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Kleine Zeitung

KLEINE ZEITUNG , Wien, vom 3. 8. 2012

Erleuchtung auf dem Berg der Wahrheit

Vor 50 Jahren starb Hermann Hesse. Ein Aufenthalt auf dem Schweizer Monte Verità prägte das Denken des Schriftstellers entscheidend.

Foto © KKHesse auf dem Monte Verità

Montagnola, ein malerischer Ort im Schweizer Tessin. Hier verbrachte Hermann Hesse, meistgelesener und meistübersetzter deutscher Autor des 20. Jahrhunderts, den Großteil seines Lebens. Hier starb er am 9. August 1962.

Wenige Kilometer von Montagnola entfernt, begab sich der junge Hermann Hesse in ein Experimentierfeld der Selbstfindung. Alkoholkrank war er 1907 an den Lago Maggiore gekommen, auf einen Hügel bei Ascona, den man, da die Wahrheit laut mythologischer Überlieferungen immer wieder auf einem Berg verkündet wurde, Monte Verità nannte, Berg der Wahrheit.

Propheten

Ein intellektueller Treffpunkt, ein Gemisch aus Anarchie, Sozialutopie, Lebensreform, Körperreform, Literatur und Kunst, ein Versuchslaboratorium der Alternativen. Entlaufene Bürgersöhne lebten hier, Traumtänzer und Spiritisten, Lumpenproletarier und Sexualimmoralisten. Wir finden Otto Gross, den Grazer Psychoanalytiker und Revolutionär, Leo Dawidowitsch Trotzky, Theosophen, Anthroposophen, Pendelschwinger, Nudisten, die Reformpädagogin Ellen Key sowie Franziska zu Reventlow, eine Vorreiterin der Emanzipation. Ihr Urteil über das Zentrum für ein neues Leben: "Möchte wieder Menschen sehen. Hier gibt's keine, nur Narren und Propheten."

Einer der Propheten war Gusto Gräser, der Mitbegründer des Monte Verità-Projektes, ein Mann mit Bart und langen Haaren, in eine Tunika gekleidet, Sandalen tragend. Die Kinder des Fischerdorfes Ascona fielen vor ihm auf die Knie und bekreuzigten sich, denn sie glaubten, der Heiland wäre ihnen erschienen.

Zu Gräser pilgerte Hesse, nachdem er "den unentbehrlichen, instinktiven Glauben an die Willensfreiheit nahezu verloren" hatte. In Gräsers "Waldgartenwelt" genas er, lebte "nackt und aufmerksam wie ein Hirsch" und kehrte "recht wohlig zu einem sanskülottischen Urzustand zurück".

Gräser sah in Jesus Christus und Friedrich Nietzsche seine geistigen Wegbereiter, denn wie diese statuierte er: Sei du selbst! Später sollte es in Hesses "Demian" heißen: "Wir empfanden einzig dies als Pflicht und Schicksal: dass jeder von uns ganz er selbst werde." "Demian" ist Hesses Monte Verità-Roman und in Max Demian spiegelt sich Gusto Gräser wider. Seine Anstöße wirkten durch Hesse weiter in den Friedens-, Umwelt- und New-Age-Bewegungen späterer Zeiten.

Zauberwelt

Auf Gräser, den "Ghandi des Westens", gehen auch die Wurzeln von Hesses Indien-Mythos zurück. Schon um 1900 wurden Orte der Glückseligkeit im Fernen Osten gesucht, Orte der ewigen Gesundheit und der Jugend. Mehr als sechs Dezennien später tauchten nicht nur die Beatles in die spirituelle Zauberwelt des Subkontinents ein, den Heilbotschaften der Gurus und Yogis lauschend: Erkenne dich selbst durch Meditation!

Aber die utopischen Bilder einer verinnerlichten reinen Welt als Kontrast zur industriellen Zivilisation wurden schon zu Gräsers Zeiten verwässert. In Benzingestank eingehüllt, "flog eine menschliche Gestalt vorüber, ein verzeichneter Christus ... die behaarten Beine nackt und die Sandalen auf den Pedalen eines fauchenden Motorrades", notierte in Ascona der Anarchist, Bohemien und Literat Erich Mühsam. 60 Jahre später hatte das Motorrad einen Markennamen: Harley Davidson.

Mit ihm war der Mythos der "Easy Rider" geboren, getragen von der Musik zum gleichnamigen Film. Das "Born To Be Wild" der Band Steppenwolf stand für den diffusen Exodus junger Menschen aus der Welt ihrer Eltern. Der Name der Band klang fern und gefährlich. Der Namensgeber: Hermann Hesse. Sein Roman "Steppenwolf" wurde von den Blumenkindern Kaliforniens verschlungen, ist er doch von Sehnsucht nach "Leben" getragen.

Experimente

Diese Sehnsucht hatte auch einen "rohkostlich", "gemischtkostlich", "frugivorisch", "vegetarischen" Aspekt. Seine Wurzeln liegen in der Zeit um 1900, als in den USA John Harvey Kellog die Cornflakes "erfand" und in der Schweiz Maximilian Bircher-Benner das "Muesli".

Auf dem Monte Verità, auch einem Zentralort der Ernährungsreformer, verzweifelte der Soziologe Max Weber: "Morgens und abends Vegetarierfrass". Und auch Hermann Hesse ging, zumindest zwischenzeitlich, auf Distanz zu den "Körndlfressern", wie seine Erzählung "Dr. Knölge's Ende" verdeutlicht. Knölge war ein "Gemischtkostler", da er auch gekochtes Gemüse, ja Speisen aus Milch und Eiern zu sich nahm. Damit wurde er zum Gräuel für die wahren Vegetarier, insbesondere für die reinen Rohkostler strenger Observanz. In seiner Satire treibt Hesse das Ideal "Zurück zur Natur" auf die Spitze, wenn Knölge, von einem zum Gorilla zurückgebildeten Naturmenschen erdrosselt, Opfer des atavistischen Experimentes wird, die Evolution rückgängig zu machen.

Für Hermann Hesse war der Aufenthalt auf dem Monte Verità, wie auch Gunnar Decker in seiner neuen exzellenten Hesse-Biografie vermerkt, eine Lehre. Sie sollte ihn künftig zu einem Gegner jeder Ideologie machen, welche Menschheitsbeglückung auf ihren Fahnen hatte.

GERHARD M. DIENES

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Kommentar:

Gerhard M. Dienes ist einer der Wenigen, die am Todestag Hesses an dessen Jüngerschaft zu Gusto Gräser erinnern. Das ist hoch anzuerkennen, denn offensichtlich braucht es Mut, sich zu diesem Faktum zu bekennen. Die Hesse-Biographie von Gunnar Decker hat diesen Mut nicht. Ganz im Gegenteil: der Verfasser tut sein Möglichstes, Gräser aus Leben und Werk von Hesse zu tilgen. Ohne dessen Namen zu nennen, karikiert er die Monteveritaner als fanatische, potenziell sogar „massenmörderische“ Dogmatiker (S. 259) – und stellt damit die Dinge auf den Kopf. Denn wenn etwas den Monte Verità auszeichnete, dann war es gerade seine Offenheit für alle möglichen Denkrichtungen: Darwinismus, Theosophie, Psychoanalyse, Anarchismus, Sozialismus, Anthroposophie, Buddhismus, Taoismus, Dadaismus, Expressionismus undsofort. Und am entschiedensten hat gerade Gusto Gräser jede „Lehre“ verworfen und mit seinem „Hüt Dich vor Mir – Du komm zu Dir!“ auch vor sich selbst gewarnt. Eben darin, in diesem „Nicht-Lehren“ und „Nicht-Meister-sein-wollen“, ist ihm Hesse gefolgt. 

Wenn von den Leugnern dieser großen Freundschaft immer wieder „Dr. Knölges Ende“ als Gegenargument herbeigezerrt wird, dann verschweigen sie, dass in diesem Pamphlet sich Hesse kurzzeitig vom Hohn und Spott seiner Mitwelt in die Knie hat zwingen lassen. „Knölges Ende“ ist das Zeugnis seiner – vorübergehenden! – Kapitulation vor der Macht des öffentlichen Vorurteils. Dass er sich, nach einem Rückzug von mehreren Jahren, 1916 dem Freund erneut in die Arme geworfen hat, dass ihm der mehrfache Kriegsdienstverweigerer in seiner Lebenskrise zur Zuflucht und zum Retter geworden ist, darüber schweigt Gunnar Decker, wie er auch all die Bestätigungen dieses Faktums verschweigt, die ausgewiesene Hesse-Autoritäten wie Josef Mileck und Ralph Freedman schon vor Jahrzehnten erbracht haben. Deckers Biografie ist „herausragend“ nur in dem Sinne, dass er eine wissenschaftlich und populär längst erwiesene Tatsache zu unterdrücken versucht.

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