Zurück  Ernst Bloch in Ascona
Zum Hintergrund von 'Geist der Utopie'



 

Villa Neugeboren in Monti della Trinità sopra Locarno im Jahr 2007
 


Inhalt
  1. Überblick
  2. Zusammenfassung
  3. Auszug nach Locarno
  4. Worte
  5. "Doppelt unterwegs fürs Licht" - Ein Sprachvergleich Gusto Gräser - Ernst Bloch
  6. Güte der Seele, Dämonie des Lichts - Ernst Bloch begegnet Gusto Gräser
    1. Der Sturz des Parakleten
    2. "Paraklet" und "Erdsternsohn"
    3. Zu Datierung und Entstehung
    4. "Das Amulett des nackten Herzens" - Worte aus dem Schweizer Exil
    5. Bild eines dionysischen Heiligen
  7. Quellennachweis
  8. Literaturquellen


   


1. Überblick

Er will den mechanischen Webstuhl zugleich mit der Kanone in ein Museum verderblicher Erfindungen stellen. Das eigentliche Ziel der Westkultur sei Abwasch-barkeit: Badezimmer und Klosett. Gegen die kapitalistische Abirrung und das Apriori der Maschinenware setzt er auf Handwerk, Bauerntum und einen neuen spirituellen Adel. Er setzt auf die Brüdergemeinde, auf das dritte Reich der Seele, auf die Gärtner des geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll.

Ein Maschinenstürmer? Ein Ökofanatiker? Ein schwärmerischer Esoteriker? – Nein, Ernst Bloch im Jahre 1917 in Locarno-Ascona.

Er ist vor dem Kriegsdienst aus Deutschland geflüchtet, will eine Abhandlung über die pazifistische Utopie des Monte Verità schreiben, wohnt in Locarno im Hause der Gusto Gräser-Jüngerin Albine Neugeboren. Dort schreibt er sein erstes Buch "Geist der Utopie" zu Ende, in dem er die oben genannten Meinungen von sich gibt. Offensichtlich steht er unter dem Einfluss des Monte Verità, genauer gesagt, unter dem von Gusto Gräser.

Für eine Begegnung und Auseinandersetzung Ernst Blochs mit Gusto Gräser sprechen folgende Gesichtspunkte:

1. Bloch emigrierte im März 1917 nach Locarno und blieb dort bis September. Er wohnte in dem Gräser und Hesse sehr nahe verbundenen Hause Neugeboren in Monti della Trinità.

2. Er kam mit dem (von ihm selbst bestellten) Auftrag, über "pazifistische Utopien in der Schweiz" zu schreiben. Dass dieser Auftrag auf den Monte Verità zielte, eine Siedlung des utopischen Sozialismus, ergibt sich schon aus der Themastellung, aber auch vom Auftraggeber her. Denn er kam aus dem Heidelberger Max Weber-Kreis, und Weber hatte sich 1913 und 1914 in Ascona aufgehalten, kannte die Kolonie sehr wohl. Er hatte dort ein Beispiel „akosmistischer Brüderlichkeit“ erlebt, das sein Denken tief beeinflusste. Bloch musste sich aber ohnehin, von seiner politischen Einstellung her, für den Monte Verità interessieren.

3. Wenn der Monte Verità das Ziel seines Forschungsauftrages und seiner persönlichen Interessen war, dann konnte er an Gräser, dem radikalsten und konsequentesten Verteter der Monte Verità-Idee, nicht vorbeigehen.

4. Bloch teilte damals den mystisch-utopischen Sozialismus von Landauer und Gräser (oder wandte sich jetzt ihm zu): Nicht Diktatur des Proletariats sondern die bäuerlich-handwerklich und dezentral gedachte "Brüdergemeinde" war das Ziel – genossenschaftlicher Gemeindesozialismus, nicht autoritärer Staatssozialismus. Die Vorstellungen der Gebrüder Gräser orientierten sich an den Entwürfen des französischen Sozialreformers Charles Fourier.

5. In einem biographisch zu nehmenden Abschnitt von Hesses 'Demian' wird der Kreis um Gräser-Demian geschildert. Die dort von einem Gelehrten mit religions-geschichtlichen Interessen vertretene Meinung, dass "der ganze Besitz der bisherigen Menschheit an Idealen aus Träumen der unbewußten Seele bestand, aus Träumen, in welchen die Menschheit tastend den Ahnungen ihrer Zukunftsmöglichkeiten nachging" (Hesse, GW V, 143; meine Hervorhebung), bezeichnet genau die Auffassung von Bloch. Man war also im Gespräch: Gräser, Hesse und Bloch.

6. Bestimmte Teile von 'Geist der Utopie' sind in Locarno niedergeschrieben worden. Das geht aus seiner eigenen Angabe ("abgeschlossen Mai 1917") wie auch aus seinem Hinweis auf die Emigrantensituation "im Ausland" (Bloch, GA XVI, 8 und 295) hervor.

7. Ebenfalls 1917, wie 'Geist der Utopie', entsteht der Aufsatz 'Die Güte der Seele und die Dämonie des Lichts', der in der Betrachtung 'Über den sittlichen und geistigen Führer ...' seine inhaltliche Fortsetzung findet. In diesen sehr persönlichen Meditationen geht es Bloch offensichtlich darum, seinen eigenen Weg als Philosoph und Theoretiker gegen den moralischen Anspruch einer franziskanischen Existenz zu rechtfertigen. Die "dianoëtische" Tugend des Theoretikers stehe gleichwertig neben der ethischen Tugend des Mannes der sittlichen Tat. Welcher Mann der sittlichen Tat gemeint ist, ergibt sich aus der Situation: Bloch trifft auf einen Menschen, der den Kriegsdienst offen und unter Todesdrohung verweigert hat, während er selbst sich einem solchen Bekenntnis durch ein Gefälligkeitsattest von Karl Jaspers entzog.

8. Bloch ist hinundhergerissen. Einerseits schwärmt er für das "Evangelium der Nicht-Gewalt" (Kampf 234), entscheidet sich aber letztlich doch gegen das "Amulett des nackten Herzens" (ebd. 315). "Man muß Mächte ausspielen, wo Mächte herrschen, weil die bösen Mächte nicht das Tao ... sondern bloß wieder Kanonen begreifen" (ebd. 484). Gräser, der TAO-Verehrer und Apostel der Nicht-Gewalt, arbeitete damals an seiner Nachdichtung des 'Tao Te King' von Laotse.

9. Nach 1920 finden sich bei Bloch heftige Ausfälle gegen die "siedlerischen Nichtskönner" (GdU II, 12) mit ihren "privaten Idyllen und nichts durchbohrenden Träumereien" (ebd. 305), Ausfälle, deren emotionaler Ton auf persönliche Erfahrung verweist. Seine Einstellung zur konkreten Utopie der Siedler hat sich zwischen 1917 und 1923 offensichtlich gewandelt. Ablehnung ihrer Praxis und Ideologie wie bleibende Anerkennung ihrer religiösen Motivation erhellen aus dem folgenden Passus:
Die Wirtschaft ist hier (bei Marx) aufgehoben, aber die Seele, der Glaube fehlen ... ; der tätige, kluge Blick hat alles zerstört, gewiß auch vieles mit Recht zerstört, all die privaten Idyllen und nichts durchbohrenden Träumereien der Siedler und Sezessionisten des Sozialismus, die für sich eine schöne Nebenerde aus dem Besten der Welt herausdestillieren wollten ... : gewiß auch wurde der allzu arkadische, der abstrakt-utopische Sozialismus mit Grund desavouiert ... Aber damit ist weder die utopische Tendenz in all diesem begriffen noch die Substanz ihrer Wunderbilder getroffen und gerichtet noch gar der religiöse Urwunsch verabschiedet, als welcher durchaus, in allen Bewegungen und Zielen des Weltumbaus, dem Leben Raum schaffen wollte ...  (GdU II, 305; meine Hervorhebung, H. M.).

10. Zu seiner Abwendung von den sezessionistischen Siedlern gehört seine Wendung von einem romantischen Antiindustrialismus zur Verherrlichung zentralistischer Technokratie. "In den nach 1918/19 entstandenen Aufsätzen und Werken hat sich Bloch immer deutlicher von der antiindustriellen bukolischen Tendenz seines mystischen Sozialismus losgesagt" (Christen 241). Die Zukunft sieht er nun, wie Anton F. Christen zitiert und kommentiert, "in Marxens ehrlichem Willen zum Rad, in der strengen Energie seines Industrialismus, in der Ablehnung alles Siedlungs-haften, Kleinbäuerlichen, Abgelaufenen (so abgelaufen war das für Bloch selber unlängst noch gar nicht! Anm. von mir, Tch.), Proudhonhaften, Romantischen im Postulat der Durchseelung (eben gerade das, was Bloch ursprünglich wollte! Anm. von mir, Tch.)." (Christen 260)

11. In seiner späten Schrift 'Atheismus im Christentum' kehrt Bloch, nach langen stalinistischen Irr- und Umwegen, zu seinen Anfängen zurück. Im Bilde der langhaarigen, bärtigen, wildgewandeten Ketzer-Propheten des Alten Testaments, die er ausdrücklich als "Naturmenschen" bezeichnet, arbeitet Bloch zugleich ein Stück eigener Erfahrung in neuer Bewertung auf. (Gusto Gräser war um die Zeit des Ersten Weltkriegs als "der Naturmensch" allgemein bekannt.)

12. Es ist nicht auszuschließen – und manche Indizien sprechen dafür - , dass Bloch Gräser schon kannte, bevor er nach Ascona kam. Er könnte ihn 1905/6 im Bohème-Milieu Schwabings kennengelernt haben, wo Gräser nicht zu übersehen war. Da ihn alles Antibürgerliche anzog, konnte er an diesem exemplarischen Außenseiter schwerlich vorübergehen.

2. Zusammenfassung:


Nicht wie Jesus sein zu wollen, galt Bloch noch 1917 als die Ursünde schlechthin. Sein theoretischer Messianismus sollte den Propheten, den praktischen Messianismus, vorbereiten. Das Reich dieses Propheten lag für ihn in der Gegend eines pazifistischen, genossenschaftlichen Gemeindesozialismus, wie er theoretisch von Landauer entworfen, praktisch auf Monte Verità von den Gebrüdern Gräser zu verwirklichen versucht wurde. Die Entwicklung sowohl seines philosophisch-religiösen wie seines politischen (antipreußischen, antiautoritären, pazifistisch-sozialistischen) Denkens führte Bloch daher im Kriegsjahr 1917 logischerweise auf den "Berg der Wahrheit".

Der Anblick der prophetischen Praxis erschreckt ihn jedoch zutiefst: Weder die geforderte Armut noch die geforderte Gewaltlosigkeit kann oder will er leisten. Er versucht seine moralische Selbstachtung zu retten, indem er die dianoëtische Tugend des Theoretikers (d. h. seine schriftstellerische Existenz) der sittlichen Tat einer jesuanischen Existenz für gleichwertig erklärt.

Dieser Selbstrettungsversuch kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Ablehnung prophetischer Praxis sein religiös gemeintes System zusammenbricht. Bloch wird vom Paulus zum Saulus: An die Stelle eines brüderlich-libertären Gemeindesozialismus tritt der technisch-zentralistische Staatssozialismus, an die Stelle eines landauerisch-gräserisch gesehenen Jesusbildes tritt Stalin als die neue "Lichtgestalt".
 
Dennoch erhält sich in seinem Denken der religiöse Urwunsch, der mystisch-mythische Wärmestrom, der rebellische Geist und sein unbeirrbarer Traum des utopischen Noch-nicht – Elemente, die Bloch ins Eismeer des orthodoxen Marxismus einzubringen versucht hat. Es sind diejenigen Elemente und Impulse, die ihn mit dem Monte Verità verbinden, und sie sind – wenn sie nicht überhaupt schon von Gräser herstammen – durch diesen zumindest bestätigt und bestärkt worden.
 




Blick von der Terrasse der Villa Neugeboren auf den Lago Maggiore
 und den Monte Verità
 



3. Auszug nach Locarno




Zwei Karten an seinen Freund Georg Lukács, im Abstand  von drei Monaten geschrieben, belegen Blochs Aufenthalt in Locarno-Monti:

(1)
                                                                             [München,] 13. 3. [19]17

Lieber Djoury!

Du kannst beruhigt sein, die Bücher gehören mir. Nicht umsonst hast Du sie von meinem Regal weg Gutermann gegeben, sie stehen auch in der Buchhändlerrechnung verzeichnet, in der ich unterdes nachgesehen habe. Elses: "ich weiß nicht" war ein flüchtiger Zweifel, den sie selbst kurze Zeit danach behoben hat. Nur bitte ich Dich, da wir diesen Samstag nach Locarno fahren, die Bücher noch bei Dir zu behalten und für mich zurechtzulegen. Dagegen wäre ich Dir sehr dankbar, wenn Du die Neue Rundschau, in der mein Nachruf auf Lipps steht, an Herrn Dr. Konrad K. Düssel, Stuttgart, Neues Stuttgarter Tageblatt, schicken wolltest.

Herzlich dankend und grüßend!
Ernst 

Leider war es mir nicht möglich, da bisher jeder Tag mit Reisevorbereitung, Paß, M[anu]skriptzensur ausgefüllt war, Dein M[anu]skript in Ruhe zu lesen. Ich schicke es also zurück und muß auf den Logos warten.


(2)

                  Monti della Trinità  (Tessin, Schweiz) 20. 6.  [19]17                                                                                                                      

Lieber Djoury, seit ich weg bin, habe ich nichts mehr von Dir gehört. Wie geht es? Ist das Ästhetische im "Logos" erschienen? Bitte schick es mir dann baldigst zu. Könnte etwa der Mann, der "ebenfalls" Husserl und Steiner verbinden will, mein Buch im "Reich" besprechen? Nach einigen vorherigen Tips? Oder weißt Du sonst jemanden? Es wird in einigen Wochen erscheinen; im Aushängebogen wird es Dir vorher schon vom Verlag zugehen. Schreibe bald. Grüße Ljena [Grabenko].

                         Dein Ernst 

(Ernst Bloch, Briefe 1903-1975. Frankfurt/M. 1985, Band I, S. 191 und 192. Hervorhebungen von mir, H. M.)


Wie der zweite Brief zeigt, lässt Bloch zu dieser Zeit - gegen Ende Juni - noch keine Absicht erkennen, von Locarno wegzuziehen. Er blieb dort bis in den September 1917.

Die Briefe von Bloch an Georg Lukács waren jahrzehntelang verschollen, sie wurden erst Mitte der siebziger Jahre im Safe einer Heidelberger Bank entdeckt. Jahre vorher schon, um 1970, also ohne Kenntnis dieser Dokumente, hatte mir Hildegard Jung, geborene Neugeboren, erzählt, dass Ernst Bloch mit seiner Frau Gast in ihrem Hause gewesen sei. Die junge Hildegard Neugeboren war 1914 die alleinige Bewohnerin des großen Anwesens in Monti. Sie lud erst Hermann Hesse, dann andere pazifistisch gesinnte Schriftsteller in ihr Haus, unter ihnen Klabund und Ernst Bloch mit ihren Frauen. Sie konnte sich noch erinnern, dass Bloch eine Wand zum Schlafzimmer seiner Frau durchbrechen ließ, um immer Blickkontakt zu der Kranken zu haben.









4. Worte

So ist dieses das metaphysische Grundphänomen wahrhafter Liebe: dass sie den Liebenden gänzlich in dem Nächsten leben lässt, ohne seine Seele oder die des Geliebten anders als zu ihrem Heil, zum Heil dieser Seelen aufzuheben, zu dem bewahrten Und und Um uns, zu jener Spannung in Jesus, zu jener Vielheit im Einen, die das Menschenhaupt braucht, um Weinstock zu sein und dereinstiger blühender Spiegelglanz himmlischer Monadologie. (U 359f.)

Inundumuns

In 'Geist der Utopie' stolpert der Leser über eine Wortreihung, die stutzen macht: das "Und und Um uns". Schon lautlich bringt das ins Stolpern, aber gedanklich erst recht. Was soll das heißen: Ein großgeschriebenes (!) "Und und Um uns", das gleichgesetzt wird mit dem Heil der Seelen (U 359)? Ein blasphemischer Zungenbrecher oder einfach ein Druckfehler? Es konnte sinnvollerweise eigentlich nur heißen: das In-und-Um-uns. Zu diesem nämlich, "zu dem bewahrten (In) und Um uns" will Bloch uns führen, "zu jener Vielheit im Einen, die das Menschenhaupt braucht, um Weinstock zu sein und dereinstiger blühender Spiegelglanz himmlischer Monadologie" (U 359f.). Vom indischen "tat wam asi" war kurz vorher die Rede; es geht um die Einheit von Innen und Außen, von Selbstsein und Anderheit im umfassenden Wir.

Das "Inundumuns" ist aber eine Wortprägung, die bei Gräser öfters wiederkehrt, bei Bloch nur ein einziges Mal und dann verstolpert, verstümmelt. Wenn man's symbolisch nehmen will: Als ob er es, das Fremdwort, nicht recht habe buchstabieren können. Bei Gräser ist Inundumuns oder Inumuns oder Allinumuns eine Name für die namenlose Gottheit:

Mit Inumuns - den Keiner kennt,
den Keiner greift, den Keiner nennt, weil er im Werden ist.
Oh namlos, allnamvoller der-die-das Sternenroller,
Du ruhreich Stillgewaltiges, Du rührig Vielgestaltiges
gegrüßt sei,
Welt-Geïst - urgroßes,
sei gegrüßt!

Nun macht aber Bloch in 'Geist der Utopie' diesen Umuns oder Inumuns zum Endpunkt des seelischen Geschichtsprozesses, zum Ziel aller "Bewegungen des mythologischen Bewußtseins vom Astralmythos zum Logosmythos und darüber hinaus", ja noch "über Welt, Satan und Gott, diese bloßen Hilfsobjektivierungen des Seelengangs" hinaus. Dieser bisherige Gegenüber-Gott zerbricht. "Er zerbricht und geht auf, Gott, als das Um uns, der Dritte, die beseelte Distanz, als Mütterlichkeit und die warme Luft des objektiven Herzens, wie sie uns schon in aller Freundschafts- und Liebesmystik umgibt, er deckt sich endlich mit unserem Gold, das Buch wird verschlungen und der schöpferische Raum der Versammlung bricht an." (U 382)

Hier, in diesen Sätzen, diesem Passus, ist wahrhaftig alles versammelt, was auch die "Botschaft" Gräsers ausmacht: die Absage an den Vatergott, an den Buchglauben, das Biebel-Babel, der Ruf nach dem Dritten, jenseits von Gott und Satan  - ins Dritte dringen ist Menschenheil! -, nach dem Urmütterlichen, dem Herzgott, dem warmen Inumuns und unserer Versammlung, dem Weltsammelbund, im Menschenreich. Wie eine solche Konkordanz zustande kommt, zu erklären ist - wir wissen es nicht. Wir können den Tatbestand nur konstatieren.

"Geist, der sich erst bildet"

Er-Sie-Es ist im Werden, sagt Gräser, nicht ableitbar aus dem Gewordenen, Gewesenen, und deshalb nicht greifbar, nicht festzuhalten im Begriff. Weil ER-Sie-Es ein immer Kommender, Zukünftiger ist: "Geist, der sich erst bildet", um mit Bloch zu reden. Das Werdenwollende ruft, sagt Gräser, er will dem Werdenwollenden huldigen, nennt sich einen Werdewerber, der die Zeichen des Kommenden deuten will. Im Hintergrund harrt eine Welt des Werdenwollenden, schreibt er in seinem ‚Wortfeuerzeug’ von 1930. Auch Bloch ist der Meinung, dass wir "wartende, unbekannte Götter" in und über uns haben, "ein Element des Zukünftigen". "Dieses weiter zu treiben, das Pochende, Unterdrückte, Zukünftige, das nicht werden konnte in all dem zähen Teig des Gewordenen, es reumütig zu lockern ... zu erleichtern und einzuschließen, ist die denkerische, geschichtsphilosophische Arbeit" (U 335). Wenn man hier von einer "Ontologie" reden will oder einer bestimmten Art utopischen Denkens, dann haben sie ein und die selbe.

Dort – Verstand, im Gewordnen vereist –
hier – im Werden webender Geist.

 

Heimat

Ein anderes Wort: Heimat. Jeder Kenner weiß, welch hohe Stellung dieses Wortbild im Denken von Bloch innehat. Es ist ein erratisches Fremdwort innerhalb der marxistischen Tradition, in keiner Weise aus diesem Fundus abzuleiten, im Grunde darin auch nicht zu integrieren. Es ist aber ein Kernwort im Denken von Gräser. Der nennt sich und tritt auf als Heimatmann, Heimatwandrer, Heimatkämpfer, aber nicht im Sinne der Heimatdichter oder der Heimatbewegung seiner Zeit. Denn, wie für Bloch, steht ihm dieses Wort nicht für etwas, das man hat, territorial begrenzt, emotional besetzt, sondern um etwas, das erst zu schaffen, zu bauen ist: Heimatbau. Wir gehen Heimat zu bauen! - Sie ist ein Zukünftiges, ein ersehnter Grenzwert, ist Ort der Utopie. Heimat ist da, wo nicht mehr Herrschaft, Zwang und Ausbeutung sich zwischen die Menschen stellt. So heißt es in seiner mit eben diesem Wort 'Heimat' betitelten Flugschrift von 1912:

Nichts liegt uns daran, herrlich und hübsch und mit Knechten zu leben, denn eben das ist unsre Fremde. Viel aber liegt uns daran, freundlich derb und mit Freunden zu leben, denn das ist unsre Heimat.

Wie nahe er sich darin mit Bloch begegnet - oder Bloch sich mit ihm -, braucht nicht gesagt zu werden.

Aus Gräsers Flugschrift ‚Heimat’ von 1912

Gärtner

Ein anderes Wort, das nicht in den Schreibstuben marxistisch oder anders philoso-phierender Theoretiker gewachsen ist: Gärtner. "Wir allein sind die Gärtner des geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll", schreibt Bloch (U 341). Der Gärtner und der Baum, der Lebensbaum - das sind aber Grundbilder des gräserschen Denkens, oftmals wiederkehrend (während bei Bloch diese Vorstellung in 'Geist der Utopie' nur einmal, an dieser Stelle, auftaucht. Sie gehört nicht zu seinem typischen Bilderfundus).

Gräser verkündet den Gärtnergeist als die rettende, wendende Kraft:

Aus "Hochherrlichkeit", dem Trottelidol der Jahrtausende -
zum "Gärtnergeist", Heilstern der Welt.

Dieser Geist des stillen, geduldigen Hegens und Pflegens ist ihm die Gegenkraft zum Willen zur Macht. Darum singt er

... das Lied, das rein wie die Blum erblüht,
das Lied von dem Gärtner, dem großen,
dem heimlichen, hochmutlosen!

Am 10. Februar 1928 hält er in Berlin ein 'Öffentliches Gespräch' ab unter dem Titel: 'Die Gärtner - Bildner und Bauer hinter der elenden Hochherrlichkeit'. Die Siedlung auf Monte Verità war ja nichts anderes gewesen als der Beginn eines Lebens mit Garten und Baum. Sein Bruder ernährte sich da, und auch er selbst mit seiner großen Familie, aus dem Anbau von Obst und Gemüse.

 

Aber ihm, dem Dichter und Denker, war darüber hinaus das Gärtnersein vor allem Bild und Vorbild eines anderen Verhältnisses des Menschen zur Welt. Die Gärtner, die er vor allem als Baumgärtner sieht, sind Menschen der Stillgewalt, die der Wissgier und Habgier abgesagt haben, Menschen der Einheit von In und Um uns.

... Allso
uns warmbeherzten Haupts
nimmer mit Wissgier spalten,
denn, unsrem Hochzeitsgeist gesellt,
weise vermählend alle Welt,
als Gärtner in Ihr walten.

Die Welt ist ihm heilig genug, um in Verweisungen - wie einst das Fürwort Gottes - groß geschrieben zu werden: in Ihr walten. Und groß schreibt er auch den BAUM, den Wonnebaum, der ihm als Weltbaum zum zentralen Symbol wird. In einem Brief an Hermann Hesse vom 30. 12. 1918:

Lieber, muss nicht alles beiseit gelassen werden, um der mütterlichen, der versöhnenden TAO-weisheit Eingang zu gewähren? Giebt es heute ein nötigeres Schaffen als das RAUM-schaffen? - Der BAUM des Lebens keimt und kommt ja doch nur von Selber ...

Er selbst sieht sich als Baum, als Menschenbaum:

... Jawohl ein Menschenbaum, gründend im Allweltdunkeln, in Allweltnot,
sprießt hier, spricht hier aus Mitmenschnotgebot ...

Aber auch er ist nur ein Kleines,

... ein BIN im BAUMe,
in dem Allbaum SEIN, im Weltleibkor ein Mitblutkörperlein,
tiefgroßgering ...

Und wenn es bei Bloch an der schon zitierten Stelle (U 341) heißt: „Der Wunsch baut auf und schafft Wirkliches, wir allein sind die Gärtner des geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll. Es hilft dazu die andauernde Traumkonzentration auf sich selbst ... Nur dieser denkende Wunschtraum schafft Wirkliches, tief in sich hineinhörend „, so hat diese Vorstellung ihre vielfache Parallele (oder ihr Vorbild?) bei Gräser:

Nur Raum dem Traum -
und sieh - er wächst, erwacht, Frohlebens
 Wunderbaum!
... Was blühen will, trutz Gram und Grimm, wohlauf zu Ihm,
wohlauf mit Ihm!

Erst recht und noch einmal, wenn Bloch von „Waldwerden“ spricht – eine Denk- und Sprechart, die man Gräser vorbehalten glaubt. Denn Gräser ist der große Lobredner, Heiligsprecher, ja Mythisierer des Walds: - Nun werden wir groß mit dem Wald. – Wald, du unsres Menschseins Wiege – Wald, Heiliger, du wundergrüner Freund…

Gräser lässt uns Waldheil trinken, preist die Waldgemeinde, die Waldweisheit, den Waldgeist, als den Urfreund, erfährt den Weltgeist, Weltwalter, als Weltwalder. Ihm geht es einerseits um Ökologisches, um Schutz und Erhaltung des Waldes. Zugleich aber ist ihm der Wald etwas durchaus Inneres geworden, Symbol eines anderen Geistes, Bild der Seele und ihrer Geheimnisse. Im Waldgeist singt die Wunderweltenseele, der Allweltenwald steht für das Sein selber.

Wie nahe kommt ihm Bloch, wenn er schreibt:

„Die Dinge werden so zu den Bewohnern des eigenen Inneren, und wenn sich die sichtbare Welt ohnedies schon an eigener Seele zunehmend zu entleeren scheint, unkategoriell zu werden beginnt, so wollen danach in ihr und an ihr die Klänge der unsichtbaren zur Bildhaftigkeit werden; verschwindende Vorderseite, Füllesteigerung, ein Waldwerden, ein Einfluß und Rückfluß der Dinge in den Ichkristallwald.“ (U 52)

Vor der zunehmenden Entseelung der Außenwelt fliehen beide in den „Wald der Seele“ (Hesse), suchen Rettung bei ihm, Bloch zumindest in diesem Zeitraum. Auf diesem Weg in den Wald, auf den „Traumstraßen“ der „Sehnsucht, endlich das Menschengesicht zu sehen“ (U 52), musste er zwangsläufig dem „Waldmenschen“ (Hesse) Gusto Gräser begegnen. Denn im Wald fand Gräser das verlorene Menschengesicht.

Da rauscht ein Haupt, ein gottvoll Haupt empor, ein Antlitz, oh –
anblitzt es mich durch Rauhbartwuchtgezweige …

Mithin: Was bei Bloch nur kurz und einmalig aufscheint, das Bild vom Gärtner, der den Lebensbaum aus dem Wunsch- und Traumvermögen des Menschen hervorwachsen lässt, nicht eigentlich tuend, sondern (geduldig-taoistisch) hörend, wachend und wartend, das Bild vom Wald auch, der für das Reich der Seele steht, - bei Gräser sind es breit entfaltete Grund- und Lebensthemen, vielfach abgewandelt.

Die Reihe solcher Entsprechungen ließe sich fortsetzen. Klar ist auch so: In die teils akademisch-philosophisch, teils marxistisch, teils messianisch-gnostisch geprägte Denk- und Sprachwelt Blochs schieben sich während seiner Ascona-Periode Einsprengsel fremder Eigenart - und diese Eigenart hat gräserisches Profil. "Seelenreich", "Paradies der Seele", "Brüdergemeinde", "Genossenschaft", "Austritt aus der Kultur", Ablehnung allen Zwangs, der allgemeinen Wehrpflicht, der Geldwirtschaft, des Eigentums, der Maschinerie, Bejahung von Bauerntum und Handwerk, vor allem aber einer ekstatischen und aristokratischen Spiritualität - all das hat zweifellos gräserischen Geschmack




5. „Doppelt unterwegs fürs Licht“: Ein Sprachvergleich

Gräser: Bloch:
Kampf löst Krieg Kampf, nicht Krieg
aufrechter Wandel aufrechter Gang
Wenden zum Reich Willen zum Reich
das Menschenreich das Menschenreich
Menschwerdung Menschwerdung
Zwang ist der Mord der mörderische Zwang
Entzündung des Feuergeistes Feuer, das angezündet werden soll
Liebezorn Güte mit Zorn
reinigender Brand "unzähmbarer" Brand
"Ich kam, ein Feuer zu zünden ... " Jesus hat ein Feuer angezündet, und er wollte ...
Traumwirklichkeit Wunschtraum schafft Wirkliches
das Werdenwollende das Noch-nicht-Gewordene
Kommunismus des Herzens Revolution des Herzens
Stillgewalt Nicht-Gewalt
Selbstwerdung Selbstbegegnung
Raum schaffen dem Leben Raum schaffen
ins Blaue hinein bauen ins Blaue hinein
Werklust Werklust
Heimatbau, Urheimatwelt erbauen Umbau der Welt zu Heimat
Ihr Ducketugendsamen! Nicht Urchristen – Duckmäuser
Gärtnergeist zu uns als den Gärtnern
Inundumuns das (In) und Um uns
das Wir das Wir
Heimkehr zu sich selbst zur Heimkehr gelangen
das Werdenwollende ruft Hören von etwas Heraufkommendem
im Werden webender Geist Geist, der sich erst bildet
Urgroße Mutter die große Mutter
Mütterlichkeit Mütterlichkeit
Mehr Wärme! Wärmeland
Echt sein Echtwerden
mit sich im Reinen sein mit sich identisch sein
(franziskanisches Leben) franziskanisch leben, statt auf der Herrenseite
  (Zitate aus den Schriften Blochs zwischen 1917 und 1923)



 

 

 




6. Güte der Seele, Dämonie des Lichts



Ernst Bloch begegnet Gusto Gräser

Der wahrhaft nach Heiligung strebende Mensch ergießt sich,  taucht unter, bleibt ein Bruder, wandert und wandelt sich im Anderen ... er trägt allein Frucht im Dritten unter uns, tauschbar einander Eiferer und Helfer,  Mahner und Diener, Beichtiger und Vorbild.
Ernst Bloch: Über den sittlichen und geistigen Führer (1917)

Indes nun traten ... halbnomadische Opponenten auf, gegen die Klassenscheidungen wie gegen einen Baal-Jachwe; es waren die Nasiräer. Und sie predigten nichts Geringeres als ein neues religiöses Wunschbild ... : Rückkehr zum einfach-gemeinsamen Leben, Jachwe als Gott der Armen ...  mit Gemeineigentum, ohne Herr und Knecht ... Sie verschmähten den Wein ... und noch zur Zeit Jeremiae galt nicht nur diese Enthaltsamkeit, sondern auch das Nomadentum der Rehabiter als Jachwe besonders wohlgefällig ... Zur Abstinenz trat hinzu, daß der Nasiräer kein Schermesser über sein Haupt fahren ließ; im Haar lag ... dem Nasiräer die magische Kraft, die durch keine Domestizierung vernichtete. ... Simson, Samuel, Elias waren Nasiräer ...  aber auch Johannes der Täufer, diese ungefüge Gestalt aus der Wüste. "War bekleidet mit Kamelshaaren und mit einem ledernen Gürtel um seine Lenden, aß Heuschrecken und wilden Honig" (Mark. 1, 6), und seiner Mutter ward verkündet: "er wird groß sein vor dem Herrn, Wein und starkes Getränk wird er nicht trinken" ... bei all diesen so Verkündigten kam kein Reicher ins Himmelreich. …

Der Nasiräer trat auf als Naturmensch, der Provo, der er war ... Die neuen Propheten, seit Amos, bekämpften daher mit dem Reichtum zugleich die Verflechtung seines Staats in die Welthändel. ... Dieser demokratisch-pazifistische Grundwille, als ein den Nasiräern verwandter, zum Teil mit ihnen verbundener Haß gegen den kanaanitischen Herrenglanz, geht der moralischen Prophetenpredigt vorher und liegt ihr ökonomisch-politisch zugrunde. ... Das alles ist Erbe von den Nasiräern.          

Ernst Bloch: Atheismus im Christentum (1967)

6a. Der Sturz des Parakleten

In 'Geist der Utopie' will Bloch eine neue Religion proklamieren. Nach der Religion des Vaters, des finsteren Jehova, und der Religion des Sohnes, des allzumilden Jesus, müsse nun das dritte Reich, das Reich des heiligen Geistes, des Parakleten anbrechen. Für diesen Parakleten hält Bloch sich selber, zumindest hegt er die Hoffnung, der kommende Prophet, der Paraklet des neuen Messias zu sein.

"Ich bin der Paraklet und die Menschen, denen ich gesandt bin, werden in sich den heimkehrenden Gott erleben und verstehen" (Briefe 67). So fühlt sich, ganz ohne Ironie, der Sechsundzwanzigjährige. "Wer mich ablehnt, der ist von der Geschichte gerichtet", soll er Marianne Weber gegenüber verkündet haben (z. n. Zudeick 45). "Er hielt sich offenbar für den Vorläufer eines neuen Messias und wünschte, daß man ihn als solchen erkannte", berichtet der Soziologe Max Weber, in dessen Haus der "Jüngling mit enormer schwarzer Haartolle und ebenso enormem Selbstbewußtsein" häufig zu Gast war (z. n. Zudeick 45). In Briefen an Margarete Susman sieht er sich am Jüngsten Gericht zur Rechten von Jesus, Moses und Spinoza sitzen. Der jüdische Geist, der durch Moses, die Propheten und die Chassidim hindurchgegangen sei, habe sich nun in seinem Werk, in 'Geist der Utopie', neu inkarniert[1].

Was ist die Botschaft des neuen Propheten? Er verkündet "das System des theoretischen Messianismus" (U 337), der den praktischen, den leibhaftigen Messias vorbereiten soll. Dieser Messias verkörpert die neueste oder letzte Stufe eines theogonischen Prozesses und zugleich eines Prozesses der Menschheit, an dessen Ende der Umschlag in die Apokalypse erfolgt. Es entsteht ein neuer Himmel und eine neue Erde dann, wenn der alte Jehova seinen finsteren Molochsgrund verlassen hat und zugleich der Mensch zur innersten Selbstbegegnung, zur Enthüllung seines  verborgenen Angesichts gelangt ist.

Der "abgelaufene Vatergott", "die Bösartigkeit des uns hassenden, rachsüchtig gewordenen, von uns überholten Moments in Gott" (U 434), ist "mit brennender Liebe bis in sein Innerstes, Letztes, Heiligstes hinein zu zerbrechen" (U 381). Aber auch Jesus, der "allzu milde" (U 380), der "nur ein Helfer, kein Erlöser war" (U 331), ist gescheitert. Er lebte den "Irrtum der großen Reinheit" (U 405), die das Kranke, Rohe, Sinnlose der Welt durch den Kuß der Liebe zu heilen glaubt. Jetzt muß ein neuer Christus kommen, der höherstehende Luzifer, die Schlange, der Dionysos in Christus muß erwachen und das "blöde Bestehende" (U 405) der Jehova-Welt mit jehovaischen Waffen, mit "genau einschlagende(r) Gewalt" niederschlagen, "als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand" (U 406). Das "Amulett des nackten Herzens" (KK 315), das  waffenlose Tao der Liebe (KK 484), hat seine Ohnmacht vor Kanonen erwiesen. Damit die Erde endlich in den Himmel verwirklicht werde, muß ein gewalttätiger Christus kommen, ein Jesus mit der Peitsche, nur so kann sich Religion und Revolution, Religion und Politik, Karl Marx und Apokalypse verbinden.

Damit ist in 'Geist der Utopie' im Prinzip schon vorbereitet, was später kommen sollte: Stalin, der offenkundige Massenmörder, als "Richtgestalt der Liebe", Moskau als neues Jerusalem. Schon in 'Geist der Utopie' wird das messianische Endreich nach Moskau projiziert. Bloch sieht "in der russischen Revolution zum ersten Mal Christus als Kaiser" eingesetzt. (U 299)

Mit anderen Worten: Was Bloch in die Theogonie, in den Messianismus, in die jüdisch-christliche Religion als dritte Stufe einbringt, ist im Kern die Gewalt. Zwar soll im Umschlag daraus das Reich der Brüderlichkeit und Liebe entstehen, aber auf diesem "Umweg".

Bloch, der Prophet einer neuen Religion, die Moses und Jesus überholt, sie um Marx und die Seelenwanderungslehre bereichert, die einen Prozeß in Gott und einen kosmischen Prozeß zum Besseren hin postuliert, Bloch, der die Türen zum Himmel aufreißen will, der Gott zu seinem besseren Selbst zwingen will, der das Ende der Gottesnacht herbeisehnt und den Messias vor der Tür stehen sieht: - "Es ist uns morgendlich zumute ... Es ist uns weihnachtlich zumute ... Es ist irgendwie in uns selig ... Es ist in uns, in der Zeit, wie ein erleuchtetes Fenster ... der Tröster ruft draußen vor der Tür ... Irgendwie ist das Matte vorbei, ein uralter Sturm will sich erheben, wie er zweitausend Jahre unter den Horizont gebraust war ... und jetzt wiederkommt, ... der Lichtbringer" (U 345). - Bloch also, der Verkünder eines "dritten Reiches" (U 341), des "Himmelreich(s) der Seele" (U 380), das Judentum, Christentum und Moderne in sich aufhebt, in dem zerstört werden soll das "böse Bestehende" (U 405), dieses "Zuchthaus, Irrenhaus, Leichenhaus Erde" (zit. in Münster 64) und geschaffen "das wahrhafte Menschenreich, vielfältigste Selbstreich" (U 381), der Aufstieg "Jesus-Luzifer-Christus entgegen, unserem Haupt," (U 380) - dieser Bloch begegnet nun auf Monte Verità einem anderen Propheten.

Auch Gusto Gräser fühlt sich berufen, auch er sieht sich als Träger einer neuen Botschaft, aber seine Ansprüche sind wesentlich bescheidener. Er hat keine Lehre zu bieten, kein System, schon gar nicht die Einsicht in das Werden Gottes oder in den kosmischen Prozeß, er beruft sich auf keine Tradition, weder auf Moses noch auf Jesus noch auf Marx, er verkündet keine Apokalypse und kein neues Paradies. Er kann noch nicht einmal eine neue Moral bieten, denn er möchte nur leben, was aus ihm heraus will, was von selber kommt:

Echtsein ist Alles! - Echt sein - zwanglos von Selbst sein - treugetrost Mensch sein - und Leben, es ringt ...

Er überlässt sich seinem Traum, seinem Wahn, seiner inneren Stimme; das ist alles.Leben, wie es uns tief gefällt. Aber was ihm gefällt, das ist eben des Menschen Frohberuf: ein Mannskerl, hah, ein Freund zu sein!. Freundsein ist seine ganze Botschaft, man könnte auch sagen: Liebe. Als Freund wandert er durch die Lande, besitzlos, heimatlos, klopft an bei den Menschen, um Freunde zu finden, Freunde zu schaffen. Aus ihnen wird sich eines Tages eine Gemeinschaft, eine Herzgemeinde bilden und die Blütezeit des Menschen, die Erdsternzeit herbeiführen. Blütezeit ist seine andere Botschaft. Keine Rede von Untergang oder Apokalypse, kein Drohen mit himmlischen oder irdischen Katastrophen. Ein strahlender Optimismus durchflutet sein Dichten und Künden:



Froheit, Freude will die Welt durchglühen ... uns durchglühen will Frohkämpferkraft ...


Freilich ist es kein billig zu habender Optimismus. Kein Paradies wird versprochen, weder ein himmlisches noch ein irdisches, sondern im Gegenteil: alle Sehnsucht nach Paradiesen sei nichts als feige Flucht vor der Wirklichkeit, sei Flucht vor Mühe, Kampf und Not, sei Angst vor Arbeit und Schmerz: Bäbiphantasien von wirklichkeitsscheuen Parasiten.

Gräsers Weltsicht ist geradezu die Umkehrung der Blochschen: keinesfalls ist die Erde der Sündenfall Gottes, aus der Gott und Mensch sich befreien müssen, sondern diese christlich-jüdische (aber eigentlich: gnostische) Lehre ist der Sündenfall des Menschen, aus dem er sich befreien muß, um von einem falschen Gottesbild zur Wunderwirklichkeit, zur Wunderwelt, der besten Welt zu genesen.

Spruchblatt von Gusto Gräser

Dazu gehört zu allererst das Ja zur Not, zur Kraftglückmuter Not, zur Allweltmutter Not.



Freih willst du sein - und flüchtest, fliehst die Not? -

 Oh Narrenfaxen! Freih lebt nur der, der im Entschlusse lebt:
Im Kampf mit Dir, o Not, will - ich - Dir - wachsen!
 Ohn Dich - Urdrang - ist Freiheit nur Geschrei, nur Schlemmerbrei.
Du schaffst den Freund - und nur der Freund ist freih!


Der Arbeit, dem Kampf, der Not als der eigentlichen Wirklichkeit des Daseins ins Auge zu blicken, sie zu bejahen, sie freudig auf sich zu nehmen - das ist seine Philosophie, die er praktisch bewährt. Es ist die Philosophie eines Menschen, der für seine Freiheit, seine Selbstbestimmung, sein unreguliertes, durch keine Sitte, kein Gesetz zu fesselndes Denken und Handeln jedes Opfer zu bringen bereit ist. Es ist die Philosophie eines modernen Diogenes - ohne dessen Schamlosigkeit und Sarkasmus.

Flucht vor der Not sieht er in der jüdisch-christlichen Tradition, Flucht vor der Not sieht er ebenso - und noch mehr - in der grausamen mechanischen Täuschung der Moderne, ihrem Culturplunder und Warrenwirrwarrwust, ihrem Naturbeherrschungswahn und ihrer Zukopfgestiegenheit, letztlich hier wie dort in dem seit Jahrtausenden inthronisierten Irrwahn des Willens zur Macht.

Dem Willen zur Macht, diesem Trottelidol der Jahrtausende, setzt er seinen Willen zur Not entgegen, den Mut zur Armut, die Bereitschaft zu Bescheidung und Selbstbeschränkung.

Heilschatz Bescheidenheit

Spruchblatt von Gusto Gräser

Auch er sieht einen neuen Menschen kommen. Nicht den personifizierten "kategorischen Imperativ mit dem Revolver in der Faust" sondern den Menschen der Ehrfurcht zum Selbst in dem geringsten Ding, den Gewaltlosen und darum Stillgewaltigen, den mütterlich pflegenden und hegenden Hirten und Wirt der Welt, den alle Not dankbar verwendend-verwandelnden Gärtner des Wirweltbaums.



Wohlauf, Weltwirt, hah, tiefwillkommen, Mann ...


Er nennt ihn auch den Sohn der Erde, den Erdsternsohn, und die Zeit, die er mit sich heraufbringt, die Erdsternzeit oder Gartenzeit, des Menschen Blütezeit.

Auch Gräser verkündet einen neuen Äon, einen Jungäon, aber ganz ohne metaphysischen Apparat, ohne kosmisches oder theologisches Mobiliar. Ihm genügt völlig der Herzgott, der Freund Alldrein, der allerdings nicht mehr nur vater-liche, nicht mehr herr-liche, eher schon mütterliche, vor allem aber entschieden paarige, allpaarende Urvatermuttergrund.

Daß er, von allem Anfang an, zu diesem Grunde geht und aus diesem Grunde kommt, ist eine Selbstverständlichkeit, über die kaum geredet wird, die ihn aber nicht in ein Jenseits führt oder irgendeine Spekulation, sondern hierher ins ewige Sein. Hier ist All. Der Vatermuttergrund ist auch die Vatermutterwelt, das Wunder ist Wirklichkeit und die Wirklichkeit ein Wunder, eben: Wunderwirklichkeit.

Die gilt es zu ehren, den Erdenstern zu retten vor der Vernutzungswut der Kahlgescheiten, der Ratzrationalen, der Zweckezwerge und Wichtigwichte.

Das Ich gibt es nicht, nur WIR leben, o Freund, nur das Lebwirall, die Wir-weltwirklichkeit. Freilich finden wir zum Wir nur durch das Selbst - Mein ist das Herz der Ge-mein-schaft. Daß jeder von uns er selbst werde, zu seinem Eigenen und Eigentlichen finde, die Heimkehr zum Selbst, die zugleich eine Heimkehr zum Allselbst, zum Allgeist sei, das ist vielleicht der letzte Kern seiner Botschaft.

Das also ist der Mann, dem Bloch im März oder April des Jahres 1917 gegenübersteht. Was kann sich, was wird sich in dem Jüngeren bewegen? Wie wird der Prophet des apokalyptischen Messianismus antworten auf den Propheten der Erdsternzeit?

Das also ist der Mann: Er lebt mit Weib und Kindern, acht an der Zahl, auf einem Grundstück hoch über Ascona, mit Blick auf den See, mit Blick nach Locarno und zum ebenfalls hochgelegenen Monti della Trinità auf der anderen Seite der Maggia-Mulde.Er verschmäht Fleisch, Alkohol und Nikotin, aber er ist kein Asket, im Gegenteil, er predigt das heilige Genießen. Nur Lust und Lieb kann retten ist seine Parole, und, wie er selbst in einem Flugblatt dieses Jahres sagt, Freude und Frohsinn erfüllt die Räume seines Hauses.

Der Mann ist ungewöhnlich vital, gesund, groß und kraftvoll, von ruhigen und sicheren Bewegungen, mit wohltönender tiefer Stimme. Er trägt eine selbsterfundene Tracht, halb Propheten-, halb Narrengewand, rübezahlhaft, mit Troddeln am Saum der Kutte und einer schwanzartigen Zuspitzung hinten: indianisch, germanisch, altgriechisch, bäurisch, mittelalterlich, täuferisch, hippiehaft - die Beschreibungen wechseln -, jedenfalls extrem auffallend, außergewöhnlich, exotisch, aus jedem Rahmen steigend. Die Kinder auf der Straße laufen ihm nach; er gilt als "Naturmensch" oder "Naturapostel", die Münchner nennen ihn "Kohlrabiapostel", die Berliner „Kristus des Westens“ oder „Kartoffelchristus“. In Ascona lebt er - scheinbar - die Idylle: zwei kleine Häuschen, selbstgebaut alles mit seinem Bruder zusammen, in einem eigenen, bucklig rauhen, warmen, naturnahen Stil, Erdwärme und Gemütswärme in allem, nach Holz, Heu und Backofen duftend. In dem einen der Häuschen, einer ehemaligen Weinberghausruine, die er sein "Ruh-inne" getauft hat und die ihm als Atelier dient, empfängt er seine Gäste. Er ist handwerklich begabt, schneidert, schustert, bildhauert, malt. Er druckt seine Gedichte selbst, auf farbigem Karton, verkauft oder verschenkt sie auf den Straßen.

Aber die Idylle ist sturmumtobt, von Hunger bedroht und von Gläubigern, von den Staatsorganen und von der Leutemeinung. Er ist Ausländer, Kriegsdienstverweigerer, hat keine Aufenthaltsgenehmigung, stört und empört die Leute durch seine Kleidung, seine Lebensweise, seine Gesinnung. Seit er im September 1916 aus österreichischem Militärkerker in die Schweiz zurückgekehrt ist, hat er - innerhalb von 6 Monaten - bereits Ausweisungen aus Zürich und Bern und eine Verhaftung in Locarno hinter sich. Verhaftungen, Abschiebungen, Gefängnisaufenthalte und die tägliche Not des Überlebens-kampfes spielen die rauhe Begleitmusik zur bukolischen Szenerie. Das "Naturmenschen-paradies", diese Insel des Friedens mitten im Tosen des Weltkriegs, wo der neue Robinson im selbstgebauten Einbaum über den See rudert, um auf den subtropischen Brissagoinseln Südfrüchte aufzusammeln - diese Insel ist von allen Seiten bedroht.

Aber es gibt Freunde, die zu ihm stehen, ihm immer wieder aus der Not helfen, die zu abendlichen Gesprächen in seiner Hütte sich versammeln. Die Tänzerin Mary  Wigman gehört dazu, Mia und Hermann Hesse, der Psychoanalytiker Johannes Nohl, der Tiefseeforscher Auguste Piccard, und nun auch, vermutlich durch Hesse eingeführt, der philosophische Schriftsteller Ernst Bloch. Wie wir hören, bringt er mythologische und religionsgeschichtliche Bücher ins Haus; aus den Schriften der Mystiker wird vorgelesen: Böhme und Baader, Novalis, Laotse. Gräser arbeitet an seiner Nachdichtung des 'Tao Te King', und er wird daraus vorgetragen haben. Nohl steuert seine profunde Kenntnis Baaders bei, Hesse kennt die Lehren C.G. Jungs, Bloch entfaltet seine Meinung, daß die Menschheit in Träumen und Mythen immer neu das Bild ihrer Zukunft entwerfe.

Soeben hat Amerika den Mittelmächten den Krieg erklärt, in Rußland ist die Revolution losgebrochen, Lenin befindet sich auf dem Weg nach Petersburg - alle wissen und spüren: dies ist der Moment des Umbruchs; mehr als ein Krieg und ein politisches System, ein Zeitalter geht zu Ende. Und sie, diese kleine Runde, die Flüchtlinge und Ausgestoßenen der Alten Welt, ihre Rebellen, ihre Aussteiger, sie sind die Hoffnung des Neuen, die Erstlinge der Zukunft. Auf ihre Schultern ist alle Verantwortung geladen: wie wird, wie soll diese Neue Welt aussehen? - Eine ungeheure Spannung liegt in der Luft: Anspannung der Phantasie und des Gewissens.

In diesem engen, von Hoffnungsenergien und Untergangsängsten geladenen Raum, in der Dunkelheit dieser Weltstunde, die in den Wehen der Geburt steht, keimen die Ideen zu zwei Büchern, die man später die "Bibel der Jugendbewegung" und die "Bibel des Expressionismus" nennen wird: Hesses 'Demian' und Blochs 'Geist der Utopie'.

In Einem sind sich die Anwesenden einig: Der überkommene kulturelle Apparat ist zu Schrott gefahren, eine neue Grundlage, ein neuer Mythos muß geschaffen werden. Darum die Beschäftigung mit der Geschichte der Mythen und der religiösen Denker. Diese Geschichte gilt es fortzusetzen: neu beginnend aus ältesten Wurzeln.

 

Freund’. Zeichnung von Gusto Gräser (im Negativ)

6b. „Paraklet“ und „Erdsternsohn“

Daß sie sich einig sind im Politischen, in dem, was sie ablehnen und bekämpfen, ist keine Frage. Daß Bloch die sozialen Vorstellungen Gräsers teilt, ist aus seiner Utopie-Schrift zu entnehmen. Daß Hesse wie Gräser, Nohl wie Bloch letztlich in einer religiösen Neubegründung mit mütterlich-maternalem, westöstlich-spirituellem Gesicht die not-wendende Lösung sehen, geht aus ihren Schriften hervor. Aber Lehren und Meinungen sind Vordergründigkeiten. Wie antwortet der Mensch auf den Menschen? Wie reimt oder reibt sich der "Paraklet" mit dem  „Erdsternsohn“?

Wir nähern uns damit einem schwer zugänglichen Terrain. Unmittelbare Dokumente gibt es dazu nicht. Wir haben allerdings ein indirektes Zeugnis darüber in zwei Schriften, die 1917 in Locarno-Ascona entstanden, von Bloch aber erst in seinen letzten Lebensjahren in Druck gegeben worden sind. Es handelt sich um die beiden Aufsätze 'Die Güte der Seele und die Dämonie des Lichts' und 'Über den sittlichen und geistigen Führer oder die doppelte Weise des Menschengesichts', abgedruckt 1964 in 'Durch die Wüste', S.141-147 und Seite 95-104, und in 'Philosophische Aufsätze'. Schon ein Vergleich der beiden Titel verrät, daß hier wie dort das selbe Thema in Frage steht.

Worum geht es? Es geht, wie die Titel schon sagen, um die Güte der Seele oder die "ethische" Tugend und den "sittlichen Führer" einerseits und um die "Dämonie des Lichts", den "geistigen Führer" oder die "dianoëtische" Tugend des Denkens andererseits. Es geht Bloch darum, die Leistung des Denkens für gleichwertig zu erklären mit der sittlichen Tat.

Wie kommt er dazu? Nun - hatte er nicht das Bild eines neuen Menschen entworfen, gerade in seinen Aufzeichnungen zu 'Geist der Utopie', undeutlich zwar und doch erkennbar, eine Messiasgestalt, einen Über-Christus, der den historischen Jesus, den "allzumilden", überholen und ablösen sollte? Einen Zukunftsmenschen, der das "Aufständische", das "Rebellische", das Luziferische und Dionysische in Christus stärker in sich tragen und die Kraft des Inneren stärker ins Äußere, ins Politische einströmen lassen würde? Hatte er nicht den "letzte(n), unbekannte(n) Christus" gerufen (U 332) , das Heldenhafte in uns, die "Schlange in Christus", den "Erretter" und "Überwinder"? (U 441f.)

"Gutsein, wo es eines ist, kommt nie so mild an sich daher", schreibt er in 'Güte der Seele', nicht als "leicht scherbares Lamm", nicht als "Schwachmatiker" und "Duckmäuser" (DW 141). "Die wirklich christförmige Güte ist auf dunklen Grund gezogen. ... Gewiß nicht mit irgendeinem Haß gesprenkelt, gar mit egoistischer Gier, wohl aber, solange die Welt im Argen liegt, mit Zorn ... Jesus hat die Wechsler aus dem Tempel gepeitscht, ein Feuer angezündet, und er wollte, es brennte schon. ... Jesus hat bekanntlich gerade viele betrübt ... , der Geringe, doch eben deshalb von grober Größe, ... ein Überwinder, der franziskanisch leben wollte, statt auf der Herrenseite. Wie nun erst, mit Sprung, wenn jenes andere Gutsein aufzieht, das nicht umhergeht, sondern - baut ... " (DW 142f.)

Mit dem ersten "Führertypus", dem sittlichen nämlich, so schreibt er in 'Über den sittlichen und geistigen Führer', "kommen allein die täuferischen ... Zeiten wieder, die Tage Münzers und des überall werbenden, untertauchenden, umgehenden Prädikantentums, die Soziologie einer universal-spirituellen Leids-, Liebes- und Erwartungsgemeinschaft, einer überökonomischen, überpolitischen, von aller Wirtschafts-, Verwaltungs- und Regierungssphäre emanzipierten." (DW 99)

Und nun stand da einer vor ihm, der dies alles erfüllte - ein überall werbender, um(her)gehender, untertauchender und wieder auftauchender Wanderer, Wanderprediger (Prädikant!), ein Geringer von grober Größe, ein Überwinder, der franziskanisch lebte und nicht auf der Herrenseite. Einer, der mit Wirtschafts- und Regierungssachen nichts zu tun haben wollte, der dichtete, schrieb und münzerisch predigte – gewaltig aber stillgewaltig, d. h. gewaltlos -,  in Mühlhausen (wo er zeitweise sich aufhielt) und anderswo:



Ihr Herrschaften alle, in blutloser Macht,

vorbei ist die Zeit eurer protzenden Pracht,
vorbei die Zeit eurem rachigen Recht
nach Sätzen und Paragrafen,
nun kommet die andre, weit hinter dem Neid,
die Glühenden, Frommen, die Herzhaften kommen
und bringen mit Singen die Blütezeit!
Vorbei, ihr Herrn von Knechte, um um ist eure Zeit ...
Herrschaften müssen fallen, wie welkes Blatt vom Baum ...


Kein milder Dulder nur, kein "Schwachmatiker" und "Duckmäuser", kein "keusche(r) Josef" und "leicht scherbares Lamm". Christförmige Güte zwar, aber "auf dunklen Grund gezogen, gewiß nicht mit irgendeinem Haß gesprenkelt", wohl aber "mit Zorn" (U 142), mit Liebezorn (GG). Einer, der donnerte gegen Tristentum und Staatsgesindelzucht, gegen Mammonarchen und Plutokrotten, gegen Hohlkultur und Kriechokratie, der kämpfend zum Kampf aufrief  und raufend zu RAufrichtigkeit mahnte - und sich doch nicht scheute, dionysisch den Tanz zu feiern und den Leib, die Lust und das Weib und das heilige Genießen, der als Banditen des Weltbummelbunds sich bezeichnete, der seine grüne Zigeunerkarre mit der Schlange bekrönte,  der holzgeschnitzten.



Heilloh, flamm auf, mein Zorn, Heilzorn voll Freudelodern!


Einer, der gewiß auch viele betrübte - den Bürgern ein „schlechter Kerl“, Anstoß und Ärgernis, den Behörden ein "Staatsgefährlicher", den Dogmengläubigen ein Ketzer, den Siebengescheiten ein Narr.

Wie also? Solches schreibt Bloch im Sommer 1917, während ein solcher Mensch ihm vor Augen steht? Stand der Prophet, der erhoffte, nicht vor seiner Tür? Mußte Bloch ihm nicht auftun - sich ihm auftun?? Hatte er nicht geschrieben, mehr als einmal, es gebe nur eine Sünde, die eigentliche Ursünde, die nämlich: nicht sein zu wollen wie Christus?

Er war nach Ascona geeilt, um Menschen zu finden, oder wenigstens einen, der seinen hohen Anspruch einlösen könnte. Nun hatte er einen gefunden, einen solchen zwar, der seine Hoffnung höher und anders erfüllte als ihm lieb sein konnte. Wer war nun der Paraklet? Wer hatte wem zu folgen? Oder gab es hier Gleichrangigkeit in irgendeiner noch zu bestimmenden Weise?

"Der wahrhaft nach Heiligung strebende Mensch ergießt sich, taucht unter, bleibt ein Bruder, wandert und wandelt sich im Anderen", ist "Eiferer und Helfer, Mahner und Diener, Beichtiger und Vorbild". So schreibt er im Sommer 1917. Es ist die exakte Beschreibung des Mannes, der da vor ihm steht.

Sollte er mitwandern, untertauchen, ein Bruder für alle werden, Mahner und Diener, Helfer und Vorbild? Sollte er wie Gräser als bekennender Verweigerer sich vor ein Erschießungskommando stellen lassen? Sollte er ohne Geld in der Tasche, ohne Dach überm Kopf in härener Kutte durch die Lande ziehen, auf das Erbarmen der Leute angewiesen, von Hunden und Polizisten gehetzt, vom Pöbel verhöhnt, von den Klugen verachtet? Sollte er noch sein Bestes, seine hochgetriebenen, alles Bisherige überbietenden Theorien und Spekulationen von sich werfen?

Gusto Gräser 1928 in Berlin

Denn dieser Prophet rührte auch an Götzen, die dem Bürger und Philosophen Bloch noch heilig waren, denen er noch diente: Marxismus - das war für Gräser die Pest, Revolution - eine Rüppelution der ewigen Knechte, Macht war ihm der Mörder an sich, vor allem aber wetterte er gegen die Verstandvereisten, die Ratioratzen, gegen die Zukopfgestiegenheit der Hirnvernarrten, gegen den Wisswust der Wissensgierigen und ihre zerklitternde Verstandesmache, ihre blutleere Bibliothekenbildung.

Nein, diesen Sprung in die Nacktheit der Armut und des mystischen Nichtwissens will und kann er nicht leisten. Wohl aber muß er einsehen, daß er mit seinem hochgespannten Anspruch an sich selbst gescheitert ist. Was tun? Wie seine Selbstachtung retten? - Bloch  entscheidet sich dafür, das sittliche Tun andern zu überlassen - das ist der Sinn jener Meditation über die 'Güte der Seele und die Dämonie des Lichts' - und sich die "dianoëtische Tugend" des Denkens zuzuweisen, die er vom sittlichen Tun erst scheidet und dann für gleichwertig erklärt.

"Güte der Seele ... ist und bleibt nicht das gleiche wie Dämonie des Lichts; die ethische und die dianoëtische Tugendweise sind im Tenor unterschieden" (DW 145). Güte der Seele: das ist der im Volk umgehende und in Armut untertauchende Wanderprediger; Dämonie des Lichts: das ist der "geistige Schöpfer", dessen Denken "empirisch noch ungelebt, nur in Zeichen und Symbolen geschehend" sich ausspricht (DW 102). Der eine ist ständig im Fluß, in "unablässig tauchende(r), tauschende(r), ... exzentrische(r) Bewegung", immer auf dem Weg "zum Anderen, mit dem Anderen" (ebd. 99); der andere erscheint "wesensgemäß ragend", "wahrhaft einsam", "tauscht sich auch nicht brüderlich aus", sondern richtet seinen Blick auf die "in ihm lediglich manifestierte Sache". (DW 101)

So sich abgrenzend kann Bloch sein hohes Selbstverständnis sich einigermaßen bewahren, angeschlagen zwar, reduziert auf nur einen, den theoretischen Flügel, aber doch mit der Hoffnung, im "Hochgebirge der herzustellenden, der riesig heraufzurufenden Sicht" der "Brüderlichkeit im Wandel" - also dem praktischen Tun - und ihrer tiefergelegenen "Ebene" ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen zu sein. (DW 147)

So kann er sich, gönnerhaft fast, dem Mann der Tat an die Seite stellen: "Zum rechten christförmigen Vollzug gehört: Ebene der herzustellenden Brüderlichkeit im Wandel, Hochgebirge der herzustellenden, der riesig heraufzurufenden Sicht. Und all das in einem einzigen Zug, einem hart kontrastierenden, nirgends dualistischen - doppelt unterwegs fürs Licht." (DW 147)

Ein Brüderpaar also: Kastor Gräser und Pollux Bloch, auf verschiedenen Wegen wandelnd, der eine im finstern Tal der Armut, der andere im Hochgebirge der geistigen Sicht. Es handle sich um "verschiedene Schichten des kreatürlichen Umbruchs", aber "verbindend bleiben der Umbruch ... und das - auf ein gemeinsames Ziel hinorientierte - Hellwerden". (DW 145)

Was Bloch in diesen Aufsätzen sonst an Gedanken, tiefsinnigen und bedenkenswerten, anspinnt, darf hier außer Betracht bleiben. Uns geht es allein um das Bild des sittlichen Führers, das er entwirft, und um die Beobachtung, wie er fast verzweifelt sich abmüht, neben diesem "gute(n) Mensch(en)" (DW 101) sich als "der schöpferische Mensch" gleichrangig zu behaupten. Dergleichen Aufwand treibt nicht, wer nicht aufs Äußerste herausgefordert, ja bedroht ist von  einem als überlegen empfundenen Gegenüber. Bloch ist bedrückt von dem "vollen Gramerlebnis des Schöpfers, nicht nur nicht würdig, sondern auch nicht gläubig zu sein an das notwendig Gefundene", mehr noch bedrückt von dem zweiten Gramerlebnis "des halb Spielerischen, oft nur denkerisch Artistischen des Werks", das "allzuwenig selbst gesehen, das heißt selbst erlebt, ... ungegessen ... und allzu konstruktiv" ist (U 363). Er sieht sich und andere als "schlammig, lau und ausspeienswert", "die Trägheit des Herzens regiert" (U 346). Und  weiß doch zugleich: "Nur der gute Mensch kann in dieser Nacht der Vernichtung den Morgen herbeiziehen". (U 439)

Schon seit Jahren kämpft Bloch mit diesem Zwiespalt in sich zwischen der hochfliegenden Theorie und dem wirklichen Sein, "wohl eingedenk der Worte Jacobi, wer da wisse Gutes zu tun und tut es nicht, dem ist es Sünde. ... Es ist das erste, zuerst sichtbare Gramerlebnis des Schöpfers, der zerbricht, wenn man ihn nach diesen Maßen mißt" (U 360). Jetzt, da er auf einen Lebemeister trifft, die lebendige Verkörperung seiner Selbsterwartung, Selbsternennung, kann er sich ihm nicht anschließen, kann ihn auch nicht verwerfen, die Spannung steigert sich zur Krise. Die eigene Hoffnung, der kommende Prophet, der Künder einer neuen Religion zu sein, muß aufgegeben werden: abstürzt der Paraklet.

Flugblatt von Gusto Gräser

6c. Zu Datierung und Entstehung

Der Aufsatz 'Die Güte der Seele und die Dämonie des Lichts' ist, nach Blochs eigener Angabe, 1917 entstanden (DW 148). Das inhaltlich zugehörige Pendant 'Über den sittlichen und geistigen Führer oder die doppelte Weise des Menschengesichts' wird zwar in 'Durch die Wüste' auf das Jahr 1920 datiert, an anderer Stelle räumt Bloch jedoch ein, daß der Text auf einen früheren Entwurf von 1917 zurückgehe. Beide Aufsätze sind sicher in einem Atemzug entstanden, in jenem Sommer 1917 in Locarno und Ascona oder kurz danach. Bloch hat sie fast ein halbes Jahrhundert lang für sich behalten, sie wurden erstmals 1964 abgedruckt. Was uns vorliegt, ist mit Sicherheit mehrfach bearbeitet worden - Bloch selbst spricht von "Streichungen" und "Ergänzungen" (DW 148) - , und daher ist anzunehmen, daß die ursprüngliche Fassung noch deutlicher das Gesicht jenes "sittlichen Führers" erkennen ließ, gegen dessen "Güte der Seele" der junge Philosoph die "Dämonie" seines "Lichts" abzugrenzen und abzuschirmen sich genötigt sah.

Dies wird besonders deutlich im Falle des Textes 'Über den sittlichen und geistigen Führer ... ', den Bloch in 'Durch die Wüste' auf 1920 datiert, der also wohl in dieser Zeit überarbeitet worden ist. Nicht nur im geschichtlichen Rückblick erscheint es grotesk, daß "das Urchristentum und alle Idee, Ideologie der Ketzergeschichte", diese "Rebellionen des Menschengesichts" gegen "zentralisierte Herrschaftstartarismen", nun ineins gesetzt werden mit dem "neue(n) revolutionäre(n) Vollzug im Osten" und die christförmig umgehenden Heiligen mit den "russische(n) Führer(n)" (DW 98). Hier hat Bloch bereits die Wandlung vollzogen, die auch den Unterschied von erster und zweiter Fassung von 'Geist der Utopie' ausmacht: weg von den brüderlichen Wanderern in Armut, hin zu den neuen "Herrschaftstartarismen". An die Stelle seines mystisch-gnostischen Ideals von 1917 ist dessen vermeintliche konkrete Erfüllung durch die "russischen Führer" getreten. In seiner Enttäuschung über das eigene Unvermögen projiziert der gestürzte "Paraklet" sein übersteigertes Hoffnungsbild auf die Träger der proletarischen Revolution.


6d. Worte aus dem Schweizer Exil

Das Amulett des nackten Herzens

Dieses war Osten, war Tolstoi, war Rußland; alles geschah von innen her, fast gewaltlos, die revolutionäre Idee wirkte ... nicht tötend wie ein Schwert sondern ... satanvertreibend wie ein Amulett.  (KK 196; 27.2.1918)

Hinüberblicken in eine  ... Zukunft, wo es keinen Krieg mehr gibt ... wo es gilt, asiatisch zu werden, in die östliche Welt, in die Welt Tolstois und Buddhas zu ziehen ... in die Welt Christi, dessen ganzes Leben dieses brüderliche sich Schicken, sich Lieben, dieses Evangelium der Nicht-Gewalt versinnlichte.   (KK 234; 17.4.1918)

All diesen versprengten deutschen Literaten ist zwischen "Kampf" und "Krieg" kein sittlich kategorieller Unterschied erkenntlich. In beiden wirkt vielmehr - nach einer einzigen bedeutungsvollern Theorie - ... der Protestantismus, der Militarismus, der blutige, neblige Norden; dessen Mythologie ... auch nicht die Ahnung eines möglichen Bruches durch Milde, Verzeihen, Güte ... durch das große, Gewalt vertreibende Amulett der Liebe aufweist.  (KK 541; Juli 1918)

Auch kann man nicht, wie es die Aktivisten tun, auf der einen Seite von Petroleum, mit Bakunin, auf der andern von der Nicht-Gewalt, mit Tolstoi, überschwärmen, ohne Bedürfnis, sich des leichten Widerspruchs dazwischen bewußt zu werden. (KK 448) 

Jesus ist im Anderen der Führer, der schließlich gekreuzigte Heiland mit dem Irrtum der großen Reinheit, die nur zu dem Letzten, Spätesten, leicht verloren Gehenden in den Menschen sprach, und die das Kranke, Sinnlose, Unlogische der Welt durch den Kuß und das konstitutive Ignorieren zu heilen glaubte. Das mag manchmal gelingen, das Ignorieren ... aber es steht doch in der Regel so, daß die Seele schuldig werden muß, um das blöde Bestehende zu vernichten ... (U 405)

Nur Messer kann Geschwür vertreiben. Ist man einmal auf dieses Feld gezerrt, dann kann nicht das unbewaffnete Herz, das Herz ohne Hilfsmittel, ohne die der Gewalt homogenen Hilfsmittel, dieser puren Gewalt begegnen. Es wird besiegt und zu ohnmächtig privatem Protest ... indes  die ganze, öffentliche, reale Welt ... okkupiert bleibt, in keiner Weise noch durch Tolstoismus zu fällen. Die vielfach geworfene, verworfene Welt ist so beschaffen, daß nur von oben her, mit Kuß und reiner Gesinnung, das Böse in ihr nicht zu heilen ist. Sondern die Macht muß der Macht noch entgegenstehen, soll diese überwunden werden; das Amulett des nackten Herzens hat sich selbst bei Golgatha noch als kraftlos erwiesen.  (KK 315; 17. 8. 1918)

Und darum bleibt endgültig zu sagen, man muß Mächte ausspielen, wo böse Mächte herrschen, weil die bösen Mächte nicht die Idee, sondern bloß wieder die Kanonen begreifen und allein durch Kanonen widerlegbar sind.  (KK 87 ; Oktober 1917)

Das Herrschen und die Macht an sich sind böse, aber es ist nötig, ihr ebenfalls machtgemäß entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand. (U 406)[2]

6e. Bild eines dionysischen Heiligen

Nimmt man die drei Schriften zusammen, die in Blochs Asconazeit oder kurz danach entstanden sind bzw. abgeschlossen wurden - 'Geist der Utopie' und die beiden Essays 'Güte der Seele' und 'Über den sittlichen Führer' - , zusammen auch mit den in 'Kampf, nicht Krieg' versammelten, sich anschließenden Schriften, so zeichnet sich darin das Bild eines Menschen ab, der "umhergeht", untertaucht, wandert, predigt und wirbt, der franziskanisch lebt, d. h. besitz- und berufslos von milden Gaben sich ernährt, eines Aufständischen, der nichts als die Seele will, der das Selbstwerden lehrt und das Seelenreich und das Eingehen ins allumfassende Wir. Der die Maschinenwelt hasst und an Bauerntum und Handwerk festhalten will, der genossenschaftlich leben will, etwa in einer Gemeinschaftssiedlung auf dem Lande, jedenfalls in einer brüderlichen Liebesgemeinde ohne Herren und Knechte, ohne Zwang und Rang. Der den Kriegsdienst verweigert und mit dem Staat auf Kriegsfuß steht, der jede Art von Organisation ablehnt, dagegen den deutschen Volkskörper regenerieren will. Der aber zugleich den Zug nach Osten hat, zu Tolstoi und Buddha, in das Traumland, Mutterland, Wärmeland der Menschheit. Der "die Kraft zur Güte und Brüderlichkeit" hat (U 301), aber nicht so mild daherkommt wie Jesus sondern grob und mit Zorn gesprenkelt. Der einen unzähmbaren Brand, ein Feuer entfachen will und die dionysisch-luziferische Schlange im Schilde trägt. Der die beseelte Mütterlichkeit feiert, "die große Mutter" (U 357), aber auch das sinnenhafte Weib und den heiligen Eros. Dieser Mensch vertraut auf das Werdenwollende, Zukünftige, den Geist, der sich erst bildet; ihm ist er Künder und Vorkämpfer, Vorbote einer kommenden großen Wandlung, einer Gemeinschaft der "heilig Erneuerten" (U 358). Ihnen geht er voran mit dem Amulett des reinen Herzens, dem Tao der Idee, dem Evangelium der Nicht-Gewalt.

Es ist, mithin, das Bild eines dionysischen Heiligen und diesseitsfrommen Propheten, das Bloch entwirft. Und es handelt sich, zweifellos, um ein Wunschbild von Ernst Bloch, aber ebenso zweifellos um ein Bild, das kein anderer so erfüllt wie Gusto Gräser. Ist Bild und Erfüllung zu trennen? Wenn es ein durchweg selbstgeschaffenes gewesen sein sollte - wie hätte Bloch einem Gräser ausweichen können? Wenn er Gräser im Ernst begegnet ist, wie hätte er anders schreiben können als so? Wenn da zuerst ein Wunschbild war - wie musste diese Verkörperung auf ihn wirken? Wie konnte er auf sie antworten? Wenn aber dieses Bild durch seine Begegnung mit Gräser erst erzeugt oder zumindest gesteigert, vertieft worden sein sollte, wie können wir Inbild und Abbild trennen, Phantasie und Wirklichkeit scheiden?

Alles deutet darauf hin, dass Bloch in Gräser seinem Messiasbild begegnete und  eine Zeit lang von ihm entflammt war. Dass er in der Reformsiedlung Monte Verità einen Vorschein seiner Zukunftsgesellschaft erblickt hat. Möglicherweise hat diese zweifache Konkretion seiner Utopie ihn lebenslang bestimmt, hat ihn unterirdisch geführt unter einer jahrzehntelangen marxistisch-kommunistischen Verkrustung hindurch, ist wieder aufgebrochen in den prophetischen Ketzergestalten von 'Atheismus im Christentum', wurde theoretisch und historisch umkreist in seinem Hauptwerk 'Prinzip Hoffnung'.

 

Gusto Gräser in Freimann vor München, 1956

 

7. Quellennachweis / Fussnoten

Dies sind Auszüge aus dem noch unveröffentlichten Buch von Hermann Müller:



[1]  Seine messianischen Ansprüche läßt er schon 1911 in einem  (undatierten) Brief an Margarete Susman erkennen. Vgl. Margarete Susmann, 'Das Nah- und Fernsein des Fremden', hg. von I. Nordmann, Frankfurt/Main 1992, S. 9.


[2] Die zuletzt zitierte Passage aus der ersten Fassung von 'Geist der Utopie'  - in U 406; abgeschlossen im Mai 1917 - ist in der Vorfassung von 1915 unter dem Titel 'Der undiskutierbare Krieg' - abgedruckt in 'Durch die Wüste', S.10-19 - noch nicht enthalten! Die Frage von Gewalt oder Nicht-Gewalt hat also Bloch zu diesem Zeitpunkt trotz entschiedener Kriegsgegnerschaft noch nicht beschäftigt. Mit anderen Worten: Erst in seiner Ascona-Zeit, ab 1917, wird ihm die Frage von Gewalt oder Nichtgewalt zu einem ihn spürbar bedrängenden Problem. - Hervorhebungen in Fettdruck von mir, H. M.





8. Literaturquellen

  • Christen, Anton F.: Ernst Blochs Metaphysik der Materie. Bonn 1979.

  • Bloch, Ernst: Briefe, 1903 bis 1975.  Erster Band, hg. von Karola Bloch u. a., Frankfurt/M. 1985.

  • Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Erste Fassung. In: Gesamtausgabe Band 16. Frankfurt/M. 1977. ( = GdU I)

  • Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Unveränderter Nachdruck der bearbeiteten Neuauflage der zweiten Fassung von 1923. Frankfurt/M. 1973. (= GdU II)

  • Bloch, Ernst: Kampf nicht Krieg. Politische Schriften 1917-1919. Hg. von Martin Korol. Frankfurt/M.1985. ( = Kampf)

  • Bloch, Ernst: Über den sittlichen und geistigen Führer oder die doppelte Weise des Menschengesichts (1920). In: Derselbe: Durch die Wüste. Frühe kritische Aufsätze. Frankfurt/M. 1964, S. 95-104.

  • Bloch, Ernst: Die Güte der Seele und die Dämonie des Lichts (1917). In: Ebd., S. 141-147.

  • Bloch, Ernst: Atheismus im Christentum. Zur Religon des Exodus und des Reichs. Frankfurt/M. 1968.

  • Hesse, Hermann: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/M. 1970, Band 5.

  • Münster, Arno: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch. Frankfurt/M. 1987.

  • Radkau, Joachim: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München 2005. 

  • Zudeick, Peter: Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch - Leben und Werk. Bühl-Moos 1985.




 
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