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Hans Arp (1886 - 1966)


 

Arp im "Ronco dei fiori", Locarno

Arp in Ascona


Oriflamme - Feuerflamme
-
Plastik von Hans Arp vor dem Tagungshaus des Monte Verità in Ascona
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Hans Arp hat in den Jahren 1915 bis 1918 mehr als ein Jahr, also mehr als ein Viertel dieser Zeit, auf dem Monte Verità verbracht. Ascona bedeutete für ihn die wesentliche Wende in seiner künstlerischen Entwicklung. Nachdem er bis dahin geometrische Figuren konstruiert hatte, findet er jetzt zu den Formen der Natur. Die organische oder „biomorphe“ Phase beginnt, die für sein Werk bestimmend blieb.

Im selben Jahr 1917 wandte ich mich vom Problem der Symmetrie bei Holzschnitten und Stickereien ab. Kurze Zeit später fand ich die entscheidenden Formen. In Ascona malte ich mit chinesischer Tusche zerbrochene Zweige, Wurzeln, Gräser und Steine, die der See ans Ufer geworfen hatte. Schließlich vereinfachte ich diese Formen und vereinte ihr Wesentliches in fließenden Ovalen ... Es war der Anfang einer langen Reihe ...                                                                                                                                                                                        Hans Arp

Ein kurzer[1] [?] Asconeser Aufenthalt von Arp und Sophie Taeuber im April 1917 könnte den entscheidenden Wandel ausgelöst haben. ... Demnach wären die organischen Formen erst während eines längeren Aufenthalts auf dem Monte Verità in Arps Schaffen manifest geworden. ... Naturformen, auch das Wechselspiel von Wachsen und Sterben wie im Relief "Pflanzenhammer" oder der "Grablegung" hat Arp als Symbole des Lebendigen seit seinen "Entdeckungen" in Ascona bis an sein Lebensende in unzähligen Variationen abgewandelt.                                                               Hans Bolliger

Arp reiste während seiner ganzen Schweizer Zeit zwischen Zürich und dem Tessin hin und her. Sophie Taeuber fand in Ascona Laban und seine Tänzerinnen wieder, Arp seine Freunde Arthur Segal, Viking Eggeling, Alexej von Jawlensky sowie Otto und Adya van Rees. ... In seinem Buch Into the Twenties erzählt Walter Segal, Arthur Segals Sohn, daß Arp ein kleines Stückchen Land erworben hatte, um Gemüse anzubauen. Sophie und er waren vorübergehend Vegetarier und sympathisierten mit der utopischen Gemeinde des Monte Verità.                                                                        Poley/Hancock

Es kam der Sommer [1916]. Und ein kunstsinniger Architekt finanzierte ihr und ihrer Freundin Katja Wulff eine Ferienreise nach Morcote am Luganer See. … Der „Monte Verità“ war ihr eigentliches Ziel. Die Teilnahme an einem Kurs der „Individualistischen Cooperative vom Monte Verità“ … Sophie und ihre Hamburger Freundin … hatten sich für den Tanzkurs bei Rudolf von Laban entschieden. Das war ein Grund, daß sie hierher kamen.

Ein zweiter, kaum weniger wichtiger, war, daß sie hier die Dadaisten aus Zürich trafen, vorab Hans Arp. … Sie diskutierten viel. Über Nietzsche, Goethe, Konfuzius und die Sufi-Lehren der Derwische. Sie arbeiteten regelmäßig gemeinsam im Garten, lebten vegetarisch, aßen das, was sie ernteten … Sie tanzten barfuß auf dem Rasen, bewegten sich zwischen den Bäumen, um im direkten Kontakt mit der Natur zu sein. … Frei sollten sie werden, befreit von rationalen Hemmungen und Spannungen. … Die Rückkehr zum Elementaren, das war ein Ziel, auch für Sophie Taeuber. …

Gemeinsam fuhren sie im April [1917] nach Ascona, den Sommer verbrachten sie einmal mehr am „Monte Verità“. … Schier unerträglich schien dann die Hitze, der immer – auch in diesem Jahr – der große Regen folgte. Ununterbrochen mehrere Tage lang, so daß die Nässe bis in das Innere der Lufthütten eindrang, die nur für Schönwetter gebaut waren. Sophie versuchte mit Linoleum die Hütte abzudichten und mit Pappe einen kleinen Ofen zu heizen. Später bekamen sie ein wenig Petroleum für eine Lampe. Sie lebte bescheiden wie die anderen, ernährte sich nach wie vor vegetarisch, aß Tomaten, Butter und Eier, Produkte der hiesigen Gemeinschaft.

Von ihrer Hütte aus führte ein kleiner zugewachsener Weg in den Garten vom "Monte Verità". Da "krieche ich jeden Morgen im Tanzkleide zu den Stunden", schrieb Sophie an ihre Freundin Lisa von Ruckteschell. ...

Der „überwachsene  kleine Weg“ führte und führt auch heute noch von der Casa all’Angolo, dem damaligen Hause von Arthur Segal, über Stufen  vorbei am Grundstück der Gebrüder Gräser, hinauf in den Park des Monte Verità, wo Rudolf von Laban seine Tanzübungen abhielt. Aufnahme von 2004 mit Nachkommen von Gusto Gräser und dem Verfasser.

Sophie Taeuber war zum Tanzen auf den „Monte Verità“ gekommen. Aber den Weg, den Rudolf von Laban beschritt, hin zu einer Mystifizierung des Tanzes, konnte sie nicht mitgehen. … Selbst hier am "Monte Verità" arbeitete sie emsig. Am 1. August 1917 schrieb sie an ihre Freundin: „Die Perltasche ist zur Zeit fertig geworden unter großem Stöhnen bei der Hitze, …“ 

Er (Arp) hatte immer viele neue Ideen. Auch in diesem Sommer, in dem er auf einem seiner Spaziergänge plötzlich wieder die Schönheit des Natürlichen entdeckte, der Zweige, der Gräser und Steine, die der See ans Ufer geworfen hatte …                                             Roswitha Mair

Ascona am Lago Maggiore erschien uns wirklich wie ein Ort auf einem anderen Stern. ... Wir waren im Paradies, ohne es zu wissen. ...  Eine Künstlerkolonie hatte sich dort schon gebildet: Eggeling, Segal, Emil Ludwig, Jawlensky mit seiner Marianne von Werefkin. Arp hatte eine Villa. Hugo Ball hatte sich mit Emmy Hennings ebenfalls dorthin zurückgezogen, und Richter tat es für vier Monate im Jahr.        Claire Goll

 
Ich wollte eine andere Ordnung, einen anderen Wert des Menschen in der Natur finden. Er sollte nicht mehr das Maß aller Dinge sein und auch nicht mehr alles auf sein Maß beziehen, sondern im Gegenteil: Alle Dinge und der Mensch sollten wie die Natur sein, ohne Maß. Ich wollte neue Erscheinungsbilder schaffen, neue Formen aus dem Menschen gewinnen.                                                                        

Hans Arp [2]

In Ascona wohnte Arp meist im Hause seines Freundes Arthur Segal, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Monte Verità und zu den Gebrüdern Gräser. Im August 1917 fand vor Gräsers Grotte in den Felsen von Arcegno das sogenannten „Sonnenfest“ von Laban statt. Arp war, wie Hugo Ball, Emmy Hennings, Hans Richter und andere Dadakünstler Zeuge dieses Festes, bei dem seine Freundin Sophie Taeuber als Tänzerin auftrat. Gegen Ende seines Lebens kehrte Arp an diesen Ort seiner Hoch-Zeit zurück. In Locarno-Solduno kaufte er zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Marguerite Arp-Hagenbach ein großes Anwesen mit Garten. Von dessen höchtgelegener Terrasse hatte er den Ort jenes Sonnenfestes, die Felsen von Arcegno und damit die „Pagangrott“ Gusto Gräsers, täglich vor Augen. Ein Foto zeigt ihn sinnend an diesem Platz. Dieses Anwesen ist seit 1988 in die Stiftung "Fondazione Marguerite Arp" überführt und beherbergt einen Teil der Sammlung Hans und Marguerite Arps sowie eine Bibliothek und ein Archiv.




Die Felsen von Arcegno, Schauplatz des Sonnenfestes von 1917, von Locarno her gesehen Hans Arp auf der Terrasse seines Gartens in Locarno

Dada, Mystik, Natur und Laotse

Es folgen einige Zitate zu den Anschauungen von Hans Arp und Hugo Ball während der Zeit ihrer Monte Verità-Aufenthalte. Gefragt wird nach ihrer Verwandtschaft mit den Anschauungen des Monte Verità und insbesondere Gusto Gräsers.

Arp setzte die Naturvorgänge über die Erscheinungen, da er die Natur als eine Kraft idealisierte, die aus sich heraus moralisch und gesund ist. ... Bis zum Ende seines Lebens wiederholte er ohne Unterlass, dass das Böse Resultat des menschlichen Wahnsinns, der Selbstgefälligkeit und der Überbewertung von Vernunft und Logik sei. ... Dieses Streben nach Vereinigung mit der Natur war für Arp die zentrale Erfahrung des Dada. ...

"dada ist für den unsinn, was nicht blödsinn bedeutet. dada ist so sinnlos wie die natur und das leben. dada ist für die natur und gegen die kunst, dada ist unmittelbr wie die natur und will wie die natur jedem ding seinen eigentlichen platz geben." ...

Die Verwendung von Ovalen war für ihn wesentlich. ... Wie Harriet Watts darlegte, hat das Oval Bezug zum Kreis, der ein uraltes Sinnbild für das universelle Ganze ist, und zu dem biologischen Bild der Zellteilung, dem ersten Schritt in der organischen Entwicklung. Das Oval, Arps "Symbol für Metamorphose und körperliches Werden", eignete sich als Form am besten, um sowohl Universalität als auch Wandel gleichzeitig darzustellen. ...

Indem er diese Reliefs, Zeichnungen und Drucke schuf, suchte Arp Erlösung durch Aussöhnung mit der natürlichen Ordnung der Dinge. ...

Während seines ganzen Lebens besass Arp wahrlich eine starke mystische Neigung zu Philosophien, die das Göttliche in der Natur verkünden. Von seiner Kindheit an bis ins hohe Alter las er Jakob Böhme, den Begründer der modernen westlichen Tradition des religiösen Mystizismus aus dem 17. Jahrhundert. An den Dada-Abenden, die 1917 veranstaltet wurden, las Arp aus Böhmes Aurora. ...

Die Romantiker waren zeitlebens Arps Lieblingsautoren ... Beeinflusst durch die Romantiker lehnte Arp die Logik zugunsten eines intuitiven Verständnisses für die natürliche Welt ab. ... Arp sah die Natur als ein Mittel ausserhalb der normalen Vernunft, um zu wahrem Frieden und Verständigung zu gelangen: irrationale, ursprüngliche, demütige Natur war ein Gegenpol zu exzessiver Vernunft und Stolz. ...

In den irdischen Formen hob er die Natur hervor als Norm für vollkommene geistige Harmonie und akzeptierte das Fliessende und die Unregelmässigkeit als permanente Voraussetzungen der allumfassenden Kraft der Natur. Arps Bemühen, die Kunst auf geistige Ziele zu richten, bildete innerhalb des Züricher Dada eine idealistische und optimistische Richtung.

                                                     (Poley/Hancock 65-67)

Guenther Rimbach called the mystic desire "the dominant part of Arp's personality". ... Hans Arp, who did a series of illustrations for an edition of the Bhagavad Gita in 1914, claimed that the Zurich Dadaists took Mandalas for their models and stated:

Der strahlende Glanz der mystischen Dichtungen zog uns an, in denen der Mensch von Freuden und Leiden befreit wird. Es war der "unbekümmerte Grund", wie Tauler ihn nannte, nachdem wir uns sehnten. 

Huelsenbeck recorded that Arp was especially attracted to the pre-Socratic philosophers and in Otto Flake's roman à clé about Zurich Dada, Nein und Ja (No and Yes) (1920), the fictional Arp is presented as a devotee of Jakob Boehme (1574-1624) and the Taoist sage Lao Tzu. In the same novel, Puck (Hugo Ball) reads out Chapter XXIX of the Taoist classic the Tao Te Ching (The Book of Virtue and the Way) to Lisbao (Tristan Tzara) and Hans (Arp).

 (Sheppard 92-94)

Genug der Zitate! Nun - wie lautet denn der 29. Spruch des Laotse, wie beginnt er? Wenn Ball aus der damals gängigen Übersetzung von Richard Wilhelm vorgelesen hat, dann hätte er so gesprochen:

Die Welt erobern und behandeln wollen,
ich habe erlebt, dass das misslingt.
Die Welt ist ein geistiges Ding,
das man nicht behandeln darf.
Wer sie behandelt, verdirbt sie,
wer sie festhalten will, verliert sie. ...

Wenn er aber aus Gräsers Nachdichtung vorgelesen hat, dann begann der Spruch so:

Gemeinschaft mit Gesetzen leiten?
Nein, Kinder, nimmermehr!
Gesetze zersetzen, Starrheit zerstört die Gemeinde.
Gemeinschaftleib, wie unser Leib -
er gedeiht, wenn die Glieder beschaffen dürfen, was Leibes Bedarf -
was im Bund der Eingeweide erfühlt, und bei Herz und Hirn, dem
geweihten Paare, erkannt wird, und immer neu erkannt.
So kann leibhaftige Ordnung gedeihn. ...

Es ist klar, wer hier das anarchische, das antinomische Denken der Dadaisten ausspricht und anspricht. Im Unterschied zu den nebelhaften Allgemeinheiten, wie die Übersetzung von Wilhelm sie darbietet, gibt Gräser eine klare und konkrete politische Deutung, eine Deutung, die ganz im Sinne von Ball gewesen sein muss, dem damals die Verbindung von Religion und Revolution besonders am Herzen lag.

The connection between mysticism and radical politics exercised Ball for many years, and in 1918 he was mildly critical of Arp for not making the same connection:

„Begierig bin ich, neue Arbeiten von Arp zu sehen. Wenn er sich nur überzeugen würde, dass die deutsche Mystik staatsfeindlich und antiprofan ist.“

So Sheppard (ebd.94). Gräsers Mystik war sicher staatsfeindlich, zumindest staatskritisch, und seine Wiedergabe der Sprüche des weisen Chinesen auch. Wie sollte, da Arp, Richter und Gräser auf dem Monte Verità zusammenwohnten, da Mary Wigman sowohl mit Arp wie mit Gräser befreundet war (wenigstens das ist überliefert!), wie sollte Gräsers Nachdichtung nicht in die Hände der Dadaisten gelangt sein? Hier war doch einer, der aussprach, was sie bewegte, und der ein Beispiel taoistischen und damit antinomistischen Lebens gab! Wenn Arp und Sophie Taeuber in ihrer Lufthütte des Sanatoriums hausten (und sie haben zwischen 1915 und 18 länger als ein Jahr sich dort aufgehalten), dann sahen sie ständig zu ihren Füßen, unmittelbar angrenzend, das tiefer gelegene Grundstück von Karl und Gusto Gräser.




Die Casa all’Angolo auf dem Monte Verità, Wohnung des Malers Arthur Segal und seiner Gäste Hans Arp und Sophie Taeuber zwischen 1915 und 1920 Blick vom Park der Naturheilanstalt auf das Haus der Gebrüder Gräser

Wie sollten nicht seine acht Kinder in Kontakt gekommen sein mit den nebenan Wohnenden, wie sollte nicht ein Gespräch über den Zaun stattgefunden haben zwischen den Nachbarn - Bildhauer beide und Dichter und Kriegsfeinde? Die Arps konnten dem Siebenbürger gar nicht aus dem Wege gehen, und sie wollten es wohl auch nicht, sonst hätten sie sich nicht an diesem Platze angesiedelt. Ganz im Gegenteil: sie haben offenbar seine Nähe gesucht und seiner Lebensart sich angenähert: spartanisch lebend, vegetarisch sich ernährend, den eigenen Garten bearbeitend. Und Laotse lesend, in seine Weisheit sich vertiefend.

Sheppard fällt auf, dass das Interesse für Mystik im allgemeinen und für Laotse im besonderen eine Eigenheit von Dada Zürich ist. "As will have been noticed, the interest is not uniformly present: it does not seem to characterize New York Dada or the work of Picabia or Cologne Dada or Paris Dada to any great extent" (ebd. 98). Dagegen:

The Eastern writers which held the profoundest and most consistent significance for Dada were undoubtedly the Taoist sages Lao Tzu and Chuang Tzu. There is, for example, a clear analogy between Dada's vision of reality as an unending process and the Taoist concept of Tao (Way) which flows freely, mysteriously and indifferently as the creative ground of all things. (Ebd. 105)

Götz-Lothar Darsow über die Gedankenwelt von Arp:

93  Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Mystik faszinierte die Zürcher Dadaisten während des Ersten Weltkriegs – insbesondere Hans Arp. Diese Faszination hat tiefe Spuren in seinemn künstlerischen Verfahren und damit im Werk hinterlassen. „Der strahlende Glanz der mystischen Dichtung zog uns an“, erinnerte er sich später, „in denen der Mensch von Freuden und Leiden befreit wird. Es war der ‚unverkümmerte Grund’, wie Tauler ihn nannte, nach dem wir uns sehnten.“ …

Das Geschehen-Lassen in einem quasi jungfräulichen Zustand wurde als Voraussetzung für unkorrumpierte schöpferische Arbeit gesucht. …

 Nietzsches Philosophie, insbesondere ‚Also sprach Zarathustra’ scheint denn auch eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen bei der Fokussierung der Kategorie Zufall in Arps Verfahren. So verkündet Zarathustra: „Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ‚Über allen

94  Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut.“ Und er gibt die Parole aus: „Bei allem ist eins unmöglich – Vernünftigkeit!“ Denn er fand „in allen Dingen: daß sie lieber noch auf den Füßen des Zufalls – tanzen. / O Himmel über mir, du Reiner! […] – und daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler! – „

„Zufall“ ist für Arp die zentrale Kategorie seines künstlerischen Verfahrens; „Unschuld“ sucht er als Befreiung von historischem Ballast …

In: Kunstmuseum Basel (Hg.): Schwitters Arp. Basel 2004.

Nietzsches Zarathustra war ein Leitbild für die Monteveritani, mit Sicherheit für Gräser, der selbst von Zeitgenossen als eine Verkörperung Zarathustras gesehen und bezeichnet wurde. Man erinnere sich nur, welche Bedeutung Nietzsche-Zarathustra für die mit Gräser befreundete Mary Wigman hatte: sie tanzte ihn! Hesse schrieb, nachdem er um die Jahreswende 1918/19 Gräsers TAO-Dichtung erhalten hatte, die bekennerische Flugschrift ‚Zarathustras Wiederkehr’. Er meinte damit die Wiederkehr Gräsers nach Deutschland.

Kurz: Nietzsches Zarathustra-Buch war, neben Laotse, der Gita und den deutschen Mystikern, eine der „Bibeln“ auf dem Monte Verità. Und ein Arp kam und schuf aus dem Himmel Zufall, dem Himmel Ohngefähr, dem Himmel Übermut. Dieser Spielmut, die Chaostiefe der Mystik und die organische Rundheit – Ovalität – der Natur: sie machen die Grundstruktur seines Werks und seines Wesens aus.

Im Praktischen und Konkreten noch eindrücklicher muss aber für Arp die Maschinenfeindschaft von Gräser gewesen sein, sein Kampf gegen die „Zukopfgestiegenheit“ unserer Kultur, seine radikale Verwerfung dieser Kultur überhaupt. Man könnte auf Gräser beziehen oder von Gräser herleiten, als eine Variation seines Dichtens und Denkens, was bei Arp so lautet:

„er ist gegen die maschinenzentauren … nur fort fort aus dem land der zerhirner … gegen die maschinenbesessenheit … die lügenuniversitäten … „ (in Poley/Hancock 31).

Maschine und Krieg – Gräser sieht sie zusammen in einem Gedicht, das er 1918 vervielfältigen ließ. Arp könnte es in der Hand gehabt haben:

Kamerad, o Kamerad – mit Maschienen kampeln?
In der Totentanzparad an dem Mammonarchendraht
als Kriegspuppe hampeln?
Du auch?! – Ha, der schmerzt, der Dorn. –
Hah ha, lache, lach, mein Zorn! …

*

Was, ihr Herren Hirnverbrannten, Reflektanten, Spekulanten …
Was – Wissen ist Macht? – Ja, im Totenreich, Ihr hirnvernarrtes Zwerggekreuch,
im Wust des Bewussten befangen …

*

Dies ist der Mörder: Macht ist sein Stern – Unmacht,
das ist sein Zeichen. König ist er der Knechtleherrn,
der geschäftigen Leichen. 
Hochverehrt braut er ganz commod mit Kultur
allem Menschsein Tod.
Bist auch Du sein devoter, untertänigster Toter?

*

Das „Kulturglück“, elend zahm, lass dressierten Mördern –
auf, solang noch glüht die Scham, als der Wildnis Bräutigam
Edeles zu fördern!

(Winke zur Genesung unsres Lebens, Ascona 1918) 

In solcher Haltung und Gesinnung gingen Arp und Gräser zweifellos Seit an Seit.


Pforte zum "Ronco dei fiori" von Arp und Hagenbach
Heute Sitz der "Fondazione Marguerite Arp"

Aufnahme von Rainer Hüben


Quellen und Zitate zu Hans Arp

Arp, Hans

Ich bin in der Natur geboren: ausgewählte Gedichte. Hrsg. von Hans Bolliger. Zürich: Arche, 1986.

 

97   Ich bin für die Atompilzzüchter sowieso verloren.
Für sie gehöre ich zu den Hoffnungslosen
die aus den letzten altertümlichen Klausen kommen
die noch auf dem Erdboden gebaut worden sind.
Die atheistischen Krokodile
werden zinnoberrot vor Wut
wenn  sie so einen hoffnungslos Zurückgebliebenen
wie mich antreffen. ...

60  ich bin in der natur geboren. ich bin in strassburg geboren. ich bin in einer wolke geboren. ich bin in einer pumpe geboren. ich bin in einem rock geboren.

ich habe vier naturen. ich habe zwei dinge. ich habe fünf sinne. sinn ist ein unding. natur ist unsinn. platz da für die natur da. die natur ist ein weisser adler. platz da für die natur da. ...

61  dada ist für den unsinn das bedeutet nicht blödsinn. dada ist unsinnig wie die natur und das leben. dada st für die natur und gegen die kunst. dada will wie die natur jedem ding seinen wesentlichen platz geben.

 

87   Ein Träumer trägt unter seinen Armen Berge fort.

Wochenlang verirrt er sich in ihren Wäldern und erlebt in ihnen wundersame Begegnungen.

Traumpuppen, das getreue Abbild des Träumers, folgen dem Träumer und tragen, genau wie er, Berge unter ihren Armen fort. ...

 

82 f. Mit Mühe kann ich mich an den Unterschied
zwischen einem Palast und einem Nest erinnern.
Ein Nest und ein Palast sind von gleicher Pracht.
In der Blume glüht schon der Stern.
Dieses Vermengen, Verweben, Auflösen, dieses
Aufheben der Grenzen ist der Weg,
der zum Wesentlichen führt.
Wie Wolken treiben die Gestalten der Welt ineinander.
Je inniger sie sich vereinigen,
umso näher sind sie dem Wesen der Welt.
Wenn das Körperliche vergeht,
erstrahlt das Wesentliche.
Ich träume von dem fliegenden Schädel ...
Ich träume von innen und aussen, von oben
und unten, von hier und dort, von heute und morgen.

Und innen, aussen, oben, unten, hier, dort, heute, morgen vermengen sich, verweben sich, lösen sich auf.

Dieses Aufheben der Grenzen ist der Weg, der zum Wesentlichen führt.

Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp (Hg.)

Hans Arp. Sophie Taeuber-Arp. Ostfildern-Ruit: Hatje, 1996.

 

13  Es ist denkbar, das Ei, den Nabel, die Amphore, den Wald, den Vogel, die Wolken und Sterne etc. einem Bedeutungsfeld von Ursprung und Kosmos zuzuordnen. Fruchtbarkeit, Wachsen. Metamorphosen sorgen für den Übergang von einem zum anderen. Aber im Vergleich zu Paul Klee, der sehr ähnliche Motivkreise behandelt hat, behalten die Werke Arps etwas Lapidares und Unmittelbares.

17 Jenseits der alten Bindungen hat Arp einen Vorschlag in die künstlerische Wirklichkeit umgesetzt, der Poesie als wesentliche Kraft und die Gelassenheit der Formen als Symbol eines tragenden Seins zur Geltung gebracht hat. (Siegfried Gohr)

20 Diese für Arps künstlerische Praxis grundlegende Haltung einer Zurücknahme der Individualität ... Arp beklagt darin die Auswüchse des neuzeitlichen Individualismus, spricht indirekt ein Lob auf die mittelalterliche Namenlosigkeit aus und kommt zu dem Schluss: "Die Kunst aber ist Wirklichkeit, und die gemeinsame Wirklichkeit muss über dem Besonderen laut werden."

27 das Ideal der Gemeinsamkeit ... Stärkung des Werkgedankens ... 

28 ... dass Arp als eine Leitfigur der Moderne in der Kunstgeschichtsschreibung nur solange die Rolle eines Aussenseiters spielt, solange die von ihm gemeinsam mit anderen Kollegen praktizierte Kunst der Kooperation nicht als eine wesentliche Struktur seines künstlerischen Schaffens erkannt wird.  (Stefan Gronert)

214 Dada ist der Urgrund aller Kunst.- Dada ist für den "Ohne-Sinn" der Kunst, was nicht Unsinn bedeutet. Dada ist ohne Sinn wie die Natur. Dada ist für die Natur und gegen die Kunst. ... Das Leben ist für den Dadaisten der Sinn der Kunst. Die Kunst kann die Mittel missverstehen und statt begrenzter Mittel unendliche Mittel anwenden. Dannn wird nur Leben, nur Natur vorgetäuscht, statt Leben zu erschaffen....

218 Übermaschinen, Fortschrittler, Überrunder, Überroboter, Atompilzzüchter ... auf dem Höhepunkt der Zivilisationskritik wie in "Sinnende Flammen" ...

244  1914 ... Angeregt durch Kandinsky widmet er sich intensiv dem Studium der Mystiker. (Walburga Krupp)

Bolliger, Hans u, a. (Hg.)

Dada in Zürich. Kunsthaus Zürich und Arche Verlag, Zürich 1985.

Kunstmuseum Basel (Hg.)

Schwitters Arp. Basel 2004.

Kunstmuseum

93     Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Mystik faszinierte die Zürcher Dadaisten während des Ersten Weltkriegs – insbesondere Hans Arp. Diese Faszination hat tiefe Spuren in seinem künstlerischen Verfahren und damit im Werk hinterlassen. „Der strahlende Glanz der mystischen Dichtung zog uns an“, erinnerte er sich später, „in denen der Mensch von Freuden und Leiden befreit wird. Es war der ‚unverkümmerte Grund’, wie Tauler ihn nannte, nach dem wir uns sehnten.“ …

Das Geschehen-Lassen in einem quasi jungfräulichen Zustand wurde als Voraussetzung für unkorrumpierte schöpferische Arbeit gesucht. …

Nietzsches Philosophie, insbesondere ‚Also sprach Zarathustra’ scheint denn auch eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen bei der Fokussierung der Kategorie Zufall in Arps Verfahren. So verkündet Zarathustra: „Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ‚Über allen

94  Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut.“ Und er gibt die Parole aus: „Bei allem ist eins unmöglich – Vernünftigkeit!“ Denn er fand „in allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füßen des Zufalls – tanzen. / O Himmel über mir, du Reiner! […] – und daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler! – „

„Zufall“ ist für Arp die zentrale Kategorie seines künstlerischen Verfahrens; „Unschuld“ sucht er als Befreiung von historischem Ballast …

(Götz-Lothar Darsow)

234   Während eines Aufenthalts am Lago Maggiore weckt das dort gefundene Schwemmgut Arps Interesse an biomorphen Formen.

Mair, Roswitha

Von ihren Träumen sprach sie nie. Das Leben der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp. Romanbiographie. Herder, Freiburg im Breisgau 1998.

Museum of Modern Art (Hg.)

Jean/Hans Arp (1886-1968). 100th Anniversary of his Birth. 1985.

Museum Würth (Hg.)

Arp. Künzelsau: Museum Würth/Thorbecke, 1994.

S. 16 Foto Ascona 1950; S. 225 MV

 

Umschlag, Rückseite:

Ich wollte eine andere Ordnung, einen anderen Wert des Menschen in der Natur finden. Er sollte nicht mehr das Maß aller Dinge sein und auch nicht mehr alles auf sein Maß beziehen, sondern im Gegenteil: Alle Dinge und der Mensch sollten wie die Natur sein, ohne Maß. Ich wollte neue Erscheinungsbilder schaffen, neue Formen aus dem Menschen gewinnen.

Hancock, Jane und Poley,Stefanie (Hg.)

Arp, 1886 - 1966. Stuttgart: Hatje, 1986.

Schrott, Raoul

DADA 15/25. Dokumentation und chronologischer Überblick zu Tzara & Co. Verlag Dumont, Köln 2004.

Schuhmann,Klaus (Hg.)

Sankt Ziegensack springt aus dem Ei. Texte, Bilder und Dokumente zum Dadaismus in Zürich, Berlin, Hannover und Köln. Leipzig: Kiepenheuer, 1991.

Stark, Michael (Hg.)

Impertinenter Expressionismus. Texte von Hugo Kersten. Akademischer Verlag, Stuttgart 1980.



[1]  Dieser Aufenthalt dauerte drei Monate, von April bis August 1917! Die irreführende Angabe von Bolliger scheint bezeichnend für das durchgehende Bestreben der Dada-Historiker, Verbindungen zu Ascona herunterzuspielen – wenn sie schon nicht zu leugnen sind. So wird in dem dickleibigen Band von Hubert van den Berg über ‚Dada in Zürich und Berlin’ (so der Untertitel) Ascona nur dreimal und ohne nähere Angaben erwähnt

 [2]  Zitiert in Museum Würth (Hg.): Arp. Künzelsau 1994, auf der Rückseite des Umschlags.

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