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Alexander Ulars „Weg des Lao Tse“

Eine Vorlage für Gräsers Tao-Dichtung

Wann entstand Gräsers Nachdichtung des Tao Te King? Sie wurde erstmals 1913 in Stuttgart öffentlich von ihm vorgetragen. Kann es sein, wie manche annehmen, dass er durch die Übersetzung von Richard Wilhelm, die 1911 erschien, dazu angeregt wurde? Das halte ich für unwahrscheinlich, dafür war die Zwischenzeit zu kurz. Ein solches Werk bewältigt niemand in einigen Monaten, auch nicht als Nachdichter, am wenigsten der auf langsames Wachsen angelegte Gusto Gräser, und das am wenigsten in dieser Zeit, wo er eine achtköpfige Familie auf der Straße zu ernähren hatte. Wie hätte er da die Muße finden sollen, sich hinter Bücher zu setzen und über Formulierungen zu grübeln? Nein, eine so ausgereifte Dichtung setzt einen langen Werdeprozess voraus. Wo wäre sein Beginn anzusetzen, wann wurde Gräser mit dem Spruchwerk von Laotse bekannt?

Wir wissen darüber nichts Konkretes, wie können nur Wahrscheinlichkeiten rekonstruieren.

Seine erste Besprechung chinesischer Literatur lieferte Hermann Hesse im November 1907 ab, also ein halbes Jahr nach seinem Zusammensein mit Gräser in der Grotte von Arcegno. Das lässt aufmerken. Er schreibt darin: „Aus China hat der Verlag früher eine schöne Übersetzung der Sprüche des Lao Tse gebracht“. Adrian Hsia kommentiert in ‚Hermann Hesse und China’: „Dies ist Hesses erste Rezension eines chinesischen Buches. … Für die Datierung der ersten Begegnung Hesses mit China ist der erste Satz wichtig. Der dort erwähnte Verlag ist der Insel Verlag, der 1903 – also noch vor 1907 – nur Alexander Ulars Nachdichtung von Lao Tses Tao Te King unter dem Titel Die Bahn und der rechte Weg des Lao Tse herausgebracht hatte“ (Hsia: HH und China, S.14).

Damit ist nicht gesagt, dass Hesse dieses Buch schon 1903 gelesen hätte. Eher sieht es danach aus, dass er sich erst seit 1907 mit chinesischer Literatur befasste und dabei auch auf die Nachdichtung von Ular stieß. Oder umgekehrt: Dass Gräser ihn auf Ular aufmerksam machte und Hesse sich zunächst mit der ihm näher liegenden Lyrik von Li Tai Pe beschäftigte. Als sicher anzunehmen ist jedenfalls, dass beiden zur Zeit ihres Zusammenseins Laotse bekannt war oder bekannt wurde. Gräser möglicherweise schon früher durch die Auszüge aus Laotse des Theosophen Franz Hartmann, der 1901 auf dem Monte Verità gastiert hatte.

Ob nun seit 1901, 1903 oder 1907 – soviel ist klar, dass Gräser lange vor 1911 mit Laotse und speziell mit der Nachdichtung von Ular bekannt gewesen sein muss. Damals, in den Jahren seiner Einspännerei und Einsiedelei bei Arcegno und auf dem Monte Verità, hatte er sowohl die Muße wie die Mittel, sich in die Sprüche Laotses zu versenken. In der Behausung seines Bruders stand ihm eine umfangreiche Bibliothek reformerischer und esoterischer Literatur zur Verfügung, die sowohl die Schriften von Franz Hartmann wie das Buch von Ular enthalten haben dürfte. (Hesse erwähnt staunend diese Bücherei!) Waren doch diese rebellischen „Wahrheitssucher“ dringend darauf angewiesen, Zeugen zu finden, die ihr Anderssein und Anderswollen unterstützen konnten. Die Upanishaden konnten ihnen helfen und eben auch Laotse.

In der Zeit zwischen etwa 1906 und 1913, also in einer siebenjährigen Schwangerschaft, dürfte die Frucht von Gräsers Dichtung herangereift sein. Ular und nicht Wilhelm war ihm wohl die früheste und auch die zusagendste Quelle. Hesse nennt sie „poetischfrei“ – und eben diese poetische Freiheit war es, die Gräser anzog, während mehr akademisch-philologisch ausgerichtete Geister bedenkenvoll die Stirn runzelten. Ular war ihnen zu frei  (in mehrfachem Sinne) – und Gräser auch.



Aus welcher Quelle
schöpfte Gräser
für seine Nachdichtung des ‚Tao Te King’?


Alexander Ular
1912, Erstdruck 1903


Richard Wilhelm
1911



Gusto Gräser
1913 (erster Vortrag, hier die Endfassung)


Spruch 1

Unnambarkeit ist das Wesen des Allüberall;

Nennbarkeit ist Werden des Einzelnen.  ...

1

Der SINN, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige SINN.

1

Unnennlich ist das unendliche Eine,

und nennlich ist nur der vergängliche Teil ...


5

Das Allüberall kennt nicht das Lieben; Es schreitet über das Einzelne fort als über ein Mittel. ...

5

Himmel und Erde sind nicht gütig.

5

Himmel und Erde lieben den Menschen nicht besonders ...

Grohses Lieben klebt nicht an Einzelnem ...
 


6

Die unfassbare Mutter ist Wurzel des All,

Stätig webend bedarf sie nicht des Antriebs.

6

Der Geist des Tals stirbt nicht, das heißt das dunkle Weib.

6

all die verborgenen Würzelein tränkend gleich einer Mutter - immerda, immernah ihr Kindlein zu nähren. … Mütterlichkeit, TAO.


11

Dreissig Speichen treffen die Nabe, aber das Leere zwischen ihnen erwirkt das Wesen des Wagens ...

11

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.

11

Ist das Rad die dreissig Speichen?

Nein - es dreht sich um ein Loch ...



15

Wer von den Jetzigen dürfte, durch seiner Klarheit Grösse, die innere Finsternis klären?

Wer von den Jetzigen dürfte, durch seines Lebens Grösse, den inneren Tod beleben?


15

Wer kann wie sie das Trübe durch Stille allmählich klären?

15

Wer von uns Heutigen schimmert wie sie so heiterlicht in die Finsternis der Welt?

Wer löset wie sie in solch treutiefer Geduld das Wirrnis des Todes?


20

Verstand ist Vernichtung des Lebens. ...

Ich hingegen, tief ankernd am Grund des Gefühlsstroms, bin heiter und still in der Freude gleichwie das Kind.  ...

Allwelt hat Erfahrung;

Ich hingegen bin einfältig,

ein Tor! ...


20

Zwischen „Gewiß“ und „Jawohl“: was ist da für ein Unterschied? …

Ich habe dasHerz eines Toren

20

Fahr hin, Verstand, Du Mörder der Weisheit! ...

Ich aber sinke, sinke zum Grund des Gefühlsstroms,

ein Kindelein! ...

Leute, die wissen - ich aber bin albern, ungelehrt, ein Tor!

 


26

Doch verflucht sei der Weltlich-Grosse, der oberflächlich dahinlebt,  Der durch das Vorbild der Lust, lokert das Band der Gemeinschaft! ...


26

Durch Leichtnehmen

verliert man die Wurzel.

26

Doch wehe weh dem Mann, der tänzrisch, tändelnd lebet - die Schwerde flieht, um leichter Lust allein zu fröhnen – so  ... fällt die Volkheit auseinander.


29

Denn das Tun des Einzelnen wechselt:

Hier vorwärtsgehn, dort rückwärtsweichen;

Hier Wärme zeigen, dort Kälte;

Hier Kraft aufwenden, dort Schwäche weisen ...

29

Die Dinge gehen bald voran, bald folgen sie, bald hauchen sie warm, bald blasen sie kalt …

29

Ja, Wechselfälligkeit bedarf unsres Lebens wachsende Ordnung -

Hier vorgehn - dort nachgeben - hier wärmen - dort kühlen - wachsam ihr Wachstum nachfühlen, nachdenken, nachlenken - so will es des schönen Miteinders lebende Ordnung.


50

Ins Leben treten heisst zum Tode wallen.

50

Ausgehen ist Leben, eingehen ist Tod.

50

Am Leben hängen, heisst dem Tod verfallen - den Tod nicht fürchten, heisst im Leben wallen. ..



59

Zur Förderung des Menschen

Zur Entwicklung des Geistigen ist das Lassen das höchste Mittel. Lassen ist Einlenken in den Rechten-Weg. ...

59

Bei der Leitung der Menschen und beim Dienst des Himmels gibt es nichts Besseres als Beschränkung.

59

Lassen,Mut Du heiliger Enthaltung,

Entfaltung unsres Wesens ist Dein Preis, und unsres Geistes heitere Gestaltung -

Wohl uns, wenn einer recht zu lassen weiss! ..



61

Der grosse Staat ist wie die Tiefe zu der die Flüsse fliessen, Herd des Menschlichen, weibliches Widerbild der Gemeinschaft.

61

Indem ein großes Reich sich stromabwärts hält, wird es die Vereinigung der Welt.

61

Gross kann ein Volk nur in der Tiefe werden - als wie ein See - Hinrieseln alle Tropfen zu den Tiefen ...

 



Alexander Ular
1912, Erstdruck 1903

Richard Wilhelm
1911

Gusto Gräser
1913 (erster Vortrag, hier die Endfassung)

Es ist offensichtlich – die zum Teil wörtlichen Übernahmen belegen es  -, dass Ulars Übersetzung für Gräser die wesentliche Vorlage war, weit mehr als die von Richard Wilhelm. Sie ist auch die weit poetischere, Wilhelm wirkt im Vergleich steif, schwerfällig, abstrakt und trocken. Schwer begreiflich, warum Hesse die wilhelminische besonders schätzte. Noch unbegreiflicher, dass er die von Gräser nie erwähnt.

Verdrängt wurde auch Ular aus dem deutschen Geschichtsbewusstsein. Obwohl er ein hochbegabter Sinologe war, der schon als Zwanzigjähriger chinesische Gelehrte über Laotse belehren konnte, obwohl er wichtige kulturvergleichende Werke über Russland und China verfasste, die heute  - nach hundert Jahren! - wegen ihrer unerloschenen Aktualität wieder neu aufgelegt werden, ist er selbst in der Fachliteratur weitgehend vergessen oder wird verschwiegen. Ular emigrierte um 1900 nach Frankreich, vermutlich abgestoßen von der dumpfen Servilität der Deutschen, dem frankophilen Geschmack des bewunderten Nietzsche folgend. Schon 1903 hat er in einem Aufsatz auf die überraschenden Übereinstimmungen in den Gedankenwelten von Nietzsche und Laotse hingewiesen. Er starb, erst 43jährig, 1919 in Marokko. Im Unterschied zu Nietzsche, so schrieb er 1903, habe Laotse nicht „in erschütterndem Kampf, sondern in lächelnder Überlegenheit den Prachtbau unserer albern zusammengeträumten Geistesgröße dem Staube“ gleichgemacht. So dachte sicher auch Gusto Gräser, an den Ular auch in seiner hochgemuten, offenen, unerschrockenen Redeweise erinnert. Die fast Gleichaltrigen könnten sich im Sommer 1900 in Paris begegnet sein.


Die Wiederkehr des Alexander Ular
 

          

1976                                                          1923                                              2012

 

             

1905                                           1906 und 2009                                               2009

(*9.6.1876, V1919) Geburtsname: Alexander Ferdinand Uhlemann. In Bremen geborener Wahl-Franzose. Verfasser etlicher "kulturgeschichtlicher Romane". Verheiratet mit Berthe Fleury. Ihr gemeinsamer Sohn Charles lebte von 1902-1966. Ular starb in Marokko.


 

Die Bahn und der rechte Weg des Lao-Tse.
Der chinesischen Urschrift nachgedacht von Alexander Ular.

Insel-Verlag, Leipzig . 

 

Die Originalausgabe erschien 1902 in Paris (Éditions de la revue blanche) auf Französisch (Le Livre de la voie et de la ligne droite) und mit dem Vornamen Alexandre, aber auch die deutsche Fassung stammt direkt von Alexander Ular.


Aus dem Nachwort von Alexander Ular:

"(Die) Europäer ... machten sich mit dem ganzen Dünkel philologischen und philosophischen Besserwissens über den alten toten Meister her. Sie unterwarfen ihn wissenschaftlicher Analyse; sie sezierten ihn philologisch, reduzierten ihn zum bloßen linguistischen Präparat, wickelten ihn in unzählige Fußnoten, Varianten, angeblich kritische Bemerkungen und chinesische Kommentare, und verleibten ihn so den Totenkammern der Literatur, den Bibliotheken, ein. Und dann geschah das Furchtbare - der von den Philologen ganz falsch sezierte Lao-Tse wurde von angeblichen Philosophen, die von jener Anatomenarbeit nichts verstanden, wieder zusammengesetzt und nun als Zerrbild seiner selbst in hahnebüchenen Formen dem achselzuckenden Publikum vorgef'ührt.

Stanislaus Julien, der große französische Sinologe, versuchte sich als erster am Texte des Tao-Te-King, dem schwierigsten Texte, den die Chinesen kennen. Seine Arbeit ist, als erste, großartig; bloß strotzt sie von Irrtümern und gefährlichen Interpretationen, die damals unvermeidlich waren. Weniger entschuldbar ist jedoch, daß ausnahmslos alle späteren Sinologen, die den chinesischen Originaltext zu übertragen suchten, den grundsätzlichen Fehler des großen Franzosen und der chinesischen Kommentatoren des Lao-Tse wiederholten.

Dieser Fehler besteht darin, daß man ganz die Zeit der Wirksamkeit des alten Meisters vergaß. Lao-Tse hat vor fünfundzwanzig Jahrhunderten gelebt, und man liest seine Schrift, als wäre sie gestern geschrieben. Sicherlich: nirgends ist ein solcher Irrtum verführerischer als im Chinesischen. Denn heute werden dieselben Hieroglyphen benutzt wie zur Zeit Lao -Tses. Das Schriftzeichen, welches damals Pferd bedeutete, bedeutet es heute noch. Und ein Kochtopf wird schriftlich heute noch mit dem Schriftbild bezeichnet, das Lao-Tse verwandte. Aber was vor fünfundzwanzig Jahrhunderten ein Pferd war, ist auch heute noch ein Pferd; und ein Topf bleibt in alle Ewigkeit ein Topf. Abstrakta dagegen ändern ihren Sinn, wenn sich die Menschen ändern. Sie werden stets im Anfang durch sinnliche Symbole oder durch Analogien mit menschlichen Verhältnissen ausgedrückt. Diese Symbole werden in der Sprache beibehalten, während ihr Inhalt sich mit der Geistesverfassung der Menschen ändert. Und so trifft schließlich der ursprüngliche Sinn des symbolischen Ausdrucks nicht mehr den Sinn, der später ausgedrückt werden sollte, ja verkehrt ihn oft in sein Gegenteil. Und man versteht die alten Texte ganz falsch, wenn man ihren sprachlichen Ausdrücken für Abstrakta den Sinn beilegt, den sie jetzt haben, anstatt festzustellen, welchen Sinn sie zur Zeit der Niederschrift des Textes wirklich gehabt haben.

Was bedeutet z. B. das lateinische Wort virtus, und was das französische vertu und das deutsche Tugend? Das französische hat, im Singular gebraucht, fast ausschließlich den Sinn weiblicher geschlechtlicher Enthaltsarnkeit. Es ist das genaue Gegenteil des lateinischen virtus geworden, das nichts anderes bedeutet als Mannhaftigkeit, oder Typisches am Manne. Das deutsche Tugend bedeutet sprachlich eigentlich nichts weiter als Tauglichkeit, Tüchtigkeit, Fähigkeit zur Tat, während es gerade umgekehrt nunmehr die Fähigkeit bezeichnet, Triebe zur Tat zu inhibieren. Wer die virtus eines Mucius Scävola mit der vertu einer Pariser Arbeiterin verwechselt oder die Tugend Siegfrieds für dasselbe hält wie die Tugend einer treuen Gattin, macht sich lächerlich.

Ebenso lächerlich ist es, einer chinesischen Hieroglyphe, die unverändert durch die Jahrtausende gegangen ist, in einer Schrift des grauen Altertums denselben Wert und dieselbe Bedeutung beizulegen, die der moderne Chinese ihr zuschreibt. Diesen Fehler haben die Philologen an Lao-Tse begangen. Sie haben vernachlässigt, festzustellen, welchen Sinn die Hieroglyphen, die den Tao-Te-King zusammensetzen, im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung besessen haben. Sie haben vor allem vergessen, daß die chinesische Schrift eine Bilderschrift ist, in der im Altertum natürlich der Sinn jedes Bildes dem Gegenstande, den es darstellt, viel näher stand als jetzt. Zur Zeit des Lao-Tse war der bildliche Sinn aller der Schriftzeichen, die nicht unmittelbar als phonetische Eselsbrücken erkennbar sind, viel weniger abgeschwächt als jetzt, und der ursprüngliche Sinn des Bildes ist bei dem hohen Alter des Textes der einzig annehmbare.

Die Hieroglyphe "Tao" z. B., die von Lao-Tse zur Bezeichnung des Prinzips seines Systems gebraucht wird, stellt einen ausgetretenen Weg, eine Bahn dar, und wer das Wort mit "Allvernunft" oder gar Gott übersetzt, begeht eine schauderhafte Umdeutung auf der Grundlage modern infizierter und noch dazu indoeuropäischer Vorurteile. Ebenso hat die Hieroglyphe "Te" niemals Tugend bedeutet, als welche sie beharrlich übersetzt wird; sie setzt sich zusammen aus dem Bilde des Geradeausgehens und dem Bilde des Herzens; sie bedeutet also das seelische Geradeausgehen, den Rechten-Weg des Lebens, oder in beschränkterem Sinne allerhöchstens die "Geradheit". Diese beiden, wirklichen Begriffe von "Bahn" und "Rechtem Wege" haben mit dem, was wir uns gemeiniglich unter "Allvernunft" und "Tugend" oder gar unter "Gott" und "Sittenreinheit" vorstellen, absolut nichts zu tun. Meine Übertragung des Tao-Te-King behandelt jede Hieroglyphe des Textes in ähnlicher Weise. Und ich habe hiermit zu meiner Freude an vielen Stellen klaren Sinn und tiefe Weisheit gefunden, wo die chinesischen Kommentatoren Unverständlichkeit und die westländischen Philologen nur zu oft blödes Geschwätz fanden. Es ist hinzuzufügen, daß die auf uns gekommenen chinesischen Kommentatoren, die zum philologischen Studium des Textes als Autoritäten nur zu oft herangezogen worden sind, sämtlich zu einer Zeit geschrieben haben, da die Philosophie des Lao-Tse längst verloren war und der Sinn der Hieroglyphen für Abstrakte, sowie die Syntax, sich stark geändert hatten, so daß sie zum Verständnis des Textes ebensowenig in Betracht kommen, wie beispielsweise die mittelalterliche Scholastik zur Exegese von Bibeltexten. Das Schlimmste aber für Lao-Tse war die vielfache Überarbeitung der falschen philologisch sezierten Übertragungen des Tao-Te-King durch Juristen, Philosophen, Orientalisten und Schriftsteller, die das Chinesische nicht beherrschten. Solche Bearbeitungen, Kritiken und Darstellungen gibt es fast nur in Deutschland. Wir haben Lao -Tses in volkstümlichen gereimten Versen, ja wir haben sogar einen in Knittelversen, dessen sich einer der berühmtesten deutschen Juristen schuldig gemacht hat. Lao-Tse ward zugleich eine leichte Beute der Indianisten, die mit Vergnügen in den ihnen vorliegenden irrtümlichen Übertragungen Wörter wie "Allvernunft", "Askese", ja sogar "Nirvana" feststellten und nunmehr von hoher Warte herab dozierten, Lao-Tse sei eine Art Buddhist (obwohl er vor Buddha lebte), oder seine Philosophie sei die des Vedânta oder der Upanishaden (die fast das genaue Gegenteil der Ideen des Lao-Tse lehren). Aber Lao-Tse interpretiert das Leben, während die Inder immer nur das Hinter-dem-Leben interpretieren. Und es ist nichts als unberechtigtes Ausdehnenwollen der Macht der indoeuropäischen Gedankenwelt, wenn man in Lao-Tse Indisches hineinliest. Es ist so weit gekommen, daß selbst der große Deussen, der ganz im Indischen aufgeht, vermeint, der Tao-Te-King sei eine (indoeuropäische) Palme über dem Gestrüpp des (echtchinesischen) Konfuzianismus, während in Wirklichkeit Lao-Tse womöglich chinesischer ist als Kong-Tse, nur daß jener sich zu diesem verhält wie etwa Kants "Kritik der reinen Vernunft" zu Knigges ‚Umgang mit Menschen’.

Manche dieser Gelehrten, die Lao-Tses Stellung in der Geschichte der menschlichen Ideen haben feststellen wollen, ohne selbst den Text des Tao-Te-King bearbeiten zu können, haben natürlich in meiner zum ersten Male vor Jahren in französischer Sprache erschienenen Übertragung ihren Lao-Tse nicht wiedergefunden und vergnüglicherweise aus diesem und dem weiteren Umstande, daß ich philologische Fußnoten, Varianten und Kommentare in meinen Arbeitsheften behalte, geschlossen, daß ich ebensowenig das Chinesische beherrsche wie sie, und daß daher meine Arbeit für sie nicht in Betracht kommt. Aber jedenfalls habe ich den Beifall der chinesischen Gelehrten, denen ich an Ort und Stelle die wesentlichen Stellen des Textes, den sie nicht verstanden, in dem nach der oben beschriebenen Methode gefundenen Sinne ins Neuchinesische zurückübersetzt habe, und denen es dabei wie Schuppen von den Augen fiel. ... Meine Übertragung ist für Leser, nicht für Philologen, für Menschen, die den Geist des Werkes, nicht für Gelehrte, die die Kritik des Buches suchen.“                      



Alexander Ular: Die Politik. Hg. von Martin Buber in der Reihe 'Die Gesellschaft', 1906.

Neu herausgegeben und kommentiert von Gunter Schubert, 2009.

Besprechung:

Eine Untersuchung über die "völkerpsychologischen Bedingungen gesellschaftlicher Organi-sation" nennt Alexander Ular seinen kulturvergleichend angelegten Essay über das Wesen der Politik und ihre Funktion in der modernen Gesellschaft. Was sich in Ulars Text entfaltet, ist jedoch weniger eine Theorie des Politischen als eine allgemeine Kulturtheorie. Bei Ular steht die Politik der Kultur feindlich gegenüber: Sie zwingt den Menschen unter eine oligarchische, autoritäre Herrschaft, die jedoch nichts anderes ist als die Inkarnation seiner ureigenen religiösen Bedürfnisse. Kultur ist gegenüber der Politik subversiv, begehrt gegen ihr Diktat auf und kündet von der individuellen Freiheit. Alle Politik, so Ular, ist Religion, und alle Politik gewordene Religion führt zur Entmündigung des Individuums. In Politik und Gesellschaft Chinas, so Ular, zeigt sich eine neue Zeit.

Gunter Schubert kommentiert den Band von Ular aus einer heutigen politikwissenschaftlichen Sicht und kontrastiert Ulars Thesen mit der historischen Entwicklung Chinas. Nationalismus und Religion, so Schubert, spielen in China bis heute eine Rolle, ihre von Ular vorhergesagte Überwindung ist in dieser Form nicht geschehen - mit entscheidenden Folgen für den Begriff des Politischen.

Zeitschrift für Politikwissenschaft, HR 5.46; NR 5.42, 2.2, 2.68 2009  


Ular als Prophet

ECONOMIC CHINA CONQUERS. Alexander Ular Shows in a Romance European Money Power Overcome.

Special Cable to THE NEW YORK TIMES.
August 02, 1908,
Section PART THREE Special Cable News Section, Page C1, Column , words
BERLIN, Aug. 1. -- " The Yellow Flood" is the name of a so-called race romance just published by the well-known German novelist, Alexander Ular. In it he depicts the coming crucial struggle between China and Europe, but fights it out in the economic instead of the military or naval arena.

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