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Willo Rall
Maler, Dichter, Siedler 

Inhalt
 
1. Kurzbiografie

2. Freunde in Schwaben um 1919
3. Gusto Gräsers Freunde in Schwaben
4. Lebensreform - Medien


1. Kurzbiografie

Auf den Spuren des legendären Malers, Dichters und Siedlers Willo Rall

Willo Rall – der Mann mit wallendem Kopfhaar, Rauschebart und Sandalen an den Füßen ist vielen seiner Mitmenschen in Erinnerung geblieben.


BRIGITTE HOFMANN | 21.05.2016

Er war begabt und kreativ, als Künstler anerkannt, und er führte in naturnaher Umgebung ein recht unkonventionelles Leben. Dem Maler und Dichter Willo Rall, Jahrgang 1888, war im Rahmen der Vortragsreihe zum Jubiläum „1200 Jahre Laufen“ ein Abend gewidmet.

Immer wieder fiel das Wort „geheimnisvoll“, wenn vom kleinen Weiler Falschengehren die Rede war. Viele der Besucher im gut gefüllten Bonhoeffer-Saal kannten ihn und seine Familie und erinnerten sich an die Siedlung „Runheim“ mitten im Wald. Wie Gertrud Gamm, die mit ihrer Schulklasse von Münster aus aufgebrochen war, um dort eine Märchen- und zugleich märchenhafte Stunde zu erleben. Alles sei irgendwie anders gewesen, erzählt sie, und die Frauen hätten so schöne Kleider getragen. Weil das Anwesen genau an der Markungsgrenze lag, betrachten sowohl die Untergröninger, die Willo Ralls Nachlass verwalten, als auch die Laufener ihn als „ihren“ Künstler.

In  seiner ihm eigenen und sehr lebhaften Erzählweise sowie mit eindrucksvollen Bildern beleuchtete Peter Kraft das eigenwillige Leben dieser herausragenden Persönlichkeit. Willo Rall absolvierte eine Lehre als Zeichner und Modelleur in Heilbronn und erhielt ein Stipendium an der Kunstakademie in Stuttgart. Aber er wollte kein Leben mit Lehrbuch und Schablone, sondern nach seiner eigenen Fasson glücklich werden. Bei einem Vegetarier-Treffen am Ebnisee lernte er seine Frau Lilly kennen, ebenfalls eine Künstlerin. Das Paar heiratete in Karlsruhe und lebte zunächst in Birkenfeld bei Pforzheim, ehe sie im Jahr 1919 die Künstlersiedlung Runheim in Falschengehren gründeten.

Willo Rall reiste viel und malte, sie schrieb Gedichte und machte Musik. Vom Krieg weitgehend verschont, war Runheim dennoch kein Paradies auf Erden. Sechs der Rall-Kinder starben, drei davon erlagen  einer Typhus-Epidemie. So bildeten neben der künstlerischen Tätigkeit die Töchter Ilge und Iduna den Mittelpunkt ihres Lebens. Im Jahr 1954 musste Willo Rall auch von seiner schwerkranken Frau, seiner treuen Gefährtin, Muse, aber auch Kritikerin, Abschied nehmen. Ilge zog mit ihrem Mann in die Schweiz, während Iduna das Vermächtnis ihrer Eltern noch über Jahrzehnte hinweg hochhielt.

Im zweiten Teil seines Vortrags rückte Peter Kraft das künstlerische Schaffen Ralls in den Vordergrund. Bilder zeigen einen „Frühlingstag auf Runheim“ oder „Lilly mit Laute“ in Öl, den Holzstich „Vollbracht“, einen leidenden Christus-Kopf, „Das Schweißtuch der Veronika“ in Rötel, „Die Nixe im Weiher“ in Tempera oder „Ilge in den Pfingstnelken“ in Pastell. Ein Porträt gibt es von „Heide Sanwald“, heute Heide Stier, die mitten im Publikum saß. Ein Elefäntchen, ein Kamel mit Schabracke, Dromedare an der Pyramide  oder ein Milchschaf mit Lämmern – die Liebe auch zu tierischen Lebewesen spricht aus den vielen Bildern.

Als Kind oft nach Falschengehren geradelt

„Realismus von Poesie erfüllt“ überschrieb Peter Kraft Ralls Werke. Die verschiedenen und meisterhaft beherrschten Ausdrucksmittel sowie die überzeugende Menschlichkeit, die aus den Bildern spreche, das alles berühre ihn zutiefst. Er sei als Kind oft mit dem Fahrrad nach Falschengehren geradelt, erzählte er. Und ganz besonders beeindruckt habe ihn das vierteilige Altarbild in Mischtechnik, das auf der Staffelei hinter der offenen Tür zu sehen gewesen sei. Im Januar 1960 erlitt Willo Rall einen Herzinfarkt, von dem er sich nicht mehr erholte. Am 20. Dezember starb er im Gaildorfer Krankenhaus.

Quelle: www.swp.de/gaildorf/lokales/gaildorf/auf-den-spuren-des-legendaeren-malers_-dichters-und-siedlers-willo-rall-13005987.html


Am 18. Januar 1914 wendet sich ein Bittsteller mit folgenden Worten an den Schriftsteller Michael Georg Conrad, den Herausgeber der Zeitschrift Die Gesellschaft in München:

Es muß ihm endlich geholfen werden. Ist Ihnen bekannt, daß er, Gräser, z. Z. als wir die Freude hatten, Sie in Mannheim zu treffen, ins Mannheimer Gefängnis kam als 'Bettler'! Und von Mannheim aus Baden ausgewiesen wurde? Weil sein unmittelbares Dasein, aus dem auch das Selbstverteilen seiner Schriften sprießt, den Leuten etwas gar zu Spanisches ist. Er konnte sogar nicht mal seinen Vortrag halten und ich mußte für ihn einspringen. … Jetzt soll er wieder auf acht Tage eingesperrt sein, in Stuttgart. Ob wohl die deutschen Zuchthäuser von innen heraus veredelt werden sollen? Man könnte an so was denken, wenn man die Ausstrahlung von Reinheit um Gräser mitfühlt. – Lieber Verehrter! Sie sehen, wie not Hülfe tut.“

Der sich hier so dringlich für seinen Freund einsetzt, ist der Kunstmaler Willo Rall (1888-1960). Vor dem Ersten Weltkrieg war Rall der engste Freund, Mitarbeiter und Mitkämpfer Gusto Gräsers. Sie müssen sich spätestens 1907 in Esslingen kennengelernt haben. In diesem Jahr traten die beiden gemeinsam mit Gedichten und Tänzen im Stuttgarter Residenztheater auf. Damals gab es in Esslingen-Stuttgart einen Kreis von Sympathisanten um Gräser, zu dem auch ein Jugendfreund von Rall, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, gehörte. Sie waren Nachbarskinder in Brackenheim gewesen. Rall schloss sich Gräser in Tracht und Lebensweise an; 1909 wandern sie zusammen durch Süd-deutschland. Das 'Atelier Schwoba-Kunst' von Ralls Lebensgefährtin Lilly wird Gustos Stützpunkt in Stuttgart, später dann in Birkenfeld bei Pforzheim. 1911/12 brachten Gräser und Rall zusammen mehrere Schriften heraus: Heimatkämpfer, Ein Freund ist da und Heimat. Rall hat auch Sprüche seines Freundes in eigener Schrift und Illustration vertrieben. Ursprünglich sollte er an der Kutschfahrt Gräsers durch Deutschland teilnehmen, was dann durch die Schwangerschaft seiner Freundin verhindert wurde. Doch trat Rall immer wieder mit Zeitungs-artikeln und auch als Redner für Gräser ein. In den Zwanzigerjahren trennten sich ihre Wege, möglicherweise aus politischen Gründen.

Über seine Kunstausstellung in Leipzig vom Oktober 1912 schreibt Rall:

Ich hatte auf die ersten beiden Ausweisungen [Gräsers aus Sachsen] hin eine Kunstausstellung "zugunsten Gusto Gräsers" in Leipzig veranstaltet und eine Liste "An den deutschen Geist!" verfaßt und zum Zwecke der Fürsprache führender deutscher Geister für den Landesverwiesenen herumgeschickt. ... Sie ist mit folgenden wertvollen ... Urzuschriften in meiner Hand:

Diese Zeugnisse wurden dann aus Anlass von Gräsers neuerlicher Ausweisung 1915 aus Stuttgart von dem befreundeten Rechtsanwalt Alfred Daniel auszugsweise abgedruckt in seiner Verteidigungsschrift Der Fall Gräser.

Im März 1913 verteidigte Rall seinen Freund in zwei Artikeln in den Badischen Neuesten Nachrichten gegen Angriffe in der Presse. Darin heißt es:

Eine fruchtbare Entwickelung des Lebens möchte er fördern und herbeiführen. Und er tut’s mit ganzer Kraft mit einem – reinen ganzen Leben als Beispiel. Er schreibt eben nicht nur oder schreibt gar vor – er ist selbst Verwirklichung, Erfüllung seiner Erkenntnisse und seines Verkündens – ist sein lebendig gewordenes Wort.

Rall und Gräser arbeiteten 1914 an der Herausgabe eines Jahrleiter genannten Kalenders, der Zeichnungen und Gedichte von Gräser enthalten sollte. Im Jahr zuvor war Gräser mit seiner ganzen Familie bei ihm in Birkenfeld untergekommen, bis er Ende April nach Stuttgart weiterzog.

Ein gemeinsamer Freund war, neben Conrad, auch der Maler Hans Thoma. Rall soll ihn mit Gräser bekannt gemacht haben. Außerdem gehörten der Rechtsanwalt Alfred Daniel und der Dichter Christian Wagner zu diesem Kreis. Der Kriegsausbruch von 1914 führte jedoch zu einem tiefgehenden Riss. Während Rall und Bühler als Soldaten in den Krieg zogen, verweigerten sich Gräser und Daniel dem großen Schlachten.

Nach dem Krieg gründete Rall mit anderen Gräserfreunden - den Malern Hermann Bühler und Hermann Schöllhorn, dem Kunstpädagogen Albrecht Leo Merz und anderen - die Siedlungsgenossenschaft 'Hellauf'. Es entstanden die Siedlungen Runheim im Schwäbischen Wald, Schurrenhof bei Göppingen-Hohenstaufen, Vogelhof auf der Schwäbischen Alb. Ausserdem in Stuttgart die freie Kunstschule Merz, die bis heute als Hochschule für Gestaltung Bestand hat. Gräser hat seinen Freund, von der Schweiz zurückkommend, an Weihnachten 1924 in seinem Waldhaus besucht und sich in dessen Gästebuch eingetragen.

Als der Siebenbürger von Walter Hammer zusammen mit Muck-Lamberty scharf angegriffen wurde, schrieb Rall im ‚Zwiespruch’ vom 11. November 1921 eine ausführliche Entgegnung, in der er über den „diogenetischen Sucher und Läufer nach Echtheit, Reinheit, Einheit“ u. a. sagt:

Gräser … ist im ganzen eine fabelhaft starke, Reinheit ausstrahlende, einheitlich entschiedene und unbedingte Entscheidung fordernde Erscheinung, die ihresgleichen sucht. Er ist der einzige Verwirklicher und Täter von Nietzsches und Walt Whitmans Dichten und Wollen, der mir bekannt. Einer, der nie seine Ideale begraben hat nach ein paar Jahren „jung“ sein, der nie in Philistertum und Bequemlichkeit zurücksank!


„Es ist vollbracht“. Holzstich von Willo Rall
 
Obwohl sich die Wege von Rall und Gräser in politischer und weltanschaulicher Hinsicht trennten, blieb doch ihre menschliche Verbundenheit erhalten. Rall soll Gräser nach dem Zweiten Weltkrieg in München besucht haben.

  

 2. Freunde in Schwaben um 1919/20
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Gusto Gräser. Foto: Adolf Stocksmayr
 
Grafik 2 Grafik 12 Grafik 5 Grafik 6
Alfred Daniel Willo Rall Theodor Plievier, Gregor Gog
gez. v. Vogeler

Grafik 4 Grafik 7 Grafik 13
Albrecht Leo Merz, J.R.Becher, Karl Raichle und Alfred Daniel Künstlerkolonie Freistatt
gez. von Willo Rall in der Uracher Kolonie am Grünen Weg mit Rall, Bühler, Schöllhorn

 
Hellauf“ nannte sich eine Siedlergruppe um Willo Rall, hellauf sollten nach dem Krieg die Flammen der Erneuerung schlagen. Freunde und Gesinnungsverwandte von Gusto Gräser begründen nach 1918 die Landkommunen Freistatt im Schwäbischen Wald, Schurrenhof im Filstal und Vogelhof auf der Schwäbischen Alb. Der ihnen nahestehende Pädagoge Albrecht Leo Merz ruft die Stuttgarter Merzschule ins Leben, aus der später die Hochschule für Gestaltung wird. Bei Urach gründen die Ex-Soldaten Karl Raichle, Georg Gog und Theodor Plievier die anarchistische Landkommune „am grünen Weg“, die mit den Lebensreformern in enger Verbindung steht. Dort sammelt sich auch die Christrevolutionäre Bewegung um Alfred Daniel und Karl Strünckmann. Gusto Gräser besucht die Kolonie und ruft die Genossen zu Aufbruch und Wanderschaft. Die „Barfußprediger“ werden geboren, eine „Aktion Weltwende“ wird ausgerufen. Theodor Plievier wandelt sich unter Gräsers Einfluss zum „Propheten“, er sieht sich jetzt als den „Zauberer in Lumpen, den Vagabunden mit den leuchtenden Prophetenaugen“, der durch seine Reden das „schöpferische Chaos“, den Zusammenbruch der alten Werte und die Erneuerung der Welt im Geiste der Liebe bewirkt. Gregor Gog gründet eine „Bruderschaft der Vagabunden“. Rudolf von Laban und der Maler Max Ackermann arbeiten in Stuttgart an gemeinsamen Projekten. Theodor Plievier erbittet von Käthe Kollwitz ein Plakat, um den Hungernden in Russland zu helfen. So entsteht die berühmte Grafikreihe „Hunger“.
Grafik 9 Grafik 10 Grafik 14
Aus der Grafikmappe ‚Hunger‘ von Käthe Kollwitz, 1924
 
Käthe Kollwitz zeichnete auch die Hände von Gusto Gräser. „Die schönsten Hände, die ich je gesehen habe“, soll sie gesagt haben. Der Maler Max Ackermann stellt gemeinsam mit Ernst Graeser aus und beteiligt sich an der Kunstausstellung der Vagabunden von 1929.
 
Grafik 12 Grafik 14 Grafik 13
Max Ackermann Überbrückte Kontinente Lautenspieler
 

Kunstausstellung mit Gregor Gog, Stuttgart 1929

 

Bei dem von Gregor Gog einberufenen Kongress der Vagabunden auf dem Stuttgarter Killesberg tritt Gusto Gräser als Redner auf. Die Wanderzüge der Gräserfreunde, die sich “Christrevolutionäre” oder “Vagabunden” nannten, ihre Treffeh und ihre Richtungskämpfe, gingen ein in Hermann Hesses Erzählung 'Die Morgenlandfahrt'. Hesse sieht in ihnen eine Fortsetzung des Bundes der Zukünftigen vom Monte Verità. “In der Nähe von Urach” schlagen die Morgenlandfahrer ihr Lager auf: “Wunderbar festliche Tage waren es jedesmal, wenn wir auf unserem Zuge mit anderen Teilen des Bundesheeres zusammentrafen, wir bildeten dann zuweilen ein Heerlager von Hunderten”. Sie sind “in Schwaben unterwegs”, kommen durch Spaichingen und nach Bopfingen. In den Augen von Hesse, der an seine gemeinsame Zeit mit Gräser anknüpfen möchte, “strömte dieser Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts” (GW VIII, 329).

Der Dichter überhöht und idealisiert in seiner Deutung die Geschehnisse in Schwaben um 1920, er macht ein Märchen daraus, eine verrätselte Legende, die die Wirklichkeit von damals verzaubert. Der Held seiner Erzählung ist der Diener Leo, der “nichts anderes im Sinn hatte als die Gewinnung eines hohen Schatzes, den er 'Tao' nannte” (ebd., 327). Gemeint ist sein Freund, der Tao-Dichter Gusto Gräser.

 

 
3. Gusto Gräsers Freunde in Schwaben
Willo Rall und Hermann Bühler
Aus der Rems-Zeitung, Schwäbisch Gmünd, 13. August 2011

Zur Erinnerung an eine Hecke: Die Familien Solleder und Bühler lebten mit Gleichgesinnten nach Möglichkeit das Ideal vom „natürlichen Leben“.
 

  

Es gab eine Zeit, in der sich der Schurrenhof selbst versorgte, von und mit Wasser, Licht, Luft, Erde und Früchten lebteund die Außenwelt mit einer Hecke schützen musste.

GMÜND-RECHBERG (bt). Es war in Frankreich, im Stellungskrieg, jenem entsetzlichen Schlachten, das dem Wort Krieg eine neue Bedeutung gab: Damals trafen sich Hermann Bühler und Willo Rall, beide gleichermaßen Soldaten und Maler, die Kriegsszenen verewigten; das half ihnen, sagten sie, bei Verstand zu bleiben. Das und ihre Träume vom „Danach“. Wenn sie das alles überleben sollten, würden sie eine Künstlerkolonie aufbauen, so nahmen sie sich vor. Ein Refugium, die Möglichkeit, so zu leben, wie es ihnen gefiel, in gottgegebener Natürlichkeit nämlich. Als Rall dann tatsächlich 1919 in Falschengehren die Künstlerkolonie „Runheim“ gründete, schloss sich ihm Hermann Bühler an. Aber das Runheim-Experiment scheiterte nach einigen Jahren. Ralls blieben alleine zurück.

Die Bühlers zogen weiter, immer auf der Suche nach einem schwäbischen Worpswede jener Kolonie deutscher Impressionisten und Expressionisten, die es allesamt nicht mehr aushielten in der Stadt und die romantische Vorstellungen von bäuerlicher Idylle und einfachem, naturnahem Leben pflegten. Künstler und Philosophen wie Gusto Gräser und Ernst Fuhrmann wiesen ihnen den Weg.

 

Regenbogenbrief von Hermann Bühler, 1921

 

Ausstellungsplakat der Maler Willo Rall, Hermann Bühler
und Hermann Schöllhorn, um 1920  

 

Schließlich hörten sie, dass andere ihre Ideale teilten, auf dem Vogelhof bei Hayingen etwa und im Haus am grünen Weg in Urach. Und auf dem Schurrenhof. Hier ließen sich Hermann Bühler und sein „Emmele“ nieder, und von Anfang bis zum Schluss waren sie Teil eines bemerkenswerten Experiments. 1928 hatten Karl Solleder und seine Frau Luise den Schurrenhof gekauft und begannen sofort damit, Gleichgesinnte um sich zu scharen. Ein großes Stück Land wurde parzelliert; jede Familie sollte sich damit selbst ernähren. Daraus wurde nichts: Sie haben das Land gemeinsam bewirtschaftet und eine Gärtnerei angelegt. Autark wollte man sein, unbedingt, also haben sie auch Lein angebaut, dessen Fasern auf eigenen Webstühlen zu groben Stoffen verarbeitet wurden; diese Kutten waren bald ebenso Markenzeichen der „Schurrenhöfler“ wie die selbst gemachten Schuhe. Bühler war der einzige Maler, aber es wurde viel musiziert. Abend für Abend erklang ein halbes Dutzend Streichinstrumente, und natürlich wurde viel gesungen. Der Bruder des Chefs, Prof. Fritz Solleder, hat ein Lied für die frühen „Alternativen“ geschrieben: „Wo leuchtet auf den Bergen /der Sonne goldner Strahl /da schaut von stolzer Höhe/der Schurrenhof ins Tal“, und „Wenn nach des Tages Arbeit /der Mond am Himmel scheint /dann sind in froher Runde /wir allesamt vereint. Den Wandrer, der im Tale /gar still des Weges zieht /ihn grüßt mit hellem Klange /vom Berg herab das Lied.“ In diesen ersten Jahren wurde alles versucht, ein Leben im Einklang mit der Natur zu verwirklichen: Bewegung an der frischen Luft etwa, Freikörperkultur sowie die fleischlose Ernährung. Religion wurde abgetan, und wie ernst Karl Solleder die von einigen Vordenkern geforderte Ablehnung der Ehe nahm, wurde deutlich, als er sich neu verliebte und Luise und die beiden Töchter Elfriede und Dorelies verließ, um mit der jungen Liesel Hacker zu leben und mit ihr Sohn Faust und Tochter Ertraud zu zeugen. Solche Dramen spielten sich immer und überall ab, aber in diesem Fall lebten alle unter dem selben Dach, woran die abgelegte Familie beinahe zugrunde ging. Ertraud starb in jungen Jahren, und irgendwann war das Naturparadies plötzlich keines mehr. Hermann, den sie Fried nannten, und das Emmele waren sich freilich in herzlicher Zuneigung zugetan. Sie war Lehrerin und unterrichtete die auf dem Schurrenhof lebenden Kinder, die man dem Schulsystem nicht anvertrauen mochte. Sohn Frowin konnte später sehr anschaulich davon

Sprengtrichter in Flandern. Holzschnitt von Willo Rall, 1916

erzählen. An seinem ersten Lehrtag in einem Gartenbaubetrieb hat man ihm Jahre später zum Vesper ein Krügle Most und einen Teller Hausmacherwurst vorgesetzteinem, der noch nie Alkohol getrunken, noch nie Fleisch gegessen hatte. Ihm war dann so schlecht und so schwindelig, dass er rücklings ins gläserne Frühbeet gefallen ist. Das musste er lange hören, sehr lange. Es gibt Rechberger, die ihr Lebtag nicht vergessen haben, dass die drüben auf dem Schurrenhof manchmal nackig die Felder bestellt habennichts sollte zwischen sie und die viel gepriesene Luft kommen, den Wind und die Sonne. Die Magd eines Nachbarhofes, die das bunte Völkchen irgendwie mochte, machte es sich zur Angewohnheit, laut zu schellen, wenn der Dorfpolizist wieder Richtung Schurrenhof zogso erzählt man sich zumindest. Dennoch hat er sie immer wieder nackt erwischt und dann in eine kleine Zelle im heutigen Rechberger Bezirksamt gesperrt. Als das allen Beteiligten zu dumm wurde, erhielten Solleder, Bühler und ihre wechselnden Mitbewohner die Auflage, eine Blicke abwehrende Hecke rund ums Gelände zu pflanzen. Und Gucklöcher in diese Hecke zu bohren, wurde alsbald beliebte Freizeitbeschäftigung der Rechberger Lausbuben. Das alles war in jener Zeit ein ziemlicher Skandal, wenn auch stets anerkannt wurde, dass einige rechtschaffene, „studierte“ Leute da draußen zu finden waren. Und dass die Schurrenhof-Ware erstklassig war, wurde nie bestritten. Mehr und mehr wurde die Landwirtschaft zugunsten der Gärtnerei vernachlässigt; auf den Wochenmärkten in Göppingen, Geislingen, Heidenheim und Gmünd waren sie bald vertrauter Anblick. Und niemand, so hieß es, habe so gute Tomatensetzlinge wie die vom Schurrenhof. „Du siehst aus wie ein Schurrenhöfler“ Vor und während des Krieges wurden viele der alten Ideale aufgegeben. Karl Solleder war sehr angetan von den Nazis, was ihm, so erinnert sich der Enkel, nach dem Krieg eine kurze Haftstrafe bei den Amerikanern einbrachte. Vor allem aber hat es das gute Miteinander auf dem Schurrenhof vollends zunichte gemacht, wurzelte doch die ursprüngliche Bewegung in einer radikalen Ablehnung von Krieg und Gewalt. Wieder zogen die Bühlers weiter, wurden schließlich, ebenso wie die Familie Solleder richtiggehend bürgerlich. Die Schurrenhof-Gärtnerei war ein großer Erfolg und nach und nach entstanden das große Ferienzentrum und die Isländerzucht, was maßgeblich der dritten Generation zu verdanken ist. Hermann Bühler verdiente später sein Brot als Lehrer in Gruibingen. Sohn Frowin, der an der Göppinger Berufsschule Gartenbau unterrichtete, hat zeitlebens alles gehasst, was mit „Anthroposophen und anderen Weltverbesserern zu tun“ hatte. Doch auch ihn hat die Kindheit fürs Leben geprägt. Der Schurrenhof blieb lange unvergessen. Der Gmünder Reinhold Krämer, dessen Vater einst aus echtem Interesse während eines Urlaubs auf dem Schurrenhof gearbeitet hatteim „Geschäft durfte das niemand wissen“erzählt, dass noch in den späten 60ern, als junge Männer um jeden Millimeter Haarlänge kämpften, ein „Du siehst aus wie ein Schurrenhöfler“ auf dem Rechberg durchaus drin war. Vieles ist in Vergessenheit geraten, die meisten Zeugnisse der 20er und 30er Jahre sind beim großen Schurrenhof-Brand 1960 in Rauch aufgegangen. Was bleibt, ist die Erinnerung an Familien, die ihre Träume wahr gemacht haben.

 

 
4. Lebensreform - Medien
Radiosendung:
Lebensreform im Schwabenland
15. und 16. März 2008
Gusto Gräser

Willo Rall
Lichte Seelen, sonnenheller Geist!
Lebensreformer, Naturapostel und Landkommunen im deutschen Südwesten
von Christoph Wagner

Schon vor dem 1. Weltkrieg hatte Gusto Gräser ein paar Jahre in der württembergischen Landeshauptstadt gelebt, wo er jeden Sonntag-morgen im Bopserwald seine Waldandachten hielt. Nach der Katastrophe und in der Unsicherheit der Revolutions- und Inflationsjahre erlebte die Lebensreformbewegung in Südwest-deutschland eine Blütezeit. Vor allem Stuttgart wurde zu einem Tummelplatz von Sinnsuchern, Heilspropheten und Geistrevolu-tionären, die von einer relativ breiten alternativen Szene aus Vegetariern, Alkoholverächtern, Esoterikern, Nudisten und Mit-gliedern der Jugendbewegung getragen wurden.
Inspiriert von der Philosophie Gusto Gräsers zogen Gruppen von jungen Leuten aufs Land, wo sie nach dem Motto “Los vom Alten!” in kommuneartigen Siedlungen den Traum von einer Existenz im Einklang mit der Natur zu verwirklichen suchten. Die vegetarische Künstlerkolonie Freistatt bei Sulzbach am Kocher des Malers Willo Rall, die Hellauf-Siedlung auf dem Vogelhof bei Hayingen und das Haus am Grünen Weg in Urach wurden zu solchen Experimen-tierstätten für ein neues Leben. Sie hatten mit vielerlei Entbehrungen zu kämpfen, behaupteten sich tapfer in einer meist verständnislosen Umwelt, konnten aber nicht verhindern, ab 1933 vom National-sozialismus allmählich aufgerieben zu werden, obwohl sie oft selbst Anhänger völkischer Ideologien waren. Zu Wort kommen Fachleute wie Hermann Müller (Gusto Gräser Archiv) sowie Veteranen der Lebensreformbewegung, die als Kinder die Siedlungsversuche ihrer Eltern noch miterlebten.


 
Das Haus von Willo Rall im Schwäbischen Wald
Aus einem Rundfunk-Feature von Christoph Schwab

Die Lebensreform-Szene hatte in Stuttgart ihre eigenen Treffpunkte. Das vegetarische Speisehaus Ceres in der Calwerstrasse und das Charlotten-Café, eine Blaukreuzler-Gaststätte am Charlottenplatz, wurden am meisten frequentiert. Ein anderer beliebter Treff war das ‘Alkoholfreie Volkshaus’ in der Friedrich-strasse 39, das von den Württemberger Guttemplern betrieben wurde, einer Vereinigung von Alkoholgegnern. Naturheilmittel, Vollkornbrot, Fruchtsäfte und Öle zur Körperpflege gab es im Reformhaus zu kaufen. Hier konnte man dem jungen Friedrich Muck-Lamberty hinter dem Ladentisch begegnen, der nach dem 1. Weltkrieg als Anführer der ‘Neuen Schar’ in Thüringen zu einer prominenten Figur der Jugendbewegung werden sollte. Wer Reformkleidung erwerben wollte, ging ins Stuttgarter ‘Atelier Schwoba-Kunst’ von Lilly Rall, wo gleichzeitig Ehemann Willo Rall seine Kunstgemälde zum Kauf anbot.

In dieser Subkultur, die von Normalbürgern bis zu gesellschaftlichen Aussteigern reichte, tauchte 1913 eine Figur auf, die Aufsehen erregte: Gusto Gräser. Gräser hatte 1900 die berühmte Lebensreformkommune auf dem Monte Verità bei Ascona mitbegründet und ließ sich nun mit seiner vielköpfigen Familie in Stuttgart nieder. Der Dichter und Künstler war damals in alternativen Zirkeln eine bekannte Gestalt. Neben Willo Rall und Friedrich Muck-Lamberty war der Schriftsteller Hermann Hesse einer seiner Jünger. Hesse sah in Gräser eine Art Guru, der das lebte, wovon er nur träumte und schrieb. In Esslingen bestand ein Kreis der ‘Freunde Gusto Gräsers’, zu dem am Rande auch der junge Theodor Heuss gehörte.

Gerade aus dem 1. Weltkrieg heimgekehrt, machten 1919 drei junge Künstler mit ihren Familien unter der Führerschaft von Willo Rall mit der Vision ernst: Hermann Bühler, Hermann Schöllhorn und Rall selbst. Sie kauften auf einer Waldlichtung bei Sulzbach im Kochertal, fünf Kilimeter vom nächsten Dorf entfernt, ein Stück Land und gründeten eine Künstlerkolonie. Vorbild war Heinrich Vogelers Barkenhoff-Kommune in Worpswede und sicher auch der Monte Verità. Man hatte hochfliegende Pläne: Weitere Familien sollten hinzukommen. Eine Schule und eine Gärtnerei hoffte man einzurichten. Doch zuallererst musste für das Allernotwendigste gesorgt werden. Wohnhäuser für die Familien galt es zu errichten, während man gleichzeitig für den Lebensunterhalt zu sorgen hatte. Die Familie Schöllhorn sprang unter der Last der Anstrengungen und Entbehrungen schon bald wieder ab. Die anderen hielten länger durch. Iduna Burghardt, Jahrgang 1928, die Tochter von Willo Rall, wohnte noch bis Ende 2007 auf dem Anwesen.

“Da hatte mein Vater eine noch neue Militärbaracke ganz billig noch kaufen können und die stand dann dort unten am Waldrand. Und da haben erstmal alle drei Familien drin gewohnt. Die Schöllhorns gingen dann relativ schnell weg und Bühlers haben ihr eigenes Haus schnell gebaut. Noch vor uns waren die fertig mit ihrem Haus, weil sie ein Blockhaus bauten, das erste Fertighaus, könnte man sagen. Im Sägewerk wurden die Balken zugeschnitten und nummeriert und hier dann zusammengesetzt und aufgestellt.
Meine Eltern haben aber dann noch lange gebaut. 1925 konnte man das Haus hier erst beziehen. Wir sind mit dem Hausbau in die Inflation reingekommen. Dann gabs für ein Bild noch ein Päckchen Nägel oder ein Päckchen Haferflocken. Und dadurch hat sichs verzögert. Die Fachwerkwände haben sie mit Lehm ausgefüllt. Nur haben sie das nicht richtig verstanden, wie der Lehm aufbereitet sein muss - da muss nämlich Stroh rein oder kleine Zweige, aber das war irgendwie zu wenig - und dadurch ist der dann zusammengesackt. Und es war auch ziemlich zugig. Also ich denk‘ oft an meine Mutter, wie das im Winter kalt war, und man hat ja auch keine Zentralheizung gehabt. Die ist geplant gewesen, ist aber irgendwie nicht zustande gekommen. Da hat man halt in der Küche einen Herd gehabt und im Wohnzimmer einen Ofen. An der Wand hat es schon Reif gegeben, und da man ja damals noch kein Bad gehab. und da hat man eben eine Waschschüssel auf dem Nachttisch stehen gehabt und da war dann morgens schon manchmal eine kleine Eisschicht drauf oder es war gerade so, wenn es gerade so angefangen zu frieren hat, waren so kleine Eiskristalle drin. Das habe ich eigentlich gerne gehabt. Das war ganz lustig. Da ist man frisch geworden. Da ist man aufgewacht.”
Sprecherin 1:
Zurück zum einfachen Leben, hieß die Devise der Künstlerkolonie. Eigenver-sorgung war großgeschrieben. Das war schon deshalb notwendig, weil der Verkauf der Ölgemälde und Holzschnitte von Willo Rall nicht genügend einbrachte.
“Wir haben ein Grundstück von 1 1/2 Hektar und haben viel angebaut. Wir hatten große Gärten. Meine Mutter war eine sehr fleißige Gärtnerin, obwohl sie aus Berlin stammte, ganz aus der Großstadt. Aber wir hatten Gemüse selber angebaut und hatten viel Erdbeeranlagen und eine große Himbeeranlage. Die war zu meiner Zeit noch sehr ertragreich. Und da haben wir uns weitgehend selber versorgt. Und ein bisschen haben wir auch Kartoffeln und so etwas angebaut. Wir hattet einen Brunnen vor dem Haus und da hatten wir eine Pumpe in der Küche. Da konnte man pumpen. Und wenn’s sehr heiß war im Sommer, wenn’s ein sehr heißer Sommer war, dann ging der aus und da haben wir uns aus der Quelle dann Wasser geholt. Da hat man drauf zurückgegriffen, wenn der Brunnen nicht ausgereicht hat.
Sprecherin:
Für Künstler wie Willo Rall war es nicht leicht, in der Provinz ein Auskommen zu finden. Oft musste er längere Reisen unternehmen, um mögliche Kunden aufzusuchen, die ihm vielleicht ein Bild abkaufen würden - oder auch nicht! Wenn ihn der Wirt eines Gasthofs, wie etwa im "Hecht" in Aalen, verpflichtete, die Wirtstube samt Nebenräumen mit großformatigen Wandgemälde zu verschönern, war das ein Großauftrag, der leider viel zu selten kam. Da halfen Kritiken von Freunden in der Presse. Theodor Heuss bescheinigte in der Heilbronner Neckarzeitung einer Ausstellung von Willo Rall im Kunsthaus Schaller in Stuttgart “wirkliche Größe”.
“Er hat teilweise in städtischen Einrichtungen, aber auch in Gasthöfen oder so etwas... Da hat er sich dann eben das Nebenzimmer gemietet und hat immer auch Ausstellungen gemacht in den umliegenden Städten. Heilbronn war seine Vaterstadt - da war er oft. In Stuttgart, da war ja auch der Kunstverein, da hat er auch immer einmal wieder ausgestellt. Es war immer schwierig. Wir haben immer auch Kunden hier gehabt. Aber das meiste hat er doch .. da musste er fortgehen und hat auswärts Sachen verkauft. Da ist er auf Empfehlung dann, wenn er nun Leute kannte, die schon Bilder gekauft hatten von ihm und haben ihnen gut gefallen, dann hat er gesagt: ‘Wissen Sie nicht jemand, der auch noch vielleicht Kunstinteresse hat.’ ‘Ja gehen sie doch Mal zu meinem Schwager. Oder gehen sie mal dort und dort hin zum Dr. Sowieso.’ Manchmal hieß es: ‘Sagen Sie aber nicht, dass ich es Ihnen gesagt habe.’ Aber manchmal durfte er es auch sagen: ‘Auf Empfehlung von so.’ Und so ist er also mit einem großen Bilderpack immer losgegangen und mussten dann auch eben 7 Kilometer zum Zug oder 15 Kilometer zum Bus laufen mit dem Bilderpack auf der Schulter und ist dann halt eben in die Städte gegangen, wo er eben Kundschaft hatte.”

Sprecherin:
Den Bauern im Kochertal auf der Ostalb müssen die jungen Aussteiger wie Außerirdische vorgekommen sein. Allein ihr Aussehen stempelte sie zu Sonderlingen: selbstgeschneiderte tunika-artige Kittel und Umhänge, wallende Kleider und Gewänder, offenes langes Haar. Dazu Willo Rall mit seinem wilden Prophetenbart.
Der Umstand, dass die Aussteiger als Künstler keiner geregelten Arbeit nachgingen, half auch nicht gerade, das Ansehen zu heben. Sie schickten ihre Kinder nicht auf die Schule, sondern unterrichten sie selbst. Im Dorf begegnete man ihnen selten. Sie schotteten sich ab. Nicht einmal in der Kirche waren sie sonntags zu sehen. Was waren das für Leute? “Eigenbrötler!” sagten die Gutmeinenden, “Spinner!”, die anderen. Allerlei Gerüchte machten die Runde.

Sprecherin:
Weltanschaulich war die Sulzbacher Künstlerkolonie - wie viele Änhänger der Lebensreform - “völkisch” ausgerichtet. “Runheim” hatten sie ihre Siedlung getauft: Das Heim der Runen. Oben am Dachgiebel überkreuzten sich zwei aus Holz geschnitzte Pferdeköpfe, germanisch-heidnische Symbole. Hinter dem Haus war ein Altar aufgebaut, wo sogenannte “Morgenfeiern” abgehalten wurden. Im Schriftverkehr und bei Publikationen wurden die gebräuchlichen Monatsnamen, weil sie aus dem Lateinischen stammen, durch deutsche Monatsnamen ersetzt. Aus März wurde Lenzing, aus Juni Brachet.
Mit dieser Gesinnung standen die Runheimer nicht allein. Zum Anti-Kapitalismus, zur Industrie- und Großstadtkritik der Lebensreform gesellte sich oft die Bezugnahme auf ein mythisches Deutsch- und Germanentum. Viele der jungen Leute aus der Jugendbewegung, der Nacktkultur, dem Vegetarismus und der Abstinenzlerbewegung teilten diese Überzeugungen. Professor Wolfram Pyta:
“Völkisch bedeutet, dass das Volk den Orientierungsrahmen für die politische Weltanschauung bildet. Das ist deswegen wichtig, weil hier Volk und nicht Nation gesagt wird. Die Nation war der klassische Fluchtpunkt, der identitätsstiftende Fluchtpunkt auch und gerade im wilhelminischen Kaiserreich - nicht zuletzt durch den Kaiser verkörpert. Aber Nation ist nicht identisch mit diesem Verständnis von Volk, denn Nation ist eine Bekenntnisgemeinschaft, zu der selbstverständlich auch jüdische Deutsche als integraler Bestandteil des deutschen Kulturlebens und als Aushängeschilder der deutschen Kultur zählen. Diese völkische Bewegung meint hingegen, dass das Volk eine natürliche, naturhafte Ordnung sei, in die man hineingeboren wird durch Abstammung, wenn man so will eine Abstammungsgemeinschaft, ‘blutsmäßig’, wie man damals zu sagen pflegte, zu der man sich also nicht bekennen kann, zu der man durch Abstammung von Anfang an hinzugehören muss.
Das Völkische ist also sehr stark von der Rasse bestimmt. Völkisches zu sagen, ohne Rasse zu denken, ist unmöglich, und es führt dazu, dass man im Sinne einer völkischen Schwärmerei auch versucht, an germanische Traditionen anzuknüpfen versuchte, weil dort die Germanen scheinbar die völkischen Urväter der Deutschen sind, weil dort die Traditionen sind, die man wieder beleben muss. Man wehrt sich gegen den römischen Einfluss. Man wehrt sich auch gegen das Christentum, das sozusagen als Import der römischen Kolonisation gedeutet wird. Also es ist eine sehr eigentümlich Mischung aus Industriefeindschaft, Naturschwärmerei und Germanenkult.”

Sprecherin:
Willo Rall muss im Nationalsozialismus eine politische Kraft gesehen haben, die seinen ideologischen Vorstellungen entsprach. Früh trat er der Partei bei, später allerdings wieder aus. Als gesellschaftlicher Sonderling und Künstler war er vielleicht ein zu ausgeprägter Individualist, um sich gleichschalten zu lassen. Vielleicht stellte sich auch Ernüchterung über die Ziele der NSDAP ein, als nach der Machtergreifung viele Projekte der Lebensreform verboten wurden, so auch die Merz-Schule seines Freundes Albrecht Leo Merz in Stuttgart.
Damit Rall überhaupt als Kunstmaler weitermachen konnte, musste er der Reichskulturkammer beitreten. Als er später eine Auswahl seiner Bilder beim Haus der Kunst in München einreichte, wo 1937 die Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt worden war und wo jährlich der "Tag der Deutschen Kunst" mit Adolf Hitler als Hauptredner stattfand, erlebte er eine böse Überraschung. Seine Tochter Iduna Burghardt erinnert sich:
“Dann hat er auch mal, als es das Haus der deutschen Kunst in München gab, hat er dann auch mal Bilder hingeschickt und war dann ganz entsetzt, als die zurückkamen mit dem Vermerk: an entartete Kunst grenzend! War also hell entsetzt und na ja. Aber er hat Privatkundschaft gehabt und dadurch konnten wir uns über Wasser halten.”