Martin Heidegger Martin Heidegger (1889 - 1976) war ein deutscher Philosoph. Seine wichtigsten Ziele waren die Kritik der abendländischen Philosophie und die denkerische Grundlegung für ein neues Weltverständnis. Ein Vordenker hinter Heidegger? Es war nicht schwer mit ihm ins Gespräch
zu kommen, eher wartete er darauf, und wenn er einen mit ehrlicher
Freude begrüßte oder sich mit ‚Lebwohl’
verabschiedete, so war man nicht nur von der wohltönenden
Stimme, sondern auch von der einen oder anderen Formulierung
überrascht. Sätze wie ‚Ich lausche so ein wenig in
die Dinge herein’ oder ‚Ich grabe nach Wurzeln, nach
Wortwurzeln’ mag man in hundert Jahren gut und gern für
apokryphe Heideggerworte halten. Martin
Müllerott
Es ist nicht neu. Seine Biographen haben immer schon bemerkt, daß da eine Lücke klafft zwischen dem Heidegger von 1916, seiner akademischen Normalität und Unauffälligkeit, und dem der Zwanzigerjahre - dem großen Erschütterer mit prophetischem Gestus. „Eine echte Kontinuität zwischen den frühen Schriften einerseits und 'Sein und Zeit' andererseits läßt sich ... kaum herstellen; zwischen dem, was Heidegger bis 1916 schrieb, einerseits und der Fundamentalontologie sowie der existenzialen Analyse in 'Sein und Zeit' andererseits liegt - was den philosophischen Anspruch und was Form und Inhalt betrifft - eine Kluft. Es müssen also in Heideggers philosophischer Entwicklung während des Jahrzehnts nach 1915/16 philosophische Erfahrungen von grundsätzlicher Bedeutung hinzugekommen sein.“ (Franzen 1976, S. 33) Inzwischen kennen wir die Vorstufen und Übergänge zwar besser, aber der Tatbestand bleibt: der „eigentliche“ Heidegger, nämlich der Denker der Eigentlichkeit und des entschlossenen Daseins, tritt erst nach 1920 hervor. Was war geschehen? - Im Herbst 1919 erschien in Freiburg ein wandernder Prophet, soeben entlassen aus den Gefängnissen der Münchner Gegenrevolution, wie früher aus denen der monarchistischen Kriegsherren. Er hatte sie überstanden, mannhaft überstanden, und erschütterte nun mit gewaltigem Aufruf die Stadt Freiburg. Sprach monatelang vor vollbesetzten Sälen, löste Erschrecken wie begeisterte Zustimmung aus. Die Presse - jedenfalls ein Teil von ihr - stand auf seiner Seite. Ärzte, Schriftsteller, Künstler setzten sich öffentlich für ihn ein. Auf Flugblättern gingen seine Reden von Hand zu Hand. Der Redner selbst wurde gleichwohl verhaftet, ausgewiesen, verschwand von der Freiburger Bildfläche.
Freiburger Flugblatt (Ausschnitt) 1919 Zurück blieb, mit den anderen Freiburger Bürgern, der Privatdozent Martin Heidegger; zurück blieb, mit so vielen anderen, ein Erschütterter. Das müssen wir jedenfalls annehmen. Denn von nun an erscheinen in seinem Denken Motive und Sprechweisen, wie wir sie von jenem Unbekannten kennen. Abschrift Was lehrte jener wandernde Naturphilosoph (den wir vorläufig einfach X. nennen wollen, weil sein Name nur Wenigen etwas sagt und weil er außerdem die große Unbekannte im Leben von Martin Heidegger darstellt)? X. bäumt sich auf gegen die Vorherrschaft des technisch-naturwissenschaftlichen Denkens, d. h. gegen die moderne Zivilisation überhaupt. Gegen ihre Verstandbesessenheit, ihren Naturbeherr-schungswahn, ihre Vernutzungswut, gegen all das ruchlos feige Gemache der Zuvielisation. Seine harsche Kulturkritik bleibt jedoch nicht im Moralischen stecken. X. führt das Elend unserer Zivilisation auf einen fundamentalen Irrtum zurück: auf die Verwechslung des Richtigen mit dem Wahren. Die Schulphilosophen, die Herren Richtigreiter, wie er sie nennt, diese Verstandvereisten haben den Wunderquell der Wahrheit ... zu Richtigkeit vergletschert. Aber: Richtig heisst noch lang nicht wahr. X. dagegen führt uns aus Richtig heim ins Wahr. Aus der Gewahrheit zur Bewahrheit - zur Wahrheit, die uns alle wahrt. Es geht darum, ein BIN im BAUMe, in dem Allbaum SEIN zu werden. Aber: Wir sind tief in Verstand verfroren ... vom Verstand verführt ... Uns hat das aufgesteckte, das Laternenlicht der Wissenschaft arg in die Irre geleitet, sagt er in seiner Freiburger Rede von Anfang 1920. (Es ist übrigens die einzige überhaupt, die sich von ihm erhalten hat.) Das Wahre lasse sich nicht "feststellen", sei mit Begriffen nicht zu fassen: begriffen ist es nimmer da. Es lasse sich nicht berechnen: Berechnet Ihr’s? – Dass Ihr’s nit brecht! Leben folgt keinem Ziffernknecht. Es entziehe sich dem Zugriff des Wissenwollens. Und es öffne sich nur dem Sein-lassen, Geschehen-lassen, Gehen-lassen. Wir
Angstverstandesknechte, nie kommen wir zurechte
in unsrer Wunderwelt mit Wissen, Greifen, Fassen - gehn, gehen heisst's, Es lassen ... Darum gibt er auch nicht vor, Wahrheit lehren zu können: Hier
'steht' nicht Wahrheit, steht auch nit dort,
in keinem Satze sitzt sie - vom Herzenshaupte blitzt sie, wandelnd ineinemfort. Schreiten will die Wilde, streiten, wirken ihre Wunderwelt, Hochzeit will sie uns bereiten ... Sie ist die Schreitende und Streitende, ewig sich Wandelnde, mit einem anderen Wort: sie ist geschichtlich. Und sie ist nicht abschließbar, nicht einschließbar, sie ist das Offene: Wahrsein, das Offene allein kennt Sieg. Alles Offene geht zum Grund ... Wohlauf ... zur Offenheiterkeit! Nach dem "Was" des menschlichen Daseins – seiner Essenz – zu fragen, ist nach seiner Meinung nutzlos. Auf das „Dass“ kommt es an – das entschiedene Existieren. Was
ich bin? – Frag voll Beschwerden.
Dass ich bin – wohlauf zu werden! Darum ist das Denken von X. kein Begreifen, Wissen und Fassen, sondern ein Räumen und Lichten. Lichten mein Dichten. Not brennt zu lichten. Er will dem Leben eine Lichtung schlagen. Das Wort lichten begegnet uns gleich im ersten Satz seiner Freiburger Rede: Wir müssen heute die Frage lichten …
„Was aber heißt ‚räumen’ anderes als ein Frei-, ein Offen-machen. Waldlichtung: ein Ort, an dem ‚gelichtet’, d. h. an dem der Erdboden von den Baumstämmen freigelegt, von ihnen geräumt wurde.“ So Heidegger (in Neske 1977, S. 37). Nicht anders veranschaulicht X. in einem Gedicht von 1917 einem sinnsuchenden Gast, worum / es geht in diesem Heiligtum. Im dichterischen Gleichnis führt er seinen Besucher in den Wald, lässt seinen Jungen die Axt holen – muss hier den Wald erlichten – und – schlägt zu. Da
sein – wie dieser sonnge Sohn!
Drum geht es hier! … Was willst Du mehr? Mehr gibt es nicht! Schau, dieser Dürre steht im Licht – hau her! Indem er das Dürre fällt, um dem Licht Raum zu geben, indem er ein Loch schlägt in die mit Begriffen verbretterte Welt, ein blaues Loch, durch das Heilsonne lächelt, stellt der Dichter in seinem Werk die verstellte Wahrheit wieder her. Herstellung ist sein Beruf, Herstellung ins Da. Er selbst wird so zur Lichtung, ja, zum Loch: - Haha, bin ein blaues Loch! – Ein Loch für wen? – Für das Urwesen des Seins. Offensichtlich sagen in seinem Denken Da-sein, Lichtung, Offenheit, Räumen ein und dasselbe aus: die eine Grunderfahrung einer innerweltlichen, nachchristlichen Mystik: ohne Grund, Ziel und Zweck einfach da-zu-sein in der Ekstase des Augenblicks. Eine Selbstsetzung und Selbstoffenbarung im Da, im Dass und im Bin. Es geht ihm ums Sein – ums Bin. Du wirst sein, mitbildbaun den Erdsternreihn, und sieh da, Uns blüht das: BIN Dies ist ein zentraler Punkt der Heideggerschen Textgeschichte, der erst durch die Texte des Übergangs um 1920 erkennbar wird; daß nämlich die Frage nach dem „Sein“ ursprünglich als Frage nach dem „ich bin“ auftritt. Thomae 142 Heidegger trennt mit aller Heftigkeit das „ich bin“ von einem „spezifisch kenntnisnehmend explizierenden und dabei irgendwie objektivierenden ‚ist’. Thomae 140 In der heutigen faktischen Umsturzsituation… mache … (ich), was ich muß … Ich arbeite aus meinem ‚ich bin’ und meiner … faktischen Herlunft. Mit dieser Faktizität wütet das Existieren. MH um 1920/21 an Karl Löwith, zit. in Thomae 272 Ihre Besprechung … hat mich … innerlich wirklich berührt. Jedoch vermisse ich noch … in den Erörterungen über „ich bin“ … die positive Methode. Karl Jaspers an MH am 1. 8. 1921. In: Martin Heidegger – Karl Jaspers. Briefwechsel, S. 23 Der Dichter, sagt X, ist ein Hörender. Sein Denken ist Andacht, sein Hören Gehörigkeit. Er, der Tiefgeschickte … schickt sich … in die Schickung der Sprache. Durch seine allvernehmende Vernunft schafft er Raum und Lichtung für das Ge-ist, für das Ringen des Allgerings. Mensch-wird-durch-Wort. Der Dichter vernimmt den Urbescheid der Sprache, ihm hat er zu entsprechen. Die Sprache ist die wahre Heimat des Menschen, die treue Stimme unsrer Wirklichkeit. Aus ihr spricht das Sein selber: … das ewige Geïst
webt fort und immerfort sein – Unser Weltenwort. Daher ist das Denken von X. ein Sprachdenken, ein Hinhören auf das Rauschen des Sprachbaums.
…
Hörn – nicht – verstehn –
mitgehn, eingehn in seine Heimlichweisen – sein Wohlgeschehn!
Wort ist Werden. Nur das Heilwort des Dichters kann uns retten. … wir sind gerettet,
die hörend wir gehorchen unsrem Word, Herzgottheitwort, das innig heim uns bettet, ins Wahr heimrettet …
Die Wahrheit zu lichten heißt aber nicht, sie ins Öffentlicht zu reißen. Dort muss sie verdorren, muss ihren Heimlichreiz verlieren. Nur im Heimlicht, nur Durch Heimlichkeit blüht
Lebensall –
Unheimlichkeit = Allzerfall. Im Heimlichgrund erblüht ihr Wunder. Und doch lebt sie im Widerspiel von Heimlichkeit und Offenheit, von Licht und Dunkel, in der Hochzeit von Himmel und Erde. Als Paarheiterkeit. … dass Erd- und
Himmel-Walthekraft
im Paargesang zusammenströmt … … zur Hochzeit von Licht und Dunkel … zur Paarheit, der Wahrheit, wohlauf! Das Kunstwort, das X. für diese dialektische Einheit findet, heißt Himosal. (Die Bedeutung von „sal“ ist von der Wurzel her: „Wohnung, Herberge, Hof“, also das Geschlossene, Bergende, Dunkle im Gegensatz zur offenen Weite des Himmels.) Im Himosal, im Wirweltkörperchor, wo Eins zum Andern hält …
gelassen fällt, ins Wahr heimfällt,
wellt wie das Blut, in endeloser Flut sich wendewindend, Weltkörperlein, sich Eins ins Andre findend, heimlicherweis, im Vater-Mutterpol-durchwogten Kreis, hinab, empor im Wonneganzen … ist Liebe und Streit eins und dasselbe. Den Streit von Vater-Mutterpol gilt es zu entfachen: Zur Eintracht durch den Streit! So geschieht uns das Glück der heitern Achtsamkeit, das nur mit Straus und Streit uns recht gedeiht.
Lichtend und räumend führt der Dichter den Menschen in sein Wohnen, in sein Heilgewohn, ins Urgewohn: wo wir zusammen so groß-gering / alle wohnen im einigen Ring. Im Allgering.
X. weist uns, wie nach ihm Heidegger, auf die gemeinsame Wurzel von „bin“ und „bauen“. Sein Dichten, sagt er, sei ein Bauen, und in solchem Bauen verwirkliche sich das eigentliche Sein des Menschen, sein ‚ich bin’. Bin-im-Baun sei die könnende Erkenntnis, Baum-bin-im-Baun die Allweltordnungsfuge. Die Bauer und Wohner sind Schoner unsres wildschönen Sterns. Durch ihr Schonen kommt die Schöne des Seins ins Scheinen. Sie wollen den Erdenstern in seine Schöne schonen, wollen den Wald mit aller Erd, des Erdsternmenschseins heitre Würde retten. Sie sind die Wenigen, die paar Entschlossnen, Bahnbereiter des Kommenden, die das Ringespiel, das Weltspiel mitspielen, die freihringeruhn im großen Allgering … der geringen Vonselber-wirklichkeit. Sie schwingen mit im großen Reigen, ringen um das Dasein immerda. Der Menschling jedoch, der Leut - X. unterscheidet „Menschen“ und „Leute“ – ist beherrscht vom Man, von der Sorgenmuhm und vom Angstgezwerg. Sein Dasein ist Flucht vor dem eigenen Selbst, Flucht in Betrieb, Geschwätz, Gerase, Gemache, in sinnloses Produzier-gepurzel, in Vernutzungswut, in verstiegenen Herrschwahn, in den Willen zur Macht. Er ist der Masse verfallen, erstickt im Massesein und seinem ungeheueren Verlassensein. Wie können wir den Menschling verwinden? (Auch das Wort „verwinden“ finden wir bei X!) Was befreit uns vom ‚Man’, dem Gespenst des Massenwahns? – Die Antwort von X.: Selbstsein, Eigentlichsein, entschlossenes Da-sein. Eigentlichsein: Wir farb- und geistlosen Mietmenschen bekennen nicht das Eigene, heilig Eigene, so hatte er schon 1912 in Berlin gesprochen. Aber: Bekenntnis muss sein des ursprünglich Eigenen, das aus dem Eigentlichen keimt, dem Ganzen. Zum Eigentlich geeignet sollen wir werden: Hilf mir, hilf uns heimgeigen
zum tiefgeeignet
Eigen, das Herr Verstand uns verwarf … Er, der Dichter, reißt uns Los von Sorgenmuhm ins
Eigentliche,
ins allgeeignet heilge Eigentum. Kommt ins Eigentliche! lautet sein Ruf. Eigen, eigentlich, Eigentum, Eigenheit, geeignet sind Kernworte seines Denkens, deren Bedeutungsgehalt er vielfältig ausmünzt. Wir sollen ins Eigentliche fallen, ins allgeeignet heilge Eigentum. Aus den Wehen der Gegenwart müsse der eigentliche Mensch erstehen. X. ist der Prophet der Eigentlichkeit. Da-sein:
Ich
– bin – da!
Ich bin da – und Du? Sei da, sei Du, sei ein Freund! X. ist „entschlossen für das Da“ (Heidegger: Sein und Zeit 300). Entschlossenheit, fern aller
Wankelpein,
bin ich, bin Mut, gelassen da-zu-sein. X. ist der Prophet des entschlossenen Daseins.
Entschlossenheit: Du suchst den Schlüssel,
der die Welt erschließt?
Wag nur – Entschlossenheit! Entschlossen leben! Entschlossen der Allwirklichkeit! Die Welt blüht hier, wo wir uns tief entschließen. Jah, dem Entschlossenen tust Du Dich auf.
Selbstsein:
„Selbst“
heilt die Welt!
Entschliesst Euch zur Gemeinschaft mit Euch Selber! Uns Selber zu erringen, ihr Redlichen, heran! Und aus dem hirnvernarrt verwirrten Getue hebet von selbst uns an ein ordnendes Tun – gehet vom Selbst ein menschenwürdiges Leben. Hör auf, fall heim, verstiegne Welt, dich sieghaft zu erheben aus stillgewaltigem Selbst! – Zum Himmel aller Himmel: Selbstheimatsein.
Jemeinigkeit: Für X gilt: Mein ist das Herz der Ge-mein-schaft. Er führt Von dem sonnverdunkelnden Gespenst ‚Öffentliche Meinung’ zu ‚Mein’, dem alldurchheiternden Funkelstern. - Denn es ist doch stets das Meine, das ich mein. – Jawohl, das Allge-Meine! X. ist der Prediger des Selbstseins, der Eigentlichkeit, der Entschlossenheit zum Da-sein. Er ist ein Verächter des Man, des Vielbetriebs, der „Cultur“. Er preist die Einfachheit, die Tracht, das Handwerk und die Hütten. Es geht ihm ums Sein – ums Bin. - - - ? ? ? Wem,
der jemals Heidegger gelesen oder auch nur von ihm gehört hat,
käme dies alles nicht irgendwie bekannt vor?
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