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Gerhart Hauptmanns "Narr in Christo Emanuel Quint" und Gusto Gräser
Der Sonnenanbeter Emanuel Quint Auch Hauptmann hatte, wie Hesse, den
bedürfnislosen Wanderer und Einsiedler Gusto Gräser zunächst als einen
Nachfolger Jesu verstanden. Wie überrascht muss er gewesen sein, als eines
Tages der vermeintliche Asket mit einem lebenslustigen Weib und einer ganzen
Fuhre Kinder vor seiner Türe stand. Denn Gräser zog im
Pferdewagen durch die Lande, predigte nicht Askese sondern “das heilige Genießen”.
Im Frühjahr 1909 besuchte er Johannes Schlaf in Weimar und wird damals auch bei
Hauptmann angeklopft haben.
Um diese Zeit entstand der Roman über den “Narren in Christo Emanuel Quint”, der in aller Regel als ein Jesusroman gedeutet wird. Dabei wird übersehen, dass dieser moderne “Narr in Christo” Züge trägt und Ansichten vertritt, die keineswegs auf den biblischen Jesus zurückzuführen sind: dass er die Sonne verehrt, sogar vor ihr niederkniet, dass er das Nacktbaden als “Feier” und “Andacht” pflegt, überhaupt Gott in der Natur findet und sich eher mit der Erde verbinden will als mit dem Himmel. Dass er den Staat und seine “scheußlichen Metzelfeste” als „blutigen Wahnsinn“ bekämpft, dass er barfuß geht und als „Kohlrabiapostel“ verhöhnt wird. Dass er den Gebrauch von Geld ablehnt. Besonders aber, dass er das Geschlechtsleben heiligt – und dies in ausdrücklichem Widerspruch gegen das Christentum. All dies sind Züge, die ihn mit dem „Narren“ Gusto Gräser verbinden, dem als „Kohlrabiapostel“ Verspotteten, und damit auch mit dem Monte Verità. Nicht von ungefähr erscheint in Hauptmanns Vorarbeiten zu ‚Quint’ die Notiz: „Die Kolonie in Locarno“ (Sprengel: Mythen 127). Damit ist nichts anderes als die Kolonie auf dem Monte Verità gemeint. Dorthin zieht es am Ende auch den armen Quint. Auf dem Weg ins Tessin erfriert er beim Übergang über den Gotthard im Schnee: Symbol für Hauptmanns damalige Position. Es zieht ihn zwar zu den „glückseligen Inseln“, zu seinem „utopischen Archipelagus“. Aber er schafft den Übergang nicht. Die inneren Widerstände, die Ängste, die Kälte – sie sind noch zu stark. Der Druck von Krieg und Niederlage wird nötig sein, um diese Hemmungen zu überwinden. Im Frühjahr 1919 reist Hauptmann zum Monte Verità. Wer Gräsers Leben und Denken kennt, wird ihn in den folgenden Auszügen auf Schritt und Tritt wiederfinden.
Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint „Siehst du den langen Menschen, Frau?“ fragte er, auf Emanuel hinweisend. (157) Emanuel ging mit seinem langen, wiegenden Schritt und in einer sonderbar würdigen Haltung, die mit seinen unbekleideten Füßen, seinem unbedeckten Kopf sowie mit der Armseligkeit seiner Bekleidung überhaupt in Widerspruch stand. (11) ... Hans gestand sich, daß der Eindruck des vorüberschreitenden seltsamen Hirten an der Spitze der Herde ungewöhnlich gewesen war ... fand jedoch, daß der jesusähnliche Eindruck, den Emanuel machte, nicht leicht auf gekünstelte Äußerlichkeit zurückzuführen war ... und ebensowenig konnte das offene Hemd, das kurze Beinkleid, der Umstand, daß Quint einen langen Stab in der Rechten trug und barfuß ging, als absichtlich gedeutet werden. (217) Das geflügelte Wort, das dem Narren durch Hundegebell entgegenschallte, war aber dies: Kohlrabi-Apostel. … Ganz besonders in dieser Stadt (Dresden) sah man bisweilen Leute in härenen Hemden, barfuß und einen Strick um den Leib, die Haare bis auf die Schultern reichend, durch die Straßen ziehen. (88) Was göttlich sei, sagte er, das wandere. So wandere der Heiland, wandere der Gottessohn, wandere der Menschensohn über die Welt, wandere ein jeglicher, der aus dem Geiste geboren wäre, unbehaust, ohne bleibende Stätte, ohne Vermögen, ohne Dach, ohne Weib, ohne Kind, ohne auch nur eine Ruhestätte für sein Haupt. (276) Seine Nahrung bestand aus Wasser, das er, flach ausgestreckt, von dem Spiegel der Quellen trank – er umging die Dörfer -, aus Wurzeln, die er hier und da den Feldern entnahm, gelegentlich aus frischen Salatblättern, und einige Male ward ihm, ohne daß er gebeten hatte, Brot und ein Trunk dünnen Kaffees zuteil. (45) In die Gewohnheit, barfuß zu gehen, fiel Quint mit vollem Bewußtsein mitunter zurück. Er sagte, er wolle mit den Kräften der Muttererde verbunden bleiben. (218) Vor allem war es die leider von Emanuel eigensinnig festgehaltene Wunderlichkeit, weder Geld zu nehmen noch auszugeben, die ihn immer wieder erheblich aufreizte. (237) „Ich bin ein Gegner des Christentums. … Das Christentum hat … mit der Verdammung, Entheiligung und Entwürdigung des Geschlechtslebens allein schon maßloses Unheil angerichtet. … Ich betrachte das Christentum … als den wahren Krebsschaden unserer gesamten menschlichen Zustände.“ (369) Die Wahrheit zu sagen, sah er in der Vereinigung der Körper überhaupt eine Sünde nicht! (429) Von allen Bildern im Reich der Erscheinungen, die sein Auge zu fassen verstand, war ihm die Sonne, die aufging, und die Sonne, die unterging, das gewaltigste und zugleich das tiefste Symbol. (275) Wenn sie heraufkam, erblickte sie Dörfer im Schlaf und den nackten Körper Emanuel Quints, der bereits am Ufer des Sees aus dem Bade stieg. … Dies Bad war für Emanuel ein erhabenes Glück, eine paradiesische Seligkeit. Es war noch mehr: es war eine Feier! Und die bezaubernde Andacht dieser Minuten heiligte seinen ganzen Tag. (221) Er hatte staatsgefährliche Äußerungen … : Gegen die Monarchie! Gegen die Religion! Gegen die Kirche! Gegen den Staat! … Quint hatte sich für die freie Liebe erklärt und mit Entschiedenheit gegen das Privateigentum. (404) Er bildete Jesum in sein Inneres. (300) „Christus? Ich kenne ihn nicht oder bin es selbst!“ (348) Das vornehmste Werkzeug der Offenbarung Gottes ist der Mensch, nicht irgendein Buch. (90) „Der Geist ist immer mehr als der Buchstabe. Der Buchstabe aber steht im Buch, der Geist dagegen ist in mir.“ (155) „Wer sich auf das Gesetz beruft, beruft sich auf das Gesetz, nicht auf Gott. … Oder meinet ihr wirklich, daß der Heiland eure Gerichte, die Lippen eurer Richter, die nach toten Buchstaben Unrecht sprechen … meint ihr, daß Jesus die Arbeit eurer Henker, die Mauern eurer Zuchthäuser, die Richtblöcke eurer Richtstätten segnen wird? (296) „Oder herrscht unter euch ein anderes Gesetz als Auge um Auge, Zahn um Zahn?“ fuhr Emanuel fort. „Habt ihr nicht die Völker bewaffnet, die Welt mit Myriaden von furchtbaren Mordinstrumenten bedeckt? Schwimmen nicht eure ungeheuren eisernen Mordmaschinen auf allen Meeren, und meinet ihr, daß der Heiland eure Kanonen, eure Gewehre und eure scheußlichen Metzelfeste segnen wird?“ (293) Seine Wanderung … über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe, Basel, Zürich, Luzern bis nach Göschenen und Andermatt … (413) Er war auch derselbe … der oberhalb des Gotthardhospizes nach der Schneeschmelze im Frühjahr darauf erstarrt und zusammengekauert gefunden wurde. (414) Aus Gerhart Hauptmann: Das erzählerische
Werk. Frankfurt/M. 1964, Bd. 2
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