Zurück

Gräser und Laban auf dem Monte Verità

Die Geburt des Ausdruckstanzes

« Laban veut séparer la danse de la musique. » (Kaj Noschis)

  

Zeichnung von Laban

Rudolf Laban wurde am 15. Dezember 1879 geboren, im selben Jahr wie Gräser; sie starben auch im selben Jahr, und ihre Mütter kamen aus der selben Stadt, Kronstadt. Frau von Laban war erst zwanzig, als Rudolf, ihr erstes Kind, zur Welt kam; sie war also sechs Jahre jünger als Frau Gräser (die Väter waren altersmäßig nur drei Jahre auseinander), aber da sie beide Arzttöchter in der selben eng verknüpften Gemeinde waren, ist es wahrscheinlich, daß sie sich kannten. Mehr noch: da beide Söhne sehr an ihren Müttern hingen, ist es wahrscheinlich, daß sie von den selben Liedern und Geschichten zehren konnten. Sie kamen aus der selben Gesellschaftsschicht, denn Labans Vater wurde als Bürgerlicher geboren  und erst 1897 geadelt, als sein Sohn achtzehn war. Es war dies eine automatische Konsequenz seines Aufstiegs in der Armee. (Green 83)

So dicht zieht Martin Green die Parallelen zwischen den beiden Tänzern vom Berg, einem Tänzer, der auch dichtete - Laban - und einem Dichter, der auch tanzte - Gräser. Ihre bloße Herkunft mußte sie zusammenführen, aber mehr noch ihre künstlerische Ader, ihr Freiheitsdrang und vielleicht am meisten ihr innig-nahes Naturerleben, Naturgefühl. Wenn Laban über seinen Tanz schreiben will, dann kann er nicht anders: er muß zuerst von seiner Kindheit und Jugend erzählen, von seinen Abenteuern in den Bergen, in den Urwäldern, in den Höhlen der Hohen Tatra und der bosnischen Karstgebirge. Green spricht, zu Recht, von einer nicht alltäglichen, einer "mystical love of landscape", einer mystischen Einfühlung in die Schöpfungen der Natur (88). Das selbe gilt für Gräser. Beide sind schlechte Schüler, weil ihnen der Wald mehr sagt als das Buch, die lebendige Gegenwart mehr als die Geschichte, die Erde mehr als der „Himmel“. Laban entwarf schon früh ein großes Reigenwerk mit Gesängen, das er 'Die Erde' nannte.

Es gibt freilich auch Trennendes. Laban war der Sohn eines Feldmarschalls und Militärgouverneurs von Bosnien, der für seine Verdienste in den Adelsstand erhoben wurde. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr konnte er sich Rudolf Laban von Varalya nennen. Als Kind schon war ihm ein persönlicher Diener zugeordnet. Aristokratische Verhältnisse, während Gräsers Eltern ihren Töchtern keine höhere Schulbildung bieten konnten; dazu reichte das Geld nicht.

Das unterscheidet ihn (Laban) von Groß und Gräser. Laban machte sich nicht zu einem Mann des Volkes, wie Gräser, oder zu einem revolutionären Verschwörer, wie Groß. Er lehnte es ab, sich politisch zu engagieren, sei es auch nur in dem dichterischen Sinn, wie Gräser politisch war. Er hielt sich (so gut er konnte) an die Boulevards der Zeitgeschichte, verwandte seine vielfältigen Talente und Energien (in der Kunst, in den Wissenschaften, im Geschäftsleben und im Umgang mit Menschen) dazu, sich eine privilegierte Ausnahme-stellung zu verschaffen. Er war ein ernsthafter Mensch, aber verglichen mit den beiden andern [Gräser und Groß] hatte er etwas von einem Dilettanten und Theatermenschen an sich - er gehörte mehr zum alten Wien. (Green 85)

Seitenanfang

Je tiefer einer fällt (oder sich fallen läßt), desto höher kann er steigen. Je höher einer steigt, desto tiefer kann er fallen. Gräser war einer, der sich fallen ließ - in immer tiefere Tiefen, in die Namenlosigkeit des Mythischen und Legendären. Laban erkletterte, nach mühevollen und kargen Anfängen, einen steilen beruflichen Aufstieg, errang sich einen glänzenden Namen, und wurde auf der Höhe seiner Laufbahn von harten Schicksalsschlägen getroffen. Als Don Juan - seine Paraderolle auf den Brettern wie im Leben - stürzte er rückwärts von der Bühne und verletzte sich schwer; seine Tanzkarriere war damit beendet. Als Großspielleiter der Olympischen Spiele, Herrscher über 10.000 Laientänzer, wurde er von Goebbels gestürzt und mußte sich ins Ausland flüchten; als alter Mann, zwei Jahre vor seinem Tod, mußte er erleben, daß sein kaum gekannter Sohn aus der Verbindung mit Suzanne Perrottet sich das Leben nahm.

Rudolf von Laban und Varalya studierte Architektur und Malerei in Wien, kam 1904 nach München und könnte Gräser schon damals kennen gelernt haben. Mit Sicherheit sind sie sich, nachdem Laban aus Frankreich zurückgekehrt war, zwischen 1907 und 1911 in München begegnet. Als Maler, als Tänzer, als Landsleute, als Angehörige der Bohème konnten sie sich in dem kleinen Schwabing gar nicht verfehlen. Zumal Gräser immer auf Menschen zuging, gern Unbekannte auf der Straße ansprach. Laban, einerseits angezogen von den Verlockungen der Großstadt, war im tiefsten Innern seit längerem zugleich abgestoßen von der eisigen Kälte der "Königin der Nacht", vom falschen Schein ihrer glänzenden Maskerade. Das wilde Abenteuerleben in den bosnischen Bergen hatte seine Jugend geprägt; jetzt mußte er als Nachtclubtänzer und Karnevals-Entertainer unter oft kümmerlichen und demütigenden Umständen sich durchschlagen. Das Lockbild Ascona, in Schwabing allenthalben verbreitet und von Gräser in überzeugender Weise vorgestellt, erinnerte ihn an seine wilde Jugend, an die Freiheit der Berge und Wälder Transsylvaniens, Bosniens, Montenegros. Würden sie sich vereinen lassen, seine beiden großen Leidenschaften, - die Liebe zur Kunst, die Liebe zur Natur (und, nicht zu vergessen, die Liebe zur Liebe!) - in dem einen Wort und Zeichen: Monte Verità?

Sein Umzug nach Ascona hatte jedes Argument für sich. Es gab dazu in Europa keine bessere Alternative. Nur der Hügel im urwüchsigen Tessin, der die Wildheit und Kühnheit der Landschaft einbrachte in eine ebenso kühne gesellschaftliche Revolte, konnte jene Synthese von Natur und Kultur ihm bieten, von der er träumte.

Als er 1913 auf den Berg zieht, ist Gusto Gräser nicht da, wohl aber dessen Bruder Karl. In unmittelbarem Anschluß an Labans Tanzplatz, seine Unterkunft, die ihm zur Verfügung stehenden Lufthütten, liegt das Gräsersche Anwesen in einer Mulde zu Füßen der Hügelkuppe. Wer oben tanzt, sieht erst die Gräser-Häuser in ihrem weitläufigen Garten und dann erst den See. Wer Bedürfnislosigkeit, Selbstarbeit und Selbstversorgung anstrebt, der hat ein  hartes Beispiel vor Augen. Man hilft sich aus, der Gräserfreund Hans Brandenburg, Mitarbeiter von Laban, ist ein Bindeglied. Er besorgt sich seine Bettwäsche aus der Werkstatt von Karl Gräser: Leinenbezüge, deren Knöpfe aus Pfirsichkernen bestehen.

Im September 1916 kommt auch Gusto aus Siebenbürgen, Labans zweiter Heimat, nach Ascona zurück. Gefängnisse und Irrenanstalten hatten den Kriegsdienst-verweigerer nicht beugen und nicht zerbrechen können. Auch Laban hatte es vorgezogen, nicht nach Österreich zurückzukehren, es gelüstete ihn nicht nach dem Soldatenrock, dem "Ehrenrock" seines Vaters. Beide wenden dem Krieg und seinen Betreibern den Rücken zu; man ist sich in mehr als einer Hinsicht einig. (Auch Laban lebt in dieser Zeit als Vegetarier; er läßt sich einen "Perserbart" wachsen.) Daß es zu einem näheren Anschluß, gar zu einer Freundschaft zwischen den beiden gekommen wäre, darüber ist nichts bekannt. Ihre Lebenssphären waren zu verschieden. Oben auf dem Hügel, in einer renommierten Naturheilanstalt, residierte der Aristokrat, der Künstler, umgeben von einem Schwarm von Frauen, ungesichert gewiß, aber doch eingewoben in ein psychosoziales Netz, das jeden Artisten auch am Rande der Gesellschaft noch über dem Abgrund hält. Gräser unten, der "wilde Mann" - das war die Anderwelt, so nah und fern wie die Natur selber: Abenteuerland, Urwald, Wildland - kein Raum zu leben für den Bürger. Ein nächtiger Brunnen, aus dem die Phantasie ihre Bilder schöpft. Die dunkle Gegenwelt zum hellen Raum der etablierten Kultur. Eine Traumgestalt wie Rübezahl und Robinson.

Es ist dieses Traumbild, das hinter den Tänzen der Wigman steht. Sie gleicht ihm eher, diesem Waldgeist, Berggeist, in ihrem herben Ernst, ihrer Strenge, ihrer faustischen Unbedingtheit. Die Wigman stellt die Verbindung her zwischen Oben und Unten auf dem Berg, sie geht im Hause Gräser aus und ein; sie ist zugleich die Meisterschülerin von Laban, den sie langsam überwächst. Durch sie mag manches von unten nach oben gedrungen sein und umgekehrt, nicht nur Gesprächsthemen wie Nietzsche, Goethe, Whitman, Laotse. Aber doch vor allem Laotse und seine tiefsinnig-warme Weisheit:  mütterliches Gegenbild zum kalten Glanz der "Königin der Nacht".

Gräser war damals mit seiner Nachdichtung des Tao Te King beschäftigt. Bereits in Stuttgart 1913/15 hatte er Gedichte daraus vorgetragen. Er wird auch in Ascona nicht stumm geblieben sein. Jedenfalls hören wir, daß Hans Arp, der Bildhauer und Dichter, der auf dem Berg sich angesiedelt hat, Laotse und Böhme liest. Auch mit Theosophie und Zen-Buddhismus ist er vertraut. Mit seiner Gefährtin Sophie Täuber, einer Schülerin von Laban, hat er einen Garten angelegt, baut Gemüse an. "Sophie und er waren vorübergehend Vegetarier und sympathisieren mit der utopischen Gemeinde des Monte Verità", weiß der Sohn des Malers Segal zu berichten. (Arp-Katalog 286)

Wie sollten da nicht geistige Ströme geflossen sein, Gesprächsströme, zwischen dem Nietzsche-Laotse-Thoreau-Verehrer Gräser und den Dada-Künstlern auf dem Berg? Für die Dadaisten war Ascona ein Ort der Besinnung, der konstruktiven Arbeit nach den eher zerstörerischen Exzessen im Cabaret Voltaire.

"Im selben Jahr 1917 wandte ich mich vom Problem der Symmetrie bei Holzschnitten und Stickereien ab", schreibt Arp. "In Ascona malte ich mit chinesischer Tusche zerbrochene Zweige, Wurzeln, Gräser und Steine, die der See ans Ufer geworfen hatte. Schließlich vereinfachte ich diese Formen und vereinte ihr Wesentliches zu fließenden Ovalen ... Es war der Anfang einer langen Reihe ... "   (Jane Hancock: Arp-Katalog 73)

Seitenanfang

In Ascona fand Arp zu einem neuen, seinem eigenen Stil. Wurzeln und Steine, Gräser und Laotse. "dada ist für die natur und gegen die kunst", schrieb Arp und sprach damit zugleich für Laban und Gräser, für den Monte Verità überhaupt (ebd.). Arp und andere gaben dada eine Deutung, die denkbar weit entfernt liegt von dem, was gemeinhin unter dada verstanden wird. Es ist die Naturseite, die asconesische Seite von Dada - und auch aus ihr wuchs Kunst, große Kunst. Mit seinen fließenden organischen Formen "ehrte Arp die Welt der Natur, die er als zuinnerst gesund und ethisch ansah, im Gegensatz zum zerstörerischen, bösen Verhalten des Menschen".  (Jane Hancock in Kat. 74)

Mit seinen kultischen Tanzspielen auf Monte Verità ehrte auch Laban die Welt der Natur: Erde und Sonne, Feuer und Wind. In seiner nachfolgenden Karriere, die ihn an die Spitze der Deutschen Tanzbühne trug und zum führenden Tanzgestalter in Deutschland machte, hat Laban versucht, einen Hauch der von Kunst und Natur gleichermaßen genährten Bergluft in die Städte zu tragen.

Als er in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Berlin auf der Höhe seines Ruhms und seines Wirkens stand, könnte ihm gelegentlich der Mann begegnet sein, der wie ein basso continuo im Hintergrund seine hellere Melodie begleitet und kontrastiert hat, der (einstige) Tänzer im nächtlichen Wald dem Tänzer auf strahlender Bühne.

Sollen wir sagen, Gräser saß im dunklen Orchestergraben? Sollen wir sagen, er saß als raunender Souffleur im Kasten, unbemerkt und ungeachtet? Soviel dürfte richtig sein an diesen Bildern, daß der halbe Landsmann aus Siebenbürgen ein stiller Mitwirkender war in der Schau dieses Lebens. Gemeinsame Herkunft, gemeinsame Neigungen und Abneigungen hatten beide zu nah verwandtem Denken geführt. Folgen wir noch einmal Green in seinen Vergleichen:

In Labans Ethik für eine moderne, nach-christliche Kultur finden wir die selben (asconesischen) Akzente wie in der von Gräser. Ihre Vorstellungen von Religion waren die selben. Man braucht nur ein paar Seiten aus Labans 'Des Kindes Gymnastik und Tanz' von 1926 zu zitieren. Er sagt da: "Der Wille und Wunsch, unsere Instinkte und Kräfte zu entwickeln, gehört zu unserem religiösen Bemühen." Für uns, die Nachkriegsgeneration, sind unsere natürlichen Triebe zugleich unsre Tugenden. (Jedoch nicht alle Triebe; wie Gräser ist auch Laban unverdächtig irgendeiner Sympathie für die Großsche "polymorphe Perversität".) Heute, sagt er, verstehen wir unter einem guten Menschen einen solchen, der für die Kräfte seines Körpers den natürlichen Ausdruck findet. Und deshalb vollenden sich heute Religion und Kunst im Tanz. (Gräser war natürlich auch ein Tänzer.) Aber zu viele Menschen beginnen immer noch das Leben nicht als Kinder sondern als Greise, mit stockendem Blut und kranken Nerven. All das sind zentrale Positionen der Ethik von Ascona.

(Martin Green: Mountain of Truth, S. 83f.)

Seitenanfang

Zurück