Er war begabt und kreativ, als Künstler anerkannt, und er führte in naturnaher Umgebung ein recht unkonventionelles Leben. Dem Maler und Dichter Willo Rall, Jahrgang 1888, war im Rahmen der Vortragsreihe zum Jubiläum „1200 Jahre Laufen“ ein Abend gewidmet.
Immer wieder fiel das Wort „geheimnisvoll“, wenn vom kleinen Weiler Falschengehren die Rede war. Viele der Besucher im gut gefüllten Bonhoeffer-Saal kannten ihn und seine Familie und erinnerten sich an die Siedlung „Runheim“ mitten im Wald. Wie Gertrud Gamm, die mit ihrer Schulklasse von Münster aus aufgebrochen war, um dort eine Märchen- und zugleich märchenhafte Stunde zu erleben. Alles sei irgendwie anders gewesen, erzählt sie, und die Frauen hätten so schöne Kleider getragen. Weil das Anwesen genau an der Markungsgrenze lag, betrachten sowohl die Untergröninger, die Willo Ralls Nachlass verwalten, als auch die Laufener ihn als „ihren“ Künstler.
In seiner ihm eigenen und sehr lebhaften Erzählweise sowie mit eindrucksvollen Bildern beleuchtete Peter Kraft das eigenwillige Leben dieser herausragenden Persönlichkeit. Willo Rall absolvierte eine Lehre als Zeichner und Modelleur in Heilbronn und erhielt ein Stipendium an der Kunstakademie in Stuttgart. Aber er wollte kein Leben mit Lehrbuch und Schablone, sondern nach seiner eigenen Fasson glücklich werden. Bei einem Vegetarier-Treffen am Ebnisee lernte er seine Frau Lilly kennen, ebenfalls eine Künstlerin. Das Paar heiratete in Karlsruhe und lebte zunächst in Birkenfeld bei Pforzheim, ehe sie im Jahr 1919 die Künstlersiedlung Runheim in Falschengehren gründeten.
Willo Rall reiste viel und malte, sie schrieb Gedichte und machte Musik. Vom Krieg weitgehend verschont, war Runheim dennoch kein Paradies auf Erden. Sechs der Rall-Kinder starben, drei davon erlagen einer Typhus-Epidemie. So bildeten neben der künstlerischen Tätigkeit die Töchter Ilge und Iduna den Mittelpunkt ihres Lebens. Im Jahr 1954 musste Willo Rall auch von seiner schwerkranken Frau, seiner treuen Gefährtin, Muse, aber auch Kritikerin, Abschied nehmen. Ilge zog mit ihrem Mann in die Schweiz, während Iduna das Vermächtnis ihrer Eltern noch über Jahrzehnte hinweg hochhielt.
Im zweiten Teil seines Vortrags rückte Peter Kraft das künstlerische Schaffen Ralls in den Vordergrund. Bilder zeigen einen „Frühlingstag auf Runheim“ oder „Lilly mit Laute“ in Öl, den Holzstich „Vollbracht“, einen leidenden Christus-Kopf, „Das Schweißtuch der Veronika“ in Rötel, „Die Nixe im Weiher“ in Tempera oder „Ilge in den Pfingstnelken“ in Pastell. Ein Porträt gibt es von „Heide Sanwald“, heute Heide Stier, die mitten im Publikum saß. Ein Elefäntchen, ein Kamel mit Schabracke, Dromedare an der Pyramide oder ein Milchschaf mit Lämmern – die Liebe auch zu tierischen Lebewesen spricht aus den vielen Bildern.
Als Kind oft nach Falschengehren geradelt
„Realismus von Poesie erfüllt“ überschrieb Peter Kraft Ralls Werke. Die verschiedenen und meisterhaft beherrschten Ausdrucksmittel sowie die überzeugende Menschlichkeit, die aus den Bildern spreche, das alles berühre ihn zutiefst. Er sei als Kind oft mit dem Fahrrad nach Falschengehren geradelt, erzählte er. Und ganz besonders beeindruckt habe ihn das vierteilige Altarbild in Mischtechnik, das auf der Staffelei hinter der offenen Tür zu sehen gewesen sei. Im Januar 1960 erlitt Willo Rall einen Herzinfarkt, von dem er sich nicht mehr erholte. Am 20. Dezember starb er im Gaildorfer Krankenhaus.
„Es muß ihm endlich geholfen werden. Ist Ihnen bekannt, daß er, Gräser, z. Z. als wir die Freude hatten, Sie in Mannheim zu treffen, ins Mannheimer Gefängnis kam als 'Bettler'! Und von Mannheim aus Baden ausgewiesen wurde? Weil sein unmittelbares Dasein, aus dem auch das Selbstverteilen seiner Schriften sprießt, den Leuten etwas gar zu Spanisches ist. Er konnte sogar nicht mal seinen Vortrag halten und ich mußte für ihn einspringen. … Jetzt soll er wieder auf acht Tage eingesperrt sein, in Stuttgart. Ob wohl die deutschen Zuchthäuser von innen heraus veredelt werden sollen? Man könnte an so was denken, wenn man die Ausstrahlung von Reinheit um Gräser mitfühlt. – Lieber Verehrter! Sie sehen, wie not Hülfe tut.“
Der sich hier so dringlich für seinen Freund einsetzt, ist der Kunstmaler Willo Rall (1888-1960). Vor dem Ersten Weltkrieg war Rall der engste Freund, Mitarbeiter und Mitkämpfer Gusto Gräsers. Sie müssen sich spätestens 1907 in Esslingen kennengelernt haben. In diesem Jahr traten die beiden gemeinsam mit Gedichten und Tänzen im Stuttgarter Residenztheater auf. Damals gab es in Esslingen-Stuttgart einen Kreis von Sympathisanten um Gräser, zu dem auch ein Jugendfreund von Rall, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, gehörte. Sie waren Nachbarskinder in Brackenheim gewesen. Rall schloss sich Gräser in Tracht und Lebensweise an; 1909 wandern sie zusammen durch Süd-deutschland. Das 'Atelier Schwoba-Kunst' von Ralls Lebensgefährtin Lilly wird Gustos Stützpunkt in Stuttgart, später dann in Birkenfeld bei Pforzheim. 1911/12 brachten Gräser und Rall zusammen mehrere Schriften heraus: Heimatkämpfer, Ein Freund ist da und Heimat. Rall hat auch Sprüche seines Freundes in eigener Schrift und Illustration vertrieben. Ursprünglich sollte er an der Kutschfahrt Gräsers durch Deutschland teilnehmen, was dann durch die Schwangerschaft seiner Freundin verhindert wurde. Doch trat Rall immer wieder mit Zeitungs-artikeln und auch als Redner für Gräser ein. In den Zwanzigerjahren trennten sich ihre Wege, möglicherweise aus politischen Gründen.
Über seine Kunstausstellung in Leipzig vom Oktober 1912 schreibt Rall:
Ich hatte auf die ersten beiden Ausweisungen [Gräsers aus Sachsen] hin eine Kunstausstellung "zugunsten Gusto Gräsers" in Leipzig veranstaltet und eine Liste "An den deutschen Geist!" verfaßt und zum Zwecke der Fürsprache führender deutscher Geister für den Landesverwiesenen herumgeschickt. ... Sie ist mit folgenden wertvollen ... Urzuschriften in meiner Hand:
Diese Zeugnisse wurden dann aus Anlass von Gräsers neuerlicher Ausweisung 1915 aus Stuttgart von dem befreundeten Rechtsanwalt Alfred Daniel auszugsweise abgedruckt in seiner Verteidigungsschrift Der Fall Gräser.
Im März 1913 verteidigte Rall seinen Freund in zwei Artikeln in den Badischen Neuesten Nachrichten gegen Angriffe in der Presse. Darin heißt es:
Eine fruchtbare Entwickelung des Lebens möchte er fördern und herbeiführen. Und er tut’s mit ganzer Kraft mit einem – reinen ganzen Leben als Beispiel. Er schreibt eben nicht nur oder schreibt gar vor – er ist selbst Verwirklichung, Erfüllung seiner Erkenntnisse und seines Verkündens – ist sein lebendig gewordenes Wort.
Rall und Gräser arbeiteten 1914 an der Herausgabe eines Jahrleiter genannten Kalenders, der Zeichnungen und Gedichte von Gräser enthalten sollte. Im Jahr zuvor war Gräser mit seiner ganzen Familie bei ihm in Birkenfeld untergekommen, bis er Ende April nach Stuttgart weiterzog.
Ein gemeinsamer Freund war, neben Conrad, auch der Maler Hans Thoma. Rall soll ihn mit Gräser bekannt gemacht haben. Außerdem gehörten der Rechtsanwalt Alfred Daniel und der Dichter Christian Wagner zu diesem Kreis. Der Kriegsausbruch von 1914 führte jedoch zu einem tiefgehenden Riss. Während Rall und Bühler als Soldaten in den Krieg zogen, verweigerten sich Gräser und Daniel dem großen Schlachten.
Nach dem Krieg gründete Rall mit anderen Gräserfreunden - den Malern Hermann Bühler und Hermann Schöllhorn, dem Kunstpädagogen Albrecht Leo Merz und anderen - die Siedlungsgenossenschaft 'Hellauf'. Es entstanden die Siedlungen Runheim im Schwäbischen Wald, Schurrenhof bei Göppingen-Hohenstaufen, Vogelhof auf der Schwäbischen Alb. Ausserdem in Stuttgart die freie Kunstschule Merz, die bis heute als Hochschule für Gestaltung Bestand hat. Gräser hat seinen Freund, von der Schweiz zurückkommend, an Weihnachten 1924 in seinem Waldhaus besucht und sich in dessen Gästebuch eingetragen.
Als der Siebenbürger von Walter Hammer zusammen mit Muck-Lamberty scharf angegriffen wurde, schrieb Rall im ‚Zwiespruch’ vom 11. November 1921 eine ausführliche Entgegnung, in der er über den „diogenetischen Sucher und Läufer nach Echtheit, Reinheit, Einheit“ u. a. sagt:
Gräser … ist im ganzen eine fabelhaft starke, Reinheit ausstrahlende, einheitlich entschiedene und unbedingte Entscheidung fordernde Erscheinung, die ihresgleichen sucht. Er ist der einzige Verwirklicher und Täter von Nietzsches und Walt Whitmans Dichten und Wollen, der mir bekannt. Einer, der nie seine Ideale begraben hat nach ein paar Jahren „jung“ sein, der nie in Philistertum und Bequemlichkeit zurücksank!
Bei dem von Gregor Gog einberufenen Kongress der Vagabunden auf dem Stuttgarter Killesberg tritt Gusto Gräser als Redner auf. Die Wanderzüge der Gräserfreunde, die sich “Christrevolutionäre” oder “Vagabunden” nannten, ihre Treffeh und ihre Richtungskämpfe, gingen ein in Hermann Hesses Erzählung 'Die Morgenlandfahrt'. Hesse sieht in ihnen eine Fortsetzung des Bundes der Zukünftigen vom Monte Verità. “In der Nähe von Urach” schlagen die Morgenlandfahrer ihr Lager auf: “Wunderbar festliche Tage waren es jedesmal, wenn wir auf unserem Zuge mit anderen Teilen des Bundesheeres zusammentrafen, wir bildeten dann zuweilen ein Heerlager von Hunderten”. Sie sind “in Schwaben unterwegs”, kommen durch Spaichingen und nach Bopfingen. In den Augen von Hesse, der an seine gemeinsame Zeit mit Gräser anknüpfen möchte, “strömte dieser Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts” (GW VIII, 329).
Der Dichter überhöht und idealisiert in seiner Deutung die Geschehnisse in Schwaben um 1920, er macht ein Märchen daraus, eine verrätselte Legende, die die Wirklichkeit von damals verzaubert. Der Held seiner Erzählung ist der Diener Leo, der “nichts anderes im Sinn hatte als die Gewinnung eines hohen Schatzes, den er 'Tao' nannte” (ebd., 327). Gemeint ist sein Freund, der Tao-Dichter Gusto Gräser.
Es gab eine Zeit, in der sich der Schurrenhof selbst versorgte, von und mit Wasser, Licht, Luft, Erde und Früchten lebte — und die Außenwelt mit einer Hecke schützen musste.
GMÜND-RECHBERG (bt). Es war in Frankreich, im Stellungskrieg, jenem entsetzlichen Schlachten, das dem Wort Krieg eine neue Bedeutung gab: Damals trafen sich Hermann Bühler und Willo Rall, beide gleichermaßen Soldaten und Maler, die Kriegsszenen verewigten; das half ihnen, sagten sie, bei Verstand zu bleiben. Das und ihre Träume vom „Danach“. Wenn sie das alles überleben sollten, würden sie eine Künstlerkolonie aufbauen, so nahmen sie sich vor. Ein Refugium, die Möglichkeit, so zu leben, wie es ihnen gefiel, in gottgegebener Natürlichkeit nämlich. Als Rall dann tatsächlich 1919 in Falschengehren die Künstlerkolonie „Runheim“ gründete, schloss sich ihm Hermann Bühler an. Aber das Runheim-Experiment scheiterte nach einigen Jahren. Ralls blieben alleine zurück.
Die Bühlers zogen weiter, immer auf der Suche nach einem schwäbischen Worpswede – jener Kolonie deutscher Impressionisten und Expressionisten, die es allesamt nicht mehr aushielten in der Stadt und die romantische Vorstellungen von bäuerlicher Idylle und einfachem, naturnahem Leben pflegten. Künstler und Philosophen wie Gusto Gräser und Ernst Fuhrmann wiesen ihnen den Weg.
erzählen. An seinem ersten Lehrtag in einem Gartenbaubetrieb hat man ihm Jahre später zum Vesper ein Krügle Most und einen Teller Hausmacherwurst vorgesetzt – einem, der noch nie Alkohol getrunken, noch nie Fleisch gegessen hatte. Ihm war dann so schlecht und so schwindelig, dass er rücklings ins gläserne Frühbeet gefallen ist. Das musste er lange hören, sehr lange. Es gibt Rechberger, die ihr Lebtag nicht vergessen haben, dass die drüben auf dem Schurrenhof manchmal nackig die Felder bestellt haben – nichts sollte zwischen sie und die viel gepriesene Luft kommen, den Wind und die Sonne. Die Magd eines Nachbarhofes, die das bunte Völkchen irgendwie mochte, machte es sich zur Angewohnheit, laut zu schellen, wenn der Dorfpolizist wieder Richtung Schurrenhof zog — so erzählt man sich zumindest. Dennoch hat er sie immer wieder nackt erwischt und dann in eine kleine Zelle im heutigen Rechberger Bezirksamt gesperrt. Als das allen Beteiligten zu dumm wurde, erhielten Solleder, Bühler und ihre wechselnden Mitbewohner die Auflage, eine Blicke abwehrende Hecke rund ums Gelände zu pflanzen. Und Gucklöcher in diese Hecke zu bohren, wurde alsbald beliebte Freizeitbeschäftigung der Rechberger Lausbuben. Das alles war in jener Zeit ein ziemlicher Skandal, wenn auch stets anerkannt wurde, dass einige rechtschaffene, „studierte“ Leute da draußen zu finden waren. Und dass die Schurrenhof-Ware erstklassig war, wurde nie bestritten. Mehr und mehr wurde die Landwirtschaft zugunsten der Gärtnerei vernachlässigt; auf den Wochenmärkten in Göppingen, Geislingen, Heidenheim und Gmünd waren sie bald vertrauter Anblick. Und niemand, so hieß es, habe so gute Tomatensetzlinge wie die vom Schurrenhof. „Du siehst aus wie ein Schurrenhöfler“ Vor und während des Krieges wurden viele der alten Ideale aufgegeben. Karl Solleder war sehr angetan von den Nazis, was ihm, so erinnert sich der Enkel, nach dem Krieg eine kurze Haftstrafe bei den Amerikanern einbrachte. Vor allem aber hat es das gute Miteinander auf dem Schurrenhof vollends zunichte gemacht, wurzelte doch die ursprüngliche Bewegung in einer radikalen Ablehnung von Krieg und Gewalt. Wieder zogen die Bühlers weiter, wurden schließlich, ebenso wie die Familie Solleder richtiggehend bürgerlich. Die Schurrenhof-Gärtnerei war ein großer Erfolg und nach und nach entstanden das große Ferienzentrum und die Isländerzucht, was maßgeblich der dritten Generation zu verdanken ist. Hermann Bühler verdiente später sein Brot als Lehrer in Gruibingen. Sohn Frowin, der an der Göppinger Berufsschule Gartenbau unterrichtete, hat zeitlebens alles gehasst, was mit „Anthroposophen und anderen Weltverbesserern zu tun“ hatte. Doch auch ihn hat die Kindheit fürs Leben geprägt. Der Schurrenhof blieb lange unvergessen. Der Gmünder Reinhold Krämer, dessen Vater einst aus echtem Interesse während eines Urlaubs auf dem Schurrenhof gearbeitet hatte — im „Geschäft durfte das niemand wissen“ — erzählt, dass noch in den späten 60ern, als junge Männer um jeden Millimeter Haarlänge kämpften, ein „Du siehst aus wie ein Schurrenhöfler“ auf dem Rechberg durchaus drin war. Vieles ist in Vergessenheit geraten, die meisten Zeugnisse der 20er und 30er Jahre sind beim großen Schurrenhof-Brand 1960 in Rauch aufgegangen. Was bleibt, ist die Erinnerung an Familien, die ihre Träume wahr gemacht haben.
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