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Monte Verità Ascona

Ascona - von keinem Ort vergleichbarer Grösse gingen in den Jahrzehnten vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert ähnliche Impulse für Kunst und Geist der europäischen Zivilisation aus wie von diesem Dorf im Tessin. Hier suchten die Visionäre einer antibürgerlichen Alternativbewegung ihre gesellschaftspolitischen Ideale von "wahrem" Leben zu verwirklichen. Sie gaben dem Berg seinen heutigen Namen und legten unter anderem die Fundamente für die moderne Ökologiebewegung.

Detlev Clemens

Der "Monte Verità", geographisch nur ein Hügel bei Ascona im Tessin, ist einer der faszinierendsten Fixpunkte zeitgenössischer geistiger Entwicklungen und Entwürfe und moderner Mythologien: eine Einladung zu geradezu abenteuerlichen Entdeckungsreisen. Hier konzentrierten sich die Subkulturen, die Gegenbewegungen zum offiziellen Zeitgeist Mitteleuropas von 1870 bis zum Zweiten Weltkrieg.

Winfried Mogge

Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde in der ahistorischen, pädagogischen Landschaft des oberen Lago Maggiore ein ungeheures Potential an Utopien und neuen Lebensentwürfen proklamiert, erprobt, durchlebt und durchlitten. Alle diese Modelle zwischen den Polen des Engagements für die klassenlose Gesellschaft und der beispielhaften Ichverwirklichung und Ichverjüngung stehen hier unter dem Leitstern des Glaubens, dass nur über die Absonderung und dadurch das erneute Trittfassen mit der Natur 'Gemeinschaft' wieder möglich sein könnte. Die Summe dieser intendierten, gelungen und misslungenen Sprünge vom Ich zum Wir schwebt wie eine unsichtbare Wolke über dem Berg der Wahrheit, einem landschaftlichen und klimatischen Mikroparadies.

Harald Szeemann

Die echten, alten Asconeser, die Mayflower-Asconeser, haben diesen schönsten Ort Europas, vielleicht der Welt, entdeckt. Es war die kommunistische Kolonie unter dem bewegten Belgier Henry Oedenkoven; er kam in Gemeinschaft mit Ida Hoffmann, einer vornehmen Frau, die vor einigen Jahren in São Paulo im Krankenhause starb; kurz darauf erschien die Gräfin Reventlow, eine jetzt fast mythisch gewordene Dichterin, die im Roccolo, dem alten Vogelturm, ihre Bücher schrieb, um Brot zu verdienen; weiter Erich Mühsam, der jüngst mit einem Ruf des Grauens von Ascona abgerückt ist; dann Karl Fester, der immer noch den kräftigsten Ziegenbock, den kräftigsten Humor und den kräftigsten Haarwuchs sein eigen nennt; ferner Lotte, die mit giftigen Schlangen spielte, und Emil Ludwig, der das gleiche mit den Musen trieb. Endlich gehörten dazu Dr. Friedeberg, Arzt und Brecher vieler Herzen, der Bildhauer Max Kruse, dessen Frau Käthe im Roccolo die bekannten Puppen zunächst nur für ihre Kinder herstellte, und die Barone Rechenberg und Wrangel, Balten mit besonderen, stark entwickelten Lebensprinzipien. Viele andre schlossen sich an.

Werner von der Schulenburg

Monte Verita (the Mountain of Truth) attracted those concerned with 'life', with what it is to be human; they congregated to experience nature, the spiritual, and in some cases the feminine. Key figures included Gusto Gräser, Naturmensch, poet, Taoist and rebel; Otto Gross, intent on fighting 'the Goliath of German patriarchy', applying psychoanalysis to obtain liberation from the ego and seeking the sacredness of love; Rudolf Laban, the 'magician' of 'salvation-through-dance'; and Mary Wigman, who expressed herself through nature, the great god Pan and the demonic. Hermann Hesse, D.H. Lawrence, Isadora Duncan, C.G.Jung, Franz Kafka, Paul Tillich and Max Weber were among those who visited - or were familiar with - the 'life-experiments', die Neue Zeit, of Ascona.

Paul Heelas

Als Hauptakteure auf dem Monte Verita gelten die Brüder Gustav und Carl Gräser. Sie waren es, die das Fleckchen schöner Erde in Ascona auswählten, und auf ihre geistige Vaterschaft geht vieles zurück, was jahrzehntelang auf dem Monte Verità gedacht, gesucht und gelebt wurde, was viele prominente Dichter und Küuenstler geprägt hat und auch heute noch im Wesentlichen ein Stück Welt beschäftigt.

Dieter Schlesak

Die Mitglieder der Monte Verità-Siedlung bekannten sich zu Naturheilkunde, Kleiderreform und Nacktkultur, das heißt, sie wollten den im "Sumpf der großen Städte" lebenden Menschen ein Vorbild wahrer Naturnähe und Naturschonung bieten. Vor allem Gräser und seine Freunde strebten eine enge Produktions- und Lebensgemeinschaft, eine wirkliche Kommune an, indem sie ohne Geld auszukommen versuchten, im Freien oder in sogenannten Lufthütten schliefen, vornehmlich Gemüse und Körnerfruechte assen sowie auf die meisten "bürgerlichen" Besitz- und Luxusbedürfnisse verzichteten.

Jost Hermand

Wir ziehen hinauf zum "Berg der Wahrheit" - dem Sammelort der alternativen Kultur Europas um die Jahrhundertwende. Hier haben unsere bundesdeutschen Gruenen ihren Ursprung. Im Museum koennen wir das "Bett" von Gusto Gräser besichtigen, das er mit Stricken und abgestorbenen, im Wald aufgesammelten Ästen gebaut hat. Denn, so meinte er, man kann doch nicht sein Bett aus Brettern zimmern - und vorher die Natur, unsere Schwester, töten, zerschneiden, zersägen.

Tilo Schabert

Carlo Gräser war in der dortigen Gegend sehr populär und hatte Anhänger und Verehrer in der ganzen Welt, denn jeder politisch Verfolgte und Anarchist, der den Militaärdienst verweigerte, fand bei ihm Unterkunft.

Oskar Maria Graf

Das landschaftliche und klimatische Mikroparadies des oberen Lago Maggiore wurde zur umfassenden Reformkulturlandschaft, deren Bewohner sich gegen Industrialisierung, Urbanisierung, Technisierung wandten und den Gegenentwurf einer "Naturkultur" wagten.

Hermann Glaser

Hesses Morgenlandfahrer sind "ein Bund". Wir wissen heute, was es tatsächlich mit diesem Bund auf sich hatte und wen Hesse selbst dazu zählte. Eine Elite: Ernst Bloch, Hans Arp, Klabund, Claire und Iwan Goll, Georg Kaiser, Oskar Maria Graf, Leonhard Frank, Erich Mühsam, Toller, Else Lasker-Schüler. Hesse hätte auch den geographischen Ort benennen können, an dem sich diese Elite traf: ein kleiner Ort in der Nähe von Ascona in der Schweiz. Eine Siedlung auf einem Berg, den sie Monte della Verita nannten. Der Gründer war ein Mann namens Gusto Gräser, ein sehr seltsamer Mann aus Siebenbürgen, 1879 geboren, Maler, Dichter, Wanderer, Bettler, Pazifist, Kriegsdienstverweigerer, religiöser Sozialist, Schulreformer, Gesprächspartner für Lenin und Trotzki.

Ascona wurde zum Treffpunkt von Reformern und Revolutionären, und besonders von Kriegsgegnern. Es wurde zur Zuflucht politisch verfolgter Kriegsdienstverweigerer und Kriegsgegner. Hort der Alternativbewegung, von guten Bürgern verdächtigt des anarchischen Kommunismus und der Libertinage. ...

Dieser Gräser ist sicher Pate gestanden zu mehreren Guru-Figuren in Hesses Werk.

Luise Rinser

Die Bewohnerinnen und Bewohner des Monte della Verita waren keine Nietzscheaner eines Willens zur Macht, die sich nach dynamischen Ekstasen sehnten. Sie suchten vielmehr Schönheit aus der Bewegung heraus zu schaffen und sich an die schöpferischen Werte des Lebens - vor allem an den des Eros zu halten. Ihre Suche nach Schönheit und Liebe, nach einer Befreiung von Körper und Seele durch Bewegung, fand besonders dynamischen Ausdruck in der Entwicklung des modernen Tanzes. In ihm sollten ihre Auffassungen von einer Selbsterschaffung des Menschen und von einem dionysischen Gemeinschaftsleben zu einer Einheit verschmelzen. Der Tanz war das Gebiet, auf dem den Bewohnern des Monte della Verita der wirkungsvollste Beitrag zur europäischen Hochkultur gelang.

Steven Aschheim

Im Jahre 1000 nach Christus zogen sich christliche Mönche, wie die Benediktiner von Talloires, in Erwartung des Tausendjährigen Reiches aus der Welt in die Berge zurück. Neunhundert Jahre später war Ascona der Ort einer anderen, in einiger Hinsicht geradezu entgegengesetzten "Religion": erotisch und weltfromm, nicht asketisch und kreuzfromm. Die Vorstellung von Gott dem Vater wurde ersetzt durch Gott die Mutter, die Heiligkeit der Natur und der Frau.

Martin Green

Monte Verità ist mehr als ein berühmter Ort, nämlich ein künstlerisches und kulturelles Programm, ein fantasmagorisches Kaleidoskop. 1900-1930: drei Jahrzehnte einer Gärung, in der Religionen, Mythen, Ideologien, Visionen und Philosophien in ein großes menschliches Abenteuer gerissen wurden … : der Monte Verità als Zentrum der Utopie MENSCH.

Auch wenn er sich nicht realisieren ließ, so war doch dieser Traum ein Ereignis von starker Werbekraft für jene Orte, wo der Hunger nach Vergeistigung mehr als anderswo gestillt wurde, weil er sich verband mit dem Erlebnis der Natur. "Dem unbekannten Genius loci": so beschwor Carl Gustav Jung die Inspiration, die von dieser Kulturlandschaft ausgeht.

Luban Plozza

Obschon Ludwig Borwik keinen freundschaftlichen Verkehr pflegte, wurde Benedikta doch nach und nach bekannt mit einigen von den seltsamen Menschen, die auf den Bergen über dem See in der Wildnis zwischen Lorbeergestrüpp, Kastanien und Ginster ihre Hütten gebaut hatten, oder auch in einem verfallenen Winzerhäuschen auf den sonnigen Höhen der Weinpflanzungen hausten. Jeder für sich beschäftigt, in diesem freien Land, wo Polizeivorschriften nicht einengten, sich ein Leben aufzubauen, das an keine Konvention gebunden, einzig den eigenen Sehnsuchten und Träumen entsprach.

Gabriele Reuter

Gabriele Reuter: Benedikta. Roman. Wien 1922, S. 104f.

Hut ab vor der Schöpfung des Doktor Askonas! …

Liberia liegt in der Zone der Freiheit, es gehört keinem Staate an. Der Boden, auf dem du stehst, ist heiliger Boden. Denn er ist staatenlos. … Niemand kümmert sich um uns. Der Zivilbehörde steht es nicht dafür, die Wüste in Kultur zu nehmen, die Heeresleitung hat hier kein Interesse zu wahren, ihre Kommunikationen gehen andere Richtungen. Man hat uns einfach vergessen! – So gibt es hier wirklich ein Fleckchen Erde ohne Krieg! Hier werden Sie friedlicher und sicherer leben als sogar in neutralen Staaten, falls es noch solche gibt. Denn bei uns wird nicht einmal zur Aufrechterhaltung der Neutralität mobilisiert, hierher dringt keine Agitation, nicht einmal ein Zeitungsbericht. Zeitlos leben wir im Raumlosen. Wir sind der Staatenwelt durch die Maschen geschlüpft. Sehen Sie den Leiterwagen dort? Man bringt die Ernte ein. So arbeiten wir und leben von dem, was wir erarbeiten. Und es zeigt sich, mit wie geringen Mitteln eine Gemeinschaft vernünftiger Menschen haushalten kann, ja, dass der ganze plumpe Riesenapparat Staatlichkeit ebenso überflüssig ist, wie etwa das Geld, da wir direkt unsere Arbeitswerte tauschen, überflüssig wie Gericht und Polizei, da jeder sich selbst in Schranken hält. Es ist gar keine Hexerei dabei. Wir haben sie bebaut, wir ernten nun, - ernten für uns, nicht für eine Armee und nicht für ein Hinterland, das „durchhalten“ soll. … Dabei noch das Bewusstsein, dass wir ein Vorbild geben, wenn wir mit unserm Versuch bis ans Ende ausharren, - dass die Menschheit nur nachzufolgen braucht (und sie wird uns folgen, vielleicht morgen, vielleicht in Jahrhunderten) um ein vollkommenes Paradies auf Erden zu haben.“

Max Brod

Max Brod: Das große Wagnis. Roman. Leipzig und Wien 1918, S. 52-55

Während der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte sich dieser Tessiner „Zauberberg“ als ein Zentrum des alternativen Lebensstils erweisen. Als eine einzigartige Stätte der Begegnung zwischen Ost und West…

Die individualistisch-anarchistische Revolte hatte auf dem Monte Verità dasselbe Heimatrecht wie die Frauenemanzipation, pazifistische Ideen wurden hier ebenso vertreten wie die sexuelle Befreiung aus den Fesseln lebensfeindlicher Prüderie und puritanischer Muffigkeit. Ja, wie in einem Schmelztiegel kristallisierten sich an diesem subkulturellen Sammelplatz all die lebens- und kulturreformerischen Sehnsüchte, Experimente und Visionen des frühen 20. Jahrhunderts, an denen sich seismographisch die unterschwelligen Erschütterungen der ganzen Epoche ablesen lassen. Waren sie doch nur der prononcierteste Ausdruck eines tiefen Unbehagens an der beschleunigten Urbanisierung, Industrialisierung und „Mechanisierung“ des Alltagslebens um 1900. Mithin Ausdruck eines Ungenügens am Materialismus, Rationalismus und Positivismus der „seelenlosen“ Industriemoderne.

Muss man lange erklären, warum sich Hermann Hesse von diesem rousseauistisch anmutenden Experimentierfeld auf dem Monte Verità besonders angesprochen fühlte? Begeistert ließ er seinen Malerfreund Max Bucherer wissen: „Hierher solltest du auch kommen, das wäre eine Ernte für dich: Alpen, Seen, Inseln, ein wilder Felsenberg, Akte im Freien usw…“

Christoph Gellner

Christoph Gellner: Weisheit, Kunst und Lebenskunst.

Fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. Mainz 199?, S. 81f.


Während in anderen Orten sich nur Teilgruppen der Reform und Revolution trafen: in Genf und Zürich die russischen Emigranten und die europäischen Kommunisten und Anarchisten, auf Capri und in Taormina die Homosexuellen, war der Monte Verità der Umschlagplatz aller Ideen und Narreteien, aller Experimente und Basteleien, mit denen seit etwa 1890 eine Avantgarde versuchte, die bürgerliche Tradition aufzubrechen, um einen neuen Lebensstil und neue gesellschaftliche Organisationsformen zu proben. …

Die Abschaffung der bürgerlichen Glaubenssätze konnte nur mit gleichstarken Worten gelingen. Im Unterschied zu den bürgerlichen Parteien mit ihren Programmen, denen die Massen gehorchen konnten, war es eine Reform, die das ganze Leben betraf: Kleidung, Speise, Körperpflege, Bauen und Wohnen, die Erziehung und was sonst, notwendig auf die Kühnheit des Einzelnen und seine Experimentierlust angewiesen. Das Individuum konnte, ja sollte sich absolut setzen und die Befreiung der Wünsche als Entdeckung der Wahrheit ausgeben. …

Der Monte Verità zog Propheten und Heilsverkünder in besonderer Zahl an, weil seit alters die Ikonographie den Sitz der Wahrheit auf Bergesgipfeln sich denkt und erhaben über dem dumpfen Getriebe der Menschen. Der Aufstieg auf den Monte Verità war der Akt der Erhebung, mit dem sich jeder Wanderer des zwanzigsten Jahrhunderts in die Tradition Petrarcas stellen und dessen Aufstieg auf den Mont Ventoux als Läuterung von aller irdischen Sündhaftigkeit imitieren konnte. Die Erneuerungsbewegungen am Anfang des Jahrhunderts hatten sich zwei Wallfahrtsberge auserkoren: für die erwachsenen, luxusmüden Industriellensöhne und die protestierende Bohème den Monte Verità, für die Jugend den Hohen Meißner.

Hannelore Schlaffer

Hannelore Schlaffer: Der Bürger probt die Zukunft. Monte Verità –

Von der Vegetarierkolonie zum Luxushotel der Großbourgeoisie. In: Die Zeit, 1996.

Der Monte Verità (ital. ‚Berg der Wahrheit’) war ein Kultort der europäischen, insbesondere deutschsprachigen Alternativkultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. … Die Benennung ist Programm: die ‚Wahrheit der Natur’ – und der naturgemäßen Lebensweise – wird der ‚Verlogenheit der Zivilisierten’ pathetisch entgegengesetzt. Der Monte Verità reiht sich somit in die Tradition der europäischen gesellschaftskritischen Sozialutopien ein. Er wurde über seinen konkreten Anlass hinaus ein Sammelbegriff für ein buntes Gemenge von alternativen Lebensstilen, Siedlungsexperimenten, individuellen Mythologien und Religionsentwürfen, die von bürgerlichen Aussteigern und Künstlern im örtlichen und weltanschaulichen Weichbild des Monte Verità praktiziert wurden: Theosophie, Anarchismus und Pazifismus (Erich Mühsam), Tanzreform (Rudolf von Laban) und Mythenforschung. …

Schon 1901 spaltete sich die Gruppe und es bildete sich der für den Monte Verità typische Gegensatz zwischen kommerziellem life-style und radikaler Lebenspraxis heraus: Einerseits gründeten Oedenkoven und Hofmann ein kommerzielles Sanatorium mit ‚Licht- und Lufthütten’, Wasserkuren und ‚Lichtwiese’ (Vorbild war die Naturheilanstalt des Schweizers Arnold Rikli), andererseits entstand eine „Naturmenschen“-Kolonie auf autarker Basis: kein Geld, sondern Tauschprinzip; keine zivilisatorischen Hilfsmittel und Werkstoffe, sondern ‚naturgemäßes’ Leben, wie es Henry Thoreau und Graf Tolstoj predigten. Ein bloßes Erholungsinstitut, in dem sich gestresste Bürger von den Schlacken der Industriegesellschaft reinigen konnten, stand von Anfang an einer ‚Gesellschaft von Reinen’ gegenüber, einer „Entsagungselite“ (H.-G. Soeffner). Beide Fraktionen freilich verschrieben sich streng „vegetabilischen“, d. h. veganischen Prinzipien: Rohkost, keinerlei Tierprodukte, biologischer Anbau von Lebensmitteln, Alkoholabstinenz.

Hubert Mohr

Hubert Mohr: Monte Verità/Ascona.In: Auffarth, Christoph u. a. (Hg.): Metzler-Lexikon Religion, Stuttgart Weimar 1999, Band 1, S. 95


Die nächste Episode in der russischen Eroberung der Ufer des Lago Maggiore führt uns ins stille Ascona, das Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Zufluchtsstätte für die Intelligenz ganz Europas wird …

Unter den Russen genießt der Monte Verità eine ungeheure Popularität, für sie wird eigens die Casa die Russi erbaut, die heute noch steht. Der Anarchistenarzt Raphael Friedeberg … schreibt … im März 1906: „In Ascona ist wie jedes Jahr augenblicklich wieder eine rechte russische Seuche ausgebrochen, und kein einziges Plätzchen ist mehr zu haben; das dauert, bis in Bern und Genf wieder das Semester anfängt, früher ziehen diese Studenten, Männlein und Weiblein, nicht ab.“

Michail Schischkin

Michail Schischkin: Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer. Zürich 2001. S. 256f.

Die Anziehungskraft, die in der magnetischen Anomalie des Monte Verità gewissermaßen ihr geologisches Pendant findet und die aus dem kleinen Hügel eine „neuzeitliche sakrale Topologie“ machte, wie Harald Szeemann formuliert, ein Pilgerziel und einen Weiheort, gründet sich auf das ursprüngliche Unternehmen – vielfach gescheitert und doch Ziel der Sehnsucht geblieben: den Rückzug aus der urbanen, industriellen, kapitalisierten Moderne, den Ausbruch aus Zwängen der Gesellschaft, die Rückkehr zur Einfachheit, Spiritualität, Wahrheit, zur Natur. Diesen Wunsch nach dem Ausstieg, in jeder Gesellschaft zumindest latent vorhanden, verkörperte zwischen 1900 und 1920 der Monte Verità in Ascona.

Elisabeth Ries

Elisabeth Ries: Monte Verità, Ascona: Oberfläche und Unterströmungen. In: Elisabetta Barone u. a. (Hg.): Pioniere, Poeten, Professoren. Eranos und der Monte Verità in der Zivilisationsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2004. S. 30

Ein Kronzeuge für den inneren Zusammenhang vieler innovatorischer Zeitströmungen, der deren Relevanz und Modernität verbürgt, ist kein Geringerer als Max Weber. Das Leiden bestimmt den Grundton seines Lebens. In jungen Jahren überarbeitet er sich bis zum völligen Zusammenbruch. Lange Zeit ist er unfähig zur sexuellen Liebe, zum Kummer seiner Frau verdirbt er seine Figur obendrein durch unmäßiges Essen und Trinken. Und dann der Rausch der Regeneration, geistig wie körperlich, wissenschaftlich wie erotisch – die Befreiung zur Genialität und zur Genitalität! 1913/14 hungert er sich, im Umkreis des Monte Verità lebend, durch eine Früchtekur schlank. In jenen Jahren wird er zum Liebhaber, und ihn fasziniert nicht mehr so sehr der angloamerikanische Puritanismus, sondern mehr noch das orgiastische Element in den östlichen Religionen, das er zu einem Gutteil in diese hineinprojiziert. Obwohl für seine Person erzbürgerlich, nimmt er die 'Naturmenschen' und Anarchisten auf dem Monte Verità, die Propheten des Vegetarismus und der freien Liebe, erstaunlich ernst: Sie bedeuten für ihn eine geistige Herausforderung folgenreicher Art, einen neuen Schlüssel zum Weltverständnis. ...

Das vielleicht mächtigste Bindeglied zwischen den Neuerern und der herrschenden Kultur bestand in der Musik Richard Wagners, die ebenso von Leidlust und Sehnsucht nach Regeneration durchzogen war. Von Wagnerianern wurde die Naturheilstätte auf dem Monte Verità gegründet, wo die Naturmenschen auf der 'Parsifal-Wiese' tanzen und sonnenbaden und vom 'Walkürefelsen' in die Weite blicken konnten. ...

Die Stärke der deutschen Öko-Bewegung muß vor diesem Hintergrund gesehen werden. Selbst in der Nacktkultur scheint Deutschland eine – bislang noch nie befriedigend gedeutete – Pionierrolle gespielt zu haben.

Joachim Radkau

Joachim Radkau: Die Verheißungen der Morgenfrühe. Die Lebensreform in der neuen Moderne.
In: Die Lebensreform.
Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Darmstadt 2001, Band I, S. 58

Dass ein Ort immer wieder aufgesucht wird, an dem die alternativen Experimente, die ästhetischen Impulse und auch die politischen Ideen so wild und merkwürdig, so gebrochen und verrückt zusammenkamen, das scheint bei aller Ernüchterung und Einsicht ins Scheitern der Utopien doch dafür zu sprechen, dass der Monte Verità über die Geschichte seiner Projekte hinaus eine Art lebendiges Museum utopischer Energien geblieben ist.

Heiner Boehncke

Heiner Boehncke: Der Zauberberg der Gegenkultur: Monte Verità. In joachimMeißner u. a. (Hg.):
Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe. Frankfurt/M. und Leipzig 2001. S. 214

Bis heute übt der Monte Verità eine starke Faszination aus. Drei Filme, mehrere Fernsehbeiträge, verschiedene Sachbücher, literarische Werke, ungezählte Zeitungsartikel und sogar eine von der Boston Theatre Group 1993 uraufgeführte Oper sind ihm gewidmet. … Newell Hendricks, Ascona … the counterculture begins, uraufgeführt im Sanders Theatre Boston am 29. Januar 1993. Oper in drei Akten. … Im ersten Akt geht es um die Auflehnung der Söhne gegen die Väter am Beispiel von Otto und Hans Gross. Im zweiten Akt steht Labans „Sonnentanz“ im Zentrum, worauf der letzte Akt sich der „Rache der Väter“ widmet. Gusto Gräser kann sich dieser entziehen; er wird zu einem „Naturpropheten“, der in einer finalen Apotheose durch das von zwei Weltkriegen verwüstete Europa wandert als lebendiger Geist des Widerstands.

Andreas Schwab

Andreas Schwab: Monte Verità – Sanatorium der Sehnsucht. Zürich 2003, S. 211

Sich lösen, sich reinigen stand im Zentrum der Monte-Verità-Bewegung. Man wollte Abschied nehmen von der Saturiertheit der Jahrhundertwende … durch den „Auszug auf den heiligen Berg“.

Willi Winkler

Willi Winkler: Die große Lust am Neuen. In: Geo, Nr. 2, April 1996, S. 68 f.

Wenn Geld nicht mehr kaufen kann, wozu es eigentlich da ist – einen sauberen Strand oder lärmfreies Wohnen oder gesunde Ernährung oder pünktlichen Transport: Wozu dann danach jagen? … Das leer gebliebene Kaufhaus GUM war es nicht; das protzend-vollgestopfte KaDeWe soll es nicht sein … nun wallen Nebel um einen neuen Monte Verità.

Fritz J. Raddatz

Fritz J. Raddatz: Im Nebel eines neuen Monte Verità. In: Die Zeit Nr. 48, 22. November 1991, S. 57


Im Rückgriff auf den Paradiesmythos und allerhand neuhellenische Ideale glaubten die Monteveritaner aus dem Verblendungs- und Schuldzusammenhang einer bedrückenden Gegenwart austreten zu können. Von heute aus betrachtet, erscheinen sie als Pioniere unserer fortschreitend individualisierten Gesellschaft, deren Fähigkeit zur Anverwandlung kein Gegenmythos standgehalten hat. Die Esoterik boomt, das Fitneßstudio schafft den antikischen Angestelltenkörper, FKK blüht im städtischen Freibad, die Wohngemeinschaft ist eine pragmatische Durchgangslebensform geworden – welch erstaunlicher Sieg auf der ganzen Linie: Monte Verità ist überall.

Jörg Lau

Jörg Lau: Der Kopf des Orpheus.
Was bleibt von der Faszination des Mythos? In: Die Zeit Nr.11, 7. März 1997, S. 55

Blick vom Monte Verità

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