elan einer verschworenen kleinen Schar - "Es geht gegen
alle, es geht gegen Staat, Religion, Sittlichkeit" (143) - ist die
halbakademische Rede von Studenten geworden, die ihre neugewonnenen
Buchweisheiten zum besten geben. Aus dem Zauberwald von Baladrume und
Monte Monescia mit seinen nächtlichen Mondscheinfesten fühlt der Leser
sich versetzt in das Sprechzimmer einer psychotherapeutischen Praxis. Herr von Spät hat, bei Hesse, Fo
nicht einfach besiegt, aber die Gegenspieler reichen sich bei ihm die
Hand. Ordnung und Arbeit muß sein, Vernunft und Maß, sogar das
Vaterland muß sein und die Verteidigung des Vaterlands. C.G. Jung,
Hesses durch Lang vermittelter Mentor, fühlt sich wohl als Hauptmann
und Lagerkommandant beim schweizerischen Militär; die wilden Gesellen
von Gräser und Groß schmachten als Deserteure oder Aufrührer in den
Gefängnissen der gläsernen Herren. Groß verendet in der Gosse, Jung
wird Professor und bezieht eine Villa am Zürichsee. Dies ist nun nicht polemisch
gemeint, sondern rein deskriptiv. Hesse und Jung haben durch
Bewußtmachung ihrer seelischen Polaritäten deren Versöhnung (in Maßen)
erreicht und damit die Fähigkeit zur Wiedereingliederung in die
Gesellschaft. Groß und der Goetz von 1918 sind den "ekstatischen
Urerlebnissen" zwar näher geblieben, bleiben aber auch außerhalb der
normierten Ordnung. Möglich geworden ist die
Wiedereingliederung von Hesse und Jung (und auch des späteren Bruno
Goetz) durch die Lehre von den Symbolen, ihrer Projektion und
Introjektion und dem Weg der Individuation, den sie begleiten. Was für
Goetz dämonisch-göttliche Mächte waren (und in gewisser Weise geblieben
sind), heilig und scheu zu verehren, das sind für Jung und Hesse Mächte
der Seele geworden, die durch Bewußtmachung teilweise ins Ich und ganz
ins größere Selbst zu integrieren sind. Ein Sprung ist getan, ein
alchemistisches Werk, den wilden Fo zu bändigen. Der aber nie ganz zu
bändigen, nie ganz einzufangen ist. Die "Sehnsucht ins Unbegrenzte" (RR
206), der Hunger nach dem Rausch der Allvermählung, die Urlust an
Spiel, Geheimnis und Wahn, der Drang ins Absolute - nicht der Idee
sondern des Lebens - sie
bleiben erhalten. Hesse
stillt diesen Durst in schöpferischer Arbeit, Meditation und
"knäbischer" Gärtnerei. Kaum anders C.G. Jung. Die Spielinsel Bollingen
grüßt den Spielberg Montagnola. Es sind Burgen einer versuchten und in
Maßen auch gelungenen coniunctio oppositorum. Daß Jung dem Roman von Goetz mit
größtem Interesse begegnen mußte, versteht sich leicht. Er begegnet
darin sich selbst, er begegnet einem "Bruder in Otto Groß". War er doch
von der selben Auflösung bedroht, vom selben Zwiespalt hin und her
gerissen gewesen wie Goetzens unentschlossener Held. Nach seiner
Deutung, die wir hinter der von Marieluise von Franz vermuten dürfen,
stellen Fo und Herr von Spät zwei feindliche Brüder dar, Gegensätze,
die sich ergänzen, die zu vereinigen sind. Auf der Ebene der bewußten
Reflektion hat auch Goetz diese Paarung vollzogen. In seinem Essay von
1930 'Der neue
Adel' vermählt er theoretisch das "Reich der
Erdmutter" mit dem "Reich des Sonnengottes" im "Reich des erdvermählten
Sonnengottes" (Adel VIII). "Den Gott verleibend und den Leib vergottend
... jasagend zum dunklen Blut und zur Wollust des Geschlechts; geistig
sich erhebend über Blut und Geschlecht", will er den "erdverbundenen
Lichtgeist im kommenden Heiligen Reiche ... verwirklichen" (Adel
152f.). Eine luftige romantische Konstruktion im Zeichen Nietzsches,
die auch faschistische Lösungen nicht ausschließt.
Fo und Spät Wenn im Vorigen die Gestalt des Fo
als ein Bild des Selbst bezeichnet wurde, dann trifft das nur auf seine
Idealform zu, seine Potentialität. "Solange hingegen dieses Erlebnis
des Selbst nicht gefunden wird, spukt dieser Inhalt, wie Fo es im Roman
tut, als ein beunruhigender Sehnsuchts- und auch wahnsinnsbringender
Dämon im Hintergrund der Seele des protestantischen Menschen herum. Er
kann nur Neurose, Massenwahnsinn und suizidalen Todesrausch erzeugen,
aber keine Erleuchtung." (Franz 231) Der Fo des Romans, so sehen es Jung
und Franz, ist zwar ein "werdender Gott" (
), aber einer, der nicht mutig und mütterlich
angenommen wurde und deshalb unreif und infantil bleibt, ja zum
wahnsinnbringenden Dämon wird. Dem Träumer und Schreiber Bruno Goetz
sei es nicht gelungen, die Antipoden Fo und Spät in einer Heiligen
Hochzeit, einer coniunctio oppositorum zu ihrer höheren Einheit zu
verschmelzen. Jung kannte Fo nur zu gut. Fo war
ihm begegnet in der Gestalt von Otto Groß (und möglicherweise auch in
der von Gusto Gräser). Jung war wie Goetz fasziniert gewesen von dem
Anruf des ruhelos Schweifenden
und seiner fessellosen Freiheit. Das lösende Losungswort "Ich will
fort!" war ihm mehr als einmal auf den Lippen gelegen. Denn auch er
wollte fort aus dem Reich des alten Herrschers, des Herr von Spät und
seiner christlichen Tradition, auf deren Kirchendach er sch... . Indem
Jung den Roman von Goetz analysiert, überdenkt er seinen eigenen Weg. Auch er war zeitweise versucht
gewesen, den Flötentönen des Rattenfängers von Ascona zu folgen, hatte
aber, vor die letzte Entscheidung gestellt, einen anderen Ausweg
gefunden. In Arona waren ihm die Herren von Spät, "erlauchte Geister
aus früheren Jahrhunderten" ( ), in den wallenden Allongeperücken der
Tradition entgegengetreten und hatten ihm die Entscheidungsfrage
gestellt, auf lateinisch, in der Sprache der wissenschaftlichen und
religiösen Überlieferung. Sie dürfte kaum anders gelautet haben als die
Worte des Herrn von Spät an Melchior: Sie, die Asconesen, führen Dich "in
Chaos und Dunkel hinein", in Wahnsinn und Verbrechen. "Ihre wahllos
wilde Liebe" wird auch Dich zerstören. "Die zügellosen Freien" müssen
dem Geiste dienstbar werden,
müssen den uralten Ordnungen sich einfügen. "Alles
muß hell um sie werden." Ihr
"taumelnder Reigen" muß Gestalt gewinnen in einem universalen Gesetz,
in allgemeinverbindlichen Urbildern. In Wahnsinn, Verbrechen und Chaos
oder zu Ordnung, Richtung und Gestalt. Zu ihm oder zu mir. Entscheide
Dich! (Vgl. RR 93) Jung hat das beschämende Gefühl,
daß er die Sprache der Tradition nicht genügend beherrsche und muß
schleunigst nach Hause, um das Versäumte nachzulernen. Und worin
besteht seine Lektion? Er deutet nun die Phantasien seiner Patientin
und Geliebten Sabina Spielrein nicht mehr auf der sexuellen und
persönlichen Ebene, er deutet sie auf einer religiösen und damit
symbolischen Ebene. Er bindet Sabina an ihre familiäre geistliche
Tradition. Damit hat auch er selbst den
Rückweg, die Wiederanbindung an den Strom der überpersönlichen
Überlieferungen gefunden. Er nimmt sie nun ernst als Sprachen eines
objektiven Geistes, nicht mehr nur reduktiv als Reflexe der Bewegungen
der Libido. Die ganze Fülle des Weisheitsschatzes der Vergangenheit tut
sich ihm auf: in der Gnosis, in der Alchemie, in den Weltreligionen,
den Sekten und Mystikern und nicht zuletzt in einzelnen
seherisch-prophetischen Dichtern. Aus ihrem Bilderreichtum destilliert
er analytisch ein Universalgesetz der Individuation. Im Ziel der
Selbstwerdung, im menschlich-göttlichen Selbst zentriert sich ihm das
tausendfältig wirre Schweifen der menschlichen Strebungen und Triebe. In den Geheimlehren, namentlich der
Alchemie und der Gnosis, hat Jung für sich den Vereinigungspunkt
gefunden, der ihm ermöglicht, das freie religiöse Urerlebnis ohne Zwang
in eine zugleich rationale und symbolische Form zu überführen. In einem
Schlag befreit er sich damit sowohl von den Lockungen des
wildstürmenden Fo wie von den Fesseln des starrmachenden Herrn von Spät. Auf Grund seiner Kenntnis der
Alchemie deutet er (bzw. Frau von Franz unter seiner Anleitung) später
die Knabenschar um Fo als Zeichen einer Dissoziation, einer nicht
vollzogenen Persönlichkeitssynthese. Die Persönlichkeit (respektive das
"Selbst") befindet sich dann noch auf der Stufe der Vielfalt, d. h., es
ist wohl ein Ich vorhanden, das aber seine Ganzheit noch nicht im
Rahmen der eigenen Persönlichkeit, sondern erst in der Gemeinschaft mit
der Familie, dem Stamm oder der Nation erfahren kann; es ist noch im
Zustand der unbewußten Identität mit der Vielheit der Gruppe. Aus
diesem Grunde übt wohl auch die Knabenschar in unsrem Roman überall
eine auflösende Wirkung auf die Menschen aus: indem sie die Massen
desorientiert und in Emotionen hineintreibt. Hier beschreibt der
Dichter Szenen, welche
etliche Jahre später fast wörtlich im Nationalsozialismus zur
Wirklichkeit wurden! (Franz in RR 87) Jung und Franz glauben auch zu
wissen, was "das eigentliche ungelöste Problem bildet: von Spät, der alte Herrscher,
sollte sich in Fo, den Filius philosophorum, wandeln,
nicht ihm antagonistisch entgegenstehen, - dann würde auch Fo das
erlangen, was ihm noch fehlt: bestimmte Gestalt, Klarheit, Dauer und
Einheit." (Franz in RR 87) Es ist, auf die andere Seite
gewendet, zugleich Jungs Vorhalt an Gräser sowohl wie Groß: daß sie dem
alten Herrscher antagonistisch entgegenstehen. Ein Urteil, das
natürlich zu Recht besteht. Groß und in noch weit stärkerem Maße Gräser
sind diejenigen, die sich den bestehenden Traditionen nicht
unterwerfen, nicht anpassen, auf keine Kompromisse sich einlassen. Sie
sind die wild Schweifenden, die auf ihre Freiheit, ihre Intuition, ihr
"Urerlebnis" pochen. Sie ziehen in der Tat nicht wenige Menschen in
Chaos und Dunkel hinein. Wahnsinnsfälle und Selbstmorde säumen ihren
Weg. Gräsers Bruder Karl und seine Schwägerin Jenny enden im Irrenhaus,
Lotte Hattemer nimmt sich das Leben. Ebenso, im Gefolge von Groß,
Sophie Benz und Gertrud Goesch. Es sind nicht die einzigen, die er in
Ausschweifung, Sucht und schließliche Katastrophe hineinzieht, er
selbst endet so. Verhält es sich also tatsächlich
so, daß der asconesische Impuls "als ein beunruhigender Sehnsuchts- und
auch wahnsinnsbringender Dämon" im Hintergrund der deutschen
Kollektivseele herumspukte und dem "Massenwahnsinn und suizidalen
Todesrausch" der Hitlerbewegung die Wege bereitet hat? (Franz in RR 231) Eine umbrechende und auflösende
Folgewirkung zeigt sich nicht nur auf dem rechten Flügel. Die Freunde
von Groß sind größtenteils marxistische Revolutionäre geworden oder
haben im Dada-Wahn sich ausgetobt. Nicht selten war ihr Weg ein "Weg
nach unten", in die Selbstzerstörung. Groß hat zweifellos Aggressionen
entfesselt und moralische wie religiöse Barrieren niedergebrochen.
Seine Wirkungen sind sichtbar in den Sittenrevolutionen des
Jahrhunderts, mit Ausläufern etwa im Wiener Aktionismus und in der
AA-Kommune von Otto Mühl. Fassen wir Gräser ins Auge, so ist nicht zu übersehen, daß ihn manche Züge mit der völkischen und konservativ-revolutionären Bewegung verbinden. Wandern, Bewegung, Sturm, Wind, Wetter, Blitz sind die Zeichen Gräsers und auch die der Nazis. Mit dem Unterschied freilich, daß Gräser sich entschieden außerhalb von Staats- und Gesetzeszwang stellt und damit für die Nazis unannehmbar bleibt. Kriegergott und Allmaidmutter In einem Aufsatz von 1936 kommt C.
G. Jung auf Bruno Goetz zu sprechen: In seltsamer Vision sah BRUNO GOETZ das Geheimnis der kommenden deutschen Ereignisse in seinem "Reich ohne Raum". Ich habe mir damals [1919] das Büchlein als deutsche Wetterprognose angemerkt und nicht mehr aus den Augen gelassen. (GW X, S. 208, § 384) Von welchen kommenden deutschen
Ereignissen, welchen Wettern oder Unwettern ist die Rede? Natürlich von
jenem furor teutonicus, der damals, 1936, unter dem Namen
Nationalsozialismus durch die deutschen Lande und die deutschen Seelen
raste.Von Wotan ist die Rede. Denn "Wotan, der Wanderer, war erwacht".
(Ebd. § 373) Jung sieht ihn angekündigt in dem
Wanderer Fo und seiner Schar. Da aber Fo, wie gezeigt, auf Goetzens
Gräsererfahrung zurückgeht, muß die nächste Frage lauten: Hat etwa
Gräser jenes Wiederwachen einer archaischen Gottheit bewirkt, hat er
den schlafenden Dämon geweckt - - war
er vielleicht selbst der leibhaftige Wotan? Jung sieht Wotan als einen
Archetypus, der als eigenständige seelische Kraft kollektive Wirkungen
erzeugt. Er beschreibt ihn aufgrund der geschichtlichen Quellen als
"den Sturmgott und Wanderer, den Kämpfer, den Wunsch- und Minnegott,
den Herrn der Toten, den Herrn der Einherjer, den um Geheimes
Wissenden, den Zauberer und Gott der Dichter" (§ 393). Wodan/Odin ist
Schlachtengott und Totengott. Gibt es Züge, die Gräser mit jenem
Wotansbild verbinden? So scheint es. Gräser ist ein
Wanderer und zum Wandern Rufender. Er liebt die Metapher des Sturms,
sieht sich als Sturmwind, der unter die Satz- und Besitzbesessenen
fährt. Eines seiner Titelblätter lautet: Sturm ins Land!
Ihn zu bringen, zieht er über die Straßen.
* ...
Frühlingsfieber, Frühlingshauch * ... so muss
Und den Schreiberlingen ruft er zu:
Ihr Helden von
der Feder, In die Wetterwut sollen
wir uns wagen, denn Sturm, Sturm ins Aufrichtigsein allein
kann retten. Bist Du der
Gute, der den Brüdern Er ist der Kämpfer, der Held. Nur dem Kämpfer
blüht Leben - Freude - wahrlicher Sieg! Gräser scheint dem Wotansbild zu
entsprechen, zumindest auf den ersten, oberflächlichen Blick. Aber
warum dann, so fragt man sich, hat er sich nicht offen für Wotan und
die anderen germanischen Götter erklärt? Stand er denn nicht unter dem
starken Jugendeindruck Richard Wagners? Begegnete er auf seinen
Wanderungen, bei der Jugendbewegung, bei den Siedlern, in Gesprächen
und in der Literatur nicht auf Schritt und Tritt dem
völkisch-germanischen Gedankengut? War er nicht hie und da selbst
mitgerissen von diesem Strom und hätte er nicht in ihm "Karriere"
machen können als Vorbild, als Vorzeige- und Symbolfigur? Als Held und
Herold? Er hat es nicht getan und konnte es
nicht tun. Sein Held ist kein Soldat, sein Kämpfer kein Krieger. Ganz
im Gegenteil. Er will uns führen Von der
stahlumgürteten Kümmernis - zur sturmumwitterten Kraft. Sein Herzgott ist kein Kriegsgott.
Wenn er "wütet" und Blitze schleudert, dann gegen den Wotan
der Schlachten. Sein Kampf gilt dem Krieg - und einem falschen
"Frieden", der den Streit, die geistige Auseinandersetzung im
Alltäglichen und Kleinen, aus Feigheit verweigert. Zeit ists, hoch
Zeit, dass endlich wir den Kampf vom Kriege scheiden, * Waffenwehr -
Laffenwehr! * O Menschenvolk,
dein Notmund schreit: * Kämpfend sind
wir Sieger. Herzmann
schlägt an, schlägt ein mit Donnerwetterlachen; * Auf auf, mein
Blitz, zu fachen der Heilbegeistrung Glühn, Gräsers Wandern hat nichts vom
gehetzten Schweifen des Wurzellosen, Ruhelosen, Haltlosen. Er ist kein
Ahasver. Sein Wandern hat den Sinn und die Art, wie Bruno Goetz sie
beschreibt: Es ist das Bild der Ferne, das Bild der Weite der Welt, das die Seele über alle Grenzen hinauslockt. Es ist die Mahnung, an nichts Teilhaftem, an nichts Besonderem haften zu bleiben, sich von nichts vorzeitig festhalten, sich in nichts verstricken zu lassen, sich mit keiner noch so schönen Enge und Abseitigkeit, mit keiner noch so verführereischen Geborgenheit und Begrenztheit zu begnügen, um nicht der Fülle und Ganzheit der Welt verlustig zu gehen, die ein Widerspiel der Fülle der Ganzheit der Seele ist. ... Es ist der innere Befehl: ... "Geh jede Strasse, die Dich lockt! Folge jedem Bilde, das Dir aufleuchtet! Bewahre Dich nicht! Wer sich bewahrt, der verliert sich. Verliere Dich in alles - und Du wirst Dich finden!" (Dichtung 65) Gräsers Wandern ist ein Sich-Selbst-Erwandern. Und er klopft an die Türen der Menschen, um Luft in ihre Enge zu bringen, Frühlingsluft: * Die Welt
braucht Sonne, sonnger Mannheit Lüftung, * Ob der auch
voll Knechtegrausen "stromern" höhnt Wotan ist ein düsterer Gott, ein Totengott. Für Gräser ist der Tod kein Thema:
Siegfried: C. G. Jung wäre auf dem Holzweg,
wenn er den Wanderer Fo in Goetzens Roman als Wotan deuten wollte. Aber
das tut er ja nicht. Ihm ist das Buddhawesen im Namen und in der
Gestalt des Fo nicht verborgen geblieben. Was er aus dem Buche liest
und warum er es so hochschätzt, ist ja gerade dies: Hier kündige ein
verwandelter, ein vergeistigter "Wotan" sich an, ein neues, westöstlich
gesteigertes Gottesbild aus heimischem Boden - wehe, wenn ihm die
Anerkennung versagt würde! Dann werde es, verdrängt und zurückgestaut,
uralte, barbarische Bahnungen wiederbeleben, dann werde der alte, der
grausame Jäger-, Krieger- und Totengott Wotan wieder erwachen. Im Jahre 1936 kann Jung nicht
umhin, zu sehen und zu sagen, mit einem drastischen, scheinbar
lachenden Sarkasmus, aus dem jedoch Hohn und Verzweiflung spricht, daß
eben dies geschehen ist. Von wütenden Berserkern spricht er,
die sich von ihren Fesseln losgerissen hätten (211), von einem Rückfall
ins Mittelalter, von einem Unwetter, das ausgebrochen sei (211), von
Deutschland als geistigem "Katastrophenland" (ebd.). Und dann greift er
zu einer immanenten Kritik. Wenn schon Wotan im Nazismus wiederkehre,
"so müßten wir folgern, daß Wotan nicht nur seinen unruhvollen,
gewalttätigen und stürmischen Charakter, sondern auch seine ganz
andere, ekstatische und mantische Natur äußern müßte" (217). Wotan ist
ja auch der Runenkundige, der um Geheimes Wissende, der Seher,
"Zauberer und Gott der Dichter" (213). Von dieser Seite Wotans kann er
im geistlosen Getümmel der Hitlerhorden nichts bemerken. Wohl aber
erblickt er sie in den Traumvisionen um den Wanderer Fo. "Urvision"
trete uns entgegen in der Dichtung von Goetz, den Jung ohne Scheu neben
Dante, Goethe, Nietzsche, Blake und Jakob Böhme stellt (GW XV, 142).
Und Urvision, nämlich die Schau von Urbildern ist erst recht - und um
wieviel echter! - , was in der Dichtung Gusto Gräsers uns begegnet. Jung vernimmt diese Kraft nur durch
ein schwaches Zwischenmedium, durch den Roman von Goetz hindurch, und
ist ergriffen. Wie erst wäre er bewegt gewesen, hätte er die späte
Dichtung Gräsers kennengelernt! Jung wäre der erste, wenn auch
vielleicht der einzige gewesen, der die Fülle von archetypischen
Bildern in Gräsers Dichtung nicht nur erkennen, der auch ihren Rang und
ihre Bedeutung im Fortgang der Geistesgeschichte hätte bewerten und
einschätzen können. Er hätte gesagt, was er über die so
viel schwächere Spiegelung in der Erzählung von Goetz schon gesagt hat,
daß hier in der Tat ein neues Gottesbild, ein neuer Mythos anklopfe.
Nicht Wotan und nicht Jesus, sondern eine Folgegestalt, die durch
Nietzsche und Laotse, Buddha und Krishna hindurchgegangen ist, um in
den "Urvisionen" Gräsers neu zu erscheinen. Wie immer ihr je eigener Weg
gewesen sein mag, Eines verbindet Jung mit Gräser, Groß und Goetz: die
monteveritanische Wiedererhebung des unterdrückten Weiblichen ins
kulturelle Hochbild. Was bei Groß Astarte heißt - eine archaische,
nicht mehr zu wiederholende Frühstufe - , was bei Goetz Dionysos
darstellt - eine ebenfalls unwiederholbare Inkarnation - , was bei Jung
Anima heißt - eine wissenschaftliche Rekonstruktion - , dieses von
allen Vieren gemeinsam Gesuchte gewinnt erst bei Gräser seine volle,
zeitgemäße Erfüllung in den Urbildern der Großen Mutter, des
Weltenbaums und der Heiligen Hochzeit. Archetypische Bilder, die trotz
weiblicher Betonung letztendlich den Ausgleich, die Harmonie der Großen
Polaren fordern und verwirklichen.
Ins Dritte
dringen ist Menschenheil.
[1] Marie Luise von Franz in ihrem Kommentar wörtlich: "Jung hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß hinter dem Nationalsozialismus eine religiöse Krise steht und daß dabei ein älteres archetypisches Gottesbild: Wotan im Unbewußten der Deutschen wiederbelebt wurde. Und doch wurde ein solcher Rückschritt in das vorchristliche Heidentum vom Unbewußten her nicht wirklich angestrebt, sondern er geschah aus ähnlichen Gründen, aus denen solche Regressionen auch beim Einzelnen jeweils geschehen: wenn der Lebensstrom nach vorne an ein Hindernis stößt und eine unbewußt angestrebte Weiterentwicklung schwierig wird, staut er sich und belebt nach rückwärts alte Bahnungen." (In: 'Das Reich ohne Raum', Seite 34) [2] Die Szene war nicht ohne Entsprechungen in der biographischen Wirklichkeit. Der zeitweilige Gräser-Jünger Ludwig Häußer soll während des Gottesdienstes auf die Kanzel von Kirchen gestiegen sein und sich als neuer Christus verkündet haben. Man kennt das faunische Evangelium, das er lehrte. Ein anderer Gräser-Jünger, der Drechslergeselle Muck Lamberty, eroberte ebenfalls die Kanzeln christlicher Kirchen und erfüllte sie mit den Gesängen seiner wandernden Tänzerschar. Auch christliche Prediger und Theologen wurden von der Tanzbegeisterung mitgerissen. Der wie Goetz von dem Groß-Schüler Heinrich Goesch inspirierte Theologe Paul Tillich hat dionysische Elemente in sein Denken aufgenommen. Hesses wandernde Morgenlandfahrer beehren Kirchen und Kapellen mit ihrem Tanz und Spiel. [3] Ein Freund macht mich darauf aufmerksam, daß meine Schilderung des Ortes der Wirklichkeit nicht entspricht. Tatsächlich beginnt die finster-romantische Schlucht erst unterhalb der Mühle und jenseits einer ganz unromantischen Fahrwegs. Es geht hier aber nicht um Ortsgeschichte und Geländebeschreibung sondern um ein Erlebnisbild, das sich in mir - wie in den Besuchern von einst - aus Erinnerungen und Erzählungen, Fotos und Fantasien gebildet hat. Wer früher von Ascona zu diesem Ort heraufstieg, der kam und ging durch eine finster-romantische Schlucht, in der ein kraftvoller Wildbach sich durch einen schmalen Spalt zwischen haushohen Felsmassen zwängte. Den Wasserfall gibt es nicht mehr, das Mühlrad ruht lange schon. Die Felsen sind noch da, aber der Sturzbach von einst ist heute nur noch ein Rinnsal, nachdem die Gemeinde das Hauptwasser oberhalb gefaßt und in ihre Versorgungsleitungen gepreßt hat. Was uns bleibt, ist das Bild des Dichters, ein Ort der Poesie und der Fantasie. Von dem ist hier die Rede. [4] Wir können davon
ausgehen, daß Lotte von Groß ebenso psychologisch zugesetzt worden ist,
wie er das im selben Zeitraum seiner Frau gegenüber getan hat. Nach
ihren Aussagen protokolliert C. G. Jung: |