Zurück | Ernst Bloch in Ascona Zum Hintergrund von 'Geist der Utopie' |
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Villa Neugeboren in Monti della Trinità sopra Locarno im Jahr 2007 |
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Inhalt
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1. Überblick
Er
will den mechanischen Webstuhl zugleich mit der Kanone in ein Museum
verderblicher Erfindungen stellen. Das eigentliche Ziel der Westkultur
sei Abwasch-barkeit: Badezimmer und Klosett. Gegen die kapitalistische
Abirrung und das Apriori der Maschinenware setzt er auf Handwerk,
Bauerntum und einen neuen spirituellen Adel. Er setzt auf die
Brüdergemeinde, auf das dritte Reich der Seele, auf die Gärtner des
geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll. |
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Blick von der Terrasse der Villa Neugeboren auf den Lago Maggiore und den Monte Verità |
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3. Auszug nach Locarno |
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Zwei
Karten an seinen Freund Georg Lukács, im
Abstand von drei Monaten geschrieben,
belegen Blochs Aufenthalt in Locarno-Monti: (1) Lieber
Djoury! Du kannst beruhigt sein, die Bücher gehören mir. Nicht umsonst hast Du sie von meinem Regal weg Gutermann gegeben, sie stehen auch in der Buchhändlerrechnung verzeichnet, in der ich unterdes nachgesehen habe. Elses: "ich weiß nicht" war ein flüchtiger Zweifel, den sie selbst kurze Zeit danach behoben hat. Nur bitte ich Dich, da wir diesen Samstag nach Locarno fahren, die Bücher noch bei Dir zu behalten und für mich zurechtzulegen. Dagegen wäre ich Dir sehr dankbar, wenn Du die Neue Rundschau, in der mein Nachruf auf Lipps steht, an Herrn Dr. Konrad K. Düssel, Stuttgart, Neues Stuttgarter Tageblatt, schicken wolltest. Herzlich
dankend
und grüßend! Leider
war es mir nicht
möglich, da bisher jeder Tag mit Reisevorbereitung,
Paß, M[anu]skriptzensur
ausgefüllt war, Dein M[anu]skript in Ruhe zu lesen. Ich schicke es also
zurück
und muß auf den Logos warten. (2)
Monti della Trinità (Tessin,
Schweiz) 20. 6.
[19]17
Lieber
Djoury, seit ich
weg bin, habe ich nichts mehr von Dir gehört. Wie geht es? Ist das
Ästhetische
im "Logos" erschienen? Bitte schick es mir dann baldigst zu. Könnte
etwa der Mann, der "ebenfalls" Husserl und Steiner verbinden will,
mein Buch im "Reich" besprechen? Nach einigen vorherigen Tips? Oder
weißt Du sonst jemanden? Es wird in einigen Wochen erscheinen; im
Aushängebogen
wird es Dir vorher schon vom Verlag zugehen. Schreibe bald. Grüße Ljena
[Grabenko].
Dein Ernst (Ernst
Bloch, Briefe
1903-1975. Frankfurt/M. 1985, Band I, S. 191 und 192. Hervorhebungen
von mir,
H. M.)
Wie der
zweite Brief
zeigt, lässt Bloch zu dieser Zeit - gegen Ende Juni - noch keine
Absicht erkennen,
von Locarno wegzuziehen. Er blieb dort bis in den September 1917. Die Briefe von Bloch an
Georg Lukács waren jahrzehntelang verschollen, sie wurden erst Mitte
der
siebziger Jahre im Safe einer Heidelberger Bank entdeckt. Jahre vorher
schon,
um 1970, also ohne Kenntnis dieser Dokumente, hatte mir Hildegard Jung,
geborene Neugeboren, erzählt, dass Ernst Bloch mit seiner Frau Gast in
ihrem
Hause gewesen sei. Die junge Hildegard Neugeboren war 1914 die
alleinige
Bewohnerin des großen Anwesens in Monti. Sie lud erst Hermann Hesse,
dann
andere pazifistisch gesinnte Schriftsteller in ihr Haus, unter ihnen
Klabund
und Ernst Bloch mit ihren Frauen. Sie konnte sich noch erinnern, dass
Bloch
eine Wand zum Schlafzimmer seiner Frau durchbrechen ließ, um immer
Blickkontakt
zu der Kranken zu haben.
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5. „Doppelt unterwegs fürs Licht“: Ein Sprachvergleich
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6. Güte der Seele, Dämonie des LichtsErnst Bloch begegnet Gusto Gräser Der wahrhaft nach Heiligung strebende Mensch ergießt sich, taucht unter, bleibt ein Bruder, wandert und wandelt sich im Anderen ... er trägt allein Frucht im Dritten unter uns, tauschbar einander Eiferer und Helfer, Mahner und Diener, Beichtiger und Vorbild.Ernst
Bloch: Über den sittlichen und geistigen Führer (1917)
Indes nun traten ... halbnomadische Opponenten auf, gegen die Klassenscheidungen wie gegen einen Baal-Jachwe; es waren die Nasiräer. Und sie predigten nichts Geringeres als ein neues religiöses Wunschbild ... : Rückkehr zum einfach-gemeinsamen Leben, Jachwe als Gott der Armen ... mit Gemeineigentum, ohne Herr und Knecht ... Sie verschmähten den Wein ... und noch zur Zeit Jeremiae galt nicht nur diese Enthaltsamkeit, sondern auch das Nomadentum der Rehabiter als Jachwe besonders wohlgefällig ... Zur Abstinenz trat hinzu, daß der Nasiräer kein Schermesser über sein Haupt fahren ließ; im Haar lag ... dem Nasiräer die magische Kraft, die durch keine Domestizierung vernichtete. ... Simson, Samuel, Elias waren Nasiräer ... aber auch Johannes der Täufer, diese ungefüge Gestalt aus der Wüste. "War bekleidet mit Kamelshaaren und mit einem ledernen Gürtel um seine Lenden, aß Heuschrecken und wilden Honig" (Mark. 1, 6), und seiner Mutter ward verkündet: "er wird groß sein vor dem Herrn, Wein und starkes Getränk wird er nicht trinken" ... bei all diesen so Verkündigten kam kein Reicher ins Himmelreich. … Der Nasiräer trat auf als Naturmensch, der Provo, der er war ... Die neuen Propheten, seit Amos, bekämpften daher mit dem Reichtum zugleich die Verflechtung seines Staats in die Welthändel. ... Dieser demokratisch-pazifistische Grundwille, als ein den Nasiräern verwandter, zum Teil mit ihnen verbundener Haß gegen den kanaanitischen Herrenglanz, geht der moralischen Prophetenpredigt vorher und liegt ihr ökonomisch-politisch zugrunde. ... Das alles ist Erbe von den Nasiräern. Ernst Bloch: Atheismus im Christentum (1967) 6a. Der Sturz des ParakletenIn 'Geist der Utopie' will Bloch eine neue Religion proklamieren. Nach der Religion des Vaters, des finsteren Jehova, und der Religion des Sohnes, des allzumilden Jesus, müsse nun das dritte Reich, das Reich des heiligen Geistes, des Parakleten anbrechen. Für diesen Parakleten hält Bloch sich selber, zumindest hegt er die Hoffnung, der kommende Prophet, der Paraklet des neuen Messias zu sein. "Ich bin der Paraklet und die Menschen, denen ich gesandt bin, werden in sich den heimkehrenden Gott erleben und verstehen" (Briefe 67). So fühlt sich, ganz ohne Ironie, der Sechsundzwanzigjährige. "Wer mich ablehnt, der ist von der Geschichte gerichtet", soll er Marianne Weber gegenüber verkündet haben (z. n. Zudeick 45). "Er hielt sich offenbar für den Vorläufer eines neuen Messias und wünschte, daß man ihn als solchen erkannte", berichtet der Soziologe Max Weber, in dessen Haus der "Jüngling mit enormer schwarzer Haartolle und ebenso enormem Selbstbewußtsein" häufig zu Gast war (z. n. Zudeick 45). In Briefen an Margarete Susman sieht er sich am Jüngsten Gericht zur Rechten von Jesus, Moses und Spinoza sitzen. Der jüdische Geist, der durch Moses, die Propheten und die Chassidim hindurchgegangen sei, habe sich nun in seinem Werk, in 'Geist der Utopie', neu inkarniert[1]. Was ist die Botschaft des neuen Propheten? Er verkündet "das System des theoretischen Messianismus" (U 337), der den praktischen, den leibhaftigen Messias vorbereiten soll. Dieser Messias verkörpert die neueste oder letzte Stufe eines theogonischen Prozesses und zugleich eines Prozesses der Menschheit, an dessen Ende der Umschlag in die Apokalypse erfolgt. Es entsteht ein neuer Himmel und eine neue Erde dann, wenn der alte Jehova seinen finsteren Molochsgrund verlassen hat und zugleich der Mensch zur innersten Selbstbegegnung, zur Enthüllung seines verborgenen Angesichts gelangt ist. Der "abgelaufene Vatergott", "die Bösartigkeit des uns hassenden, rachsüchtig gewordenen, von uns überholten Moments in Gott" (U 434), ist "mit brennender Liebe bis in sein Innerstes, Letztes, Heiligstes hinein zu zerbrechen" (U 381). Aber auch Jesus, der "allzu milde" (U 380), der "nur ein Helfer, kein Erlöser war" (U 331), ist gescheitert. Er lebte den "Irrtum der großen Reinheit" (U 405), die das Kranke, Rohe, Sinnlose der Welt durch den Kuß der Liebe zu heilen glaubt. Jetzt muß ein neuer Christus kommen, der höherstehende Luzifer, die Schlange, der Dionysos in Christus muß erwachen und das "blöde Bestehende" (U 405) der Jehova-Welt mit jehovaischen Waffen, mit "genau einschlagende(r) Gewalt" niederschlagen, "als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand" (U 406). Das "Amulett des nackten Herzens" (KK 315), das waffenlose Tao der Liebe (KK 484), hat seine Ohnmacht vor Kanonen erwiesen. Damit die Erde endlich in den Himmel verwirklicht werde, muß ein gewalttätiger Christus kommen, ein Jesus mit der Peitsche, nur so kann sich Religion und Revolution, Religion und Politik, Karl Marx und Apokalypse verbinden. Damit ist in 'Geist der Utopie' im Prinzip schon vorbereitet, was später kommen sollte: Stalin, der offenkundige Massenmörder, als "Richtgestalt der Liebe", Moskau als neues Jerusalem. Schon in 'Geist der Utopie' wird das messianische Endreich nach Moskau projiziert. Bloch sieht "in der russischen Revolution zum ersten Mal Christus als Kaiser" eingesetzt. (U 299) Mit anderen Worten: Was Bloch in die Theogonie, in den Messianismus, in die jüdisch-christliche Religion als dritte Stufe einbringt, ist im Kern die Gewalt. Zwar soll im Umschlag daraus das Reich der Brüderlichkeit und Liebe entstehen, aber auf diesem "Umweg". Bloch, der Prophet einer neuen Religion, die Moses und Jesus überholt, sie um Marx und die Seelenwanderungslehre bereichert, die einen Prozeß in Gott und einen kosmischen Prozeß zum Besseren hin postuliert, Bloch, der die Türen zum Himmel aufreißen will, der Gott zu seinem besseren Selbst zwingen will, der das Ende der Gottesnacht herbeisehnt und den Messias vor der Tür stehen sieht: - "Es ist uns morgendlich zumute ... Es ist uns weihnachtlich zumute ... Es ist irgendwie in uns selig ... Es ist in uns, in der Zeit, wie ein erleuchtetes Fenster ... der Tröster ruft draußen vor der Tür ... Irgendwie ist das Matte vorbei, ein uralter Sturm will sich erheben, wie er zweitausend Jahre unter den Horizont gebraust war ... und jetzt wiederkommt, ... der Lichtbringer" (U 345). - Bloch also, der Verkünder eines "dritten Reiches" (U 341), des "Himmelreich(s) der Seele" (U 380), das Judentum, Christentum und Moderne in sich aufhebt, in dem zerstört werden soll das "böse Bestehende" (U 405), dieses "Zuchthaus, Irrenhaus, Leichenhaus Erde" (zit. in Münster 64) und geschaffen "das wahrhafte Menschenreich, vielfältigste Selbstreich" (U 381), der Aufstieg "Jesus-Luzifer-Christus entgegen, unserem Haupt," (U 380) - dieser Bloch begegnet nun auf Monte Verità einem anderen Propheten. Auch Gusto Gräser fühlt sich berufen, auch er sieht sich als Träger einer neuen Botschaft, aber seine Ansprüche sind wesentlich bescheidener. Er hat keine Lehre zu bieten, kein System, schon gar nicht die Einsicht in das Werden Gottes oder in den kosmischen Prozeß, er beruft sich auf keine Tradition, weder auf Moses noch auf Jesus noch auf Marx, er verkündet keine Apokalypse und kein neues Paradies. Er kann noch nicht einmal eine neue Moral bieten, denn er möchte nur leben, was aus ihm heraus will, was von selber kommt: Echtsein ist Alles! - Echt sein - zwanglos von Selbst sein - treugetrost Mensch sein - und Leben, es ringt ... Er überlässt sich seinem Traum, seinem Wahn, seiner inneren Stimme; das ist alles.Leben, wie es uns tief gefällt. Aber was ihm gefällt, das ist eben des Menschen Frohberuf: ein Mannskerl, hah, ein Freund zu sein!. Freundsein ist seine ganze Botschaft, man könnte auch sagen: Liebe. Als Freund wandert er durch die Lande, besitzlos, heimatlos, klopft an bei den Menschen, um Freunde zu finden, Freunde zu schaffen. Aus ihnen wird sich eines Tages eine Gemeinschaft, eine Herzgemeinde bilden und die Blütezeit des Menschen, die Erdsternzeit herbeiführen. Blütezeit ist seine andere Botschaft. Keine Rede von Untergang oder Apokalypse, kein Drohen mit himmlischen oder irdischen Katastrophen. Ein strahlender Optimismus durchflutet sein Dichten und Künden:
Froheit, Freude will die Welt durchglühen ... uns durchglühen will Frohkämpferkraft ...
Freilich ist es kein billig zu habender Optimismus. Kein Paradies wird versprochen, weder ein himmlisches noch ein irdisches, sondern im Gegenteil: alle Sehnsucht nach Paradiesen sei nichts als feige Flucht vor der Wirklichkeit, sei Flucht vor Mühe, Kampf und Not, sei Angst vor Arbeit und Schmerz: Bäbiphantasien von wirklichkeitsscheuen Parasiten. Gräsers Weltsicht ist geradezu die Umkehrung der Blochschen: keinesfalls ist die Erde der Sündenfall Gottes, aus der Gott und Mensch sich befreien müssen, sondern diese christlich-jüdische (aber eigentlich: gnostische) Lehre ist der Sündenfall des Menschen, aus dem er sich befreien muß, um von einem falschen Gottesbild zur Wunderwirklichkeit, zur Wunderwelt, der besten Welt zu genesen. Spruchblatt von Gusto Gräser Dazu gehört zu allererst das Ja zur Not, zur Kraftglückmuter Not, zur Allweltmutter Not.
Freih willst du sein - und flüchtest, fliehst die Not? - Oh Narrenfaxen! Freih lebt nur der, der im Entschlusse lebt: Im Kampf mit Dir, o Not, will - ich - Dir - wachsen! Ohn Dich - Urdrang - ist Freiheit nur Geschrei, nur Schlemmerbrei. Du schaffst den Freund - und nur der Freund ist freih!
Der Arbeit, dem Kampf, der Not als der eigentlichen Wirklichkeit des Daseins ins Auge zu blicken, sie zu bejahen, sie freudig auf sich zu nehmen - das ist seine Philosophie, die er praktisch bewährt. Es ist die Philosophie eines Menschen, der für seine Freiheit, seine Selbstbestimmung, sein unreguliertes, durch keine Sitte, kein Gesetz zu fesselndes Denken und Handeln jedes Opfer zu bringen bereit ist. Es ist die Philosophie eines modernen Diogenes - ohne dessen Schamlosigkeit und Sarkasmus. Flucht vor der Not sieht er in der jüdisch-christlichen Tradition, Flucht vor der Not sieht er ebenso - und noch mehr - in der grausamen mechanischen Täuschung der Moderne, ihrem Culturplunder und Warrenwirrwarrwust, ihrem Naturbeherrschungswahn und ihrer Zukopfgestiegenheit, letztlich hier wie dort in dem seit Jahrtausenden inthronisierten Irrwahn des Willens zur Macht. Dem Willen zur Macht, diesem Trottelidol der Jahrtausende, setzt er seinen Willen zur Not entgegen, den Mut zur Armut, die Bereitschaft zu Bescheidung und Selbstbeschränkung. Heilschatz Bescheidenheit Spruchblatt von Gusto Gräser Auch er sieht einen neuen Menschen kommen. Nicht den personifizierten "kategorischen Imperativ mit dem Revolver in der Faust" sondern den Menschen der Ehrfurcht zum Selbst in dem geringsten Ding, den Gewaltlosen und darum Stillgewaltigen, den mütterlich pflegenden und hegenden Hirten und Wirt der Welt, den alle Not dankbar verwendend-verwandelnden Gärtner des Wirweltbaums.
Wohlauf, Weltwirt, hah, tiefwillkommen, Mann ...
Er nennt ihn auch den Sohn der Erde, den Erdsternsohn, und die Zeit, die er mit sich heraufbringt, die Erdsternzeit oder Gartenzeit, des Menschen Blütezeit. Auch Gräser verkündet einen neuen Äon, einen Jungäon, aber ganz ohne metaphysischen Apparat, ohne kosmisches oder theologisches Mobiliar. Ihm genügt völlig der Herzgott, der Freund Alldrein, der allerdings nicht mehr nur vater-liche, nicht mehr herr-liche, eher schon mütterliche, vor allem aber entschieden paarige, allpaarende Urvatermuttergrund. Daß er, von allem Anfang an, zu diesem Grunde geht und aus diesem Grunde kommt, ist eine Selbstverständlichkeit, über die kaum geredet wird, die ihn aber nicht in ein Jenseits führt oder irgendeine Spekulation, sondern hierher ins ewige Sein. Hier ist All. Der Vatermuttergrund ist auch die Vatermutterwelt, das Wunder ist Wirklichkeit und die Wirklichkeit ein Wunder, eben: Wunderwirklichkeit. Die gilt es zu ehren, den Erdenstern zu retten vor der Vernutzungswut der Kahlgescheiten, der Ratzrationalen, der Zweckezwerge und Wichtigwichte. Das Ich gibt es nicht, nur WIR leben, o Freund, nur das Lebwirall, die Wir-weltwirklichkeit. Freilich finden wir zum Wir nur durch das Selbst - Mein ist das Herz der Ge-mein-schaft. Daß jeder von uns er selbst werde, zu seinem Eigenen und Eigentlichen finde, die Heimkehr zum Selbst, die zugleich eine Heimkehr zum Allselbst, zum Allgeist sei, das ist vielleicht der letzte Kern seiner Botschaft. Das also ist der Mann, dem Bloch im März oder April des Jahres 1917 gegenübersteht. Was kann sich, was wird sich in dem Jüngeren bewegen? Wie wird der Prophet des apokalyptischen Messianismus antworten auf den Propheten der Erdsternzeit? Das also ist der Mann: Er lebt mit Weib und Kindern, acht an der Zahl, auf einem Grundstück hoch über Ascona, mit Blick auf den See, mit Blick nach Locarno und zum ebenfalls hochgelegenen Monti della Trinità auf der anderen Seite der Maggia-Mulde.Er verschmäht Fleisch, Alkohol und Nikotin, aber er ist kein Asket, im Gegenteil, er predigt das heilige Genießen. Nur Lust und Lieb kann retten ist seine Parole, und, wie er selbst in einem Flugblatt dieses Jahres sagt, Freude und Frohsinn erfüllt die Räume seines Hauses. Der Mann ist ungewöhnlich vital, gesund, groß und kraftvoll, von ruhigen und sicheren Bewegungen, mit wohltönender tiefer Stimme. Er trägt eine selbsterfundene Tracht, halb Propheten-, halb Narrengewand, rübezahlhaft, mit Troddeln am Saum der Kutte und einer schwanzartigen Zuspitzung hinten: indianisch, germanisch, altgriechisch, bäurisch, mittelalterlich, täuferisch, hippiehaft - die Beschreibungen wechseln -, jedenfalls extrem auffallend, außergewöhnlich, exotisch, aus jedem Rahmen steigend. Die Kinder auf der Straße laufen ihm nach; er gilt als "Naturmensch" oder "Naturapostel", die Münchner nennen ihn "Kohlrabiapostel", die Berliner „Kristus des Westens“ oder „Kartoffelchristus“. In Ascona lebt er - scheinbar - die Idylle: zwei kleine Häuschen, selbstgebaut alles mit seinem Bruder zusammen, in einem eigenen, bucklig rauhen, warmen, naturnahen Stil, Erdwärme und Gemütswärme in allem, nach Holz, Heu und Backofen duftend. In dem einen der Häuschen, einer ehemaligen Weinberghausruine, die er sein "Ruh-inne" getauft hat und die ihm als Atelier dient, empfängt er seine Gäste. Er ist handwerklich begabt, schneidert, schustert, bildhauert, malt. Er druckt seine Gedichte selbst, auf farbigem Karton, verkauft oder verschenkt sie auf den Straßen. Aber die Idylle ist sturmumtobt, von Hunger bedroht und von Gläubigern, von den Staatsorganen und von der Leutemeinung. Er ist Ausländer, Kriegsdienstverweigerer, hat keine Aufenthaltsgenehmigung, stört und empört die Leute durch seine Kleidung, seine Lebensweise, seine Gesinnung. Seit er im September 1916 aus österreichischem Militärkerker in die Schweiz zurückgekehrt ist, hat er - innerhalb von 6 Monaten - bereits Ausweisungen aus Zürich und Bern und eine Verhaftung in Locarno hinter sich. Verhaftungen, Abschiebungen, Gefängnisaufenthalte und die tägliche Not des Überlebens-kampfes spielen die rauhe Begleitmusik zur bukolischen Szenerie. Das "Naturmenschen-paradies", diese Insel des Friedens mitten im Tosen des Weltkriegs, wo der neue Robinson im selbstgebauten Einbaum über den See rudert, um auf den subtropischen Brissagoinseln Südfrüchte aufzusammeln - diese Insel ist von allen Seiten bedroht. Aber es gibt Freunde, die zu ihm stehen, ihm immer wieder aus der Not helfen, die zu abendlichen Gesprächen in seiner Hütte sich versammeln. Die Tänzerin Mary Wigman gehört dazu, Mia und Hermann Hesse, der Psychoanalytiker Johannes Nohl, der Tiefseeforscher Auguste Piccard, und nun auch, vermutlich durch Hesse eingeführt, der philosophische Schriftsteller Ernst Bloch. Wie wir hören, bringt er mythologische und religionsgeschichtliche Bücher ins Haus; aus den Schriften der Mystiker wird vorgelesen: Böhme und Baader, Novalis, Laotse. Gräser arbeitet an seiner Nachdichtung des 'Tao Te King', und er wird daraus vorgetragen haben. Nohl steuert seine profunde Kenntnis Baaders bei, Hesse kennt die Lehren C.G. Jungs, Bloch entfaltet seine Meinung, daß die Menschheit in Träumen und Mythen immer neu das Bild ihrer Zukunft entwerfe. Soeben hat Amerika den Mittelmächten den Krieg erklärt, in Rußland ist die Revolution losgebrochen, Lenin befindet sich auf dem Weg nach Petersburg - alle wissen und spüren: dies ist der Moment des Umbruchs; mehr als ein Krieg und ein politisches System, ein Zeitalter geht zu Ende. Und sie, diese kleine Runde, die Flüchtlinge und Ausgestoßenen der Alten Welt, ihre Rebellen, ihre Aussteiger, sie sind die Hoffnung des Neuen, die Erstlinge der Zukunft. Auf ihre Schultern ist alle Verantwortung geladen: wie wird, wie soll diese Neue Welt aussehen? - Eine ungeheure Spannung liegt in der Luft: Anspannung der Phantasie und des Gewissens. In diesem engen, von Hoffnungsenergien und Untergangsängsten geladenen Raum, in der Dunkelheit dieser Weltstunde, die in den Wehen der Geburt steht, keimen die Ideen zu zwei Büchern, die man später die "Bibel der Jugendbewegung" und die "Bibel des Expressionismus" nennen wird: Hesses 'Demian' und Blochs 'Geist der Utopie'. In Einem sind sich die Anwesenden einig: Der überkommene kulturelle Apparat ist zu Schrott gefahren, eine neue Grundlage, ein neuer Mythos muß geschaffen werden. Darum die Beschäftigung mit der Geschichte der Mythen und der religiösen Denker. Diese Geschichte gilt es fortzusetzen: neu beginnend aus ältesten Wurzeln. ‚Freund’. Zeichnung von Gusto Gräser (im Negativ) 6b. „Paraklet“ und „Erdsternsohn“Daß sie sich einig sind im Politischen, in dem, was sie ablehnen und bekämpfen, ist keine Frage. Daß Bloch die sozialen Vorstellungen Gräsers teilt, ist aus seiner Utopie-Schrift zu entnehmen. Daß Hesse wie Gräser, Nohl wie Bloch letztlich in einer religiösen Neubegründung mit mütterlich-maternalem, westöstlich-spirituellem Gesicht die not-wendende Lösung sehen, geht aus ihren Schriften hervor. Aber Lehren und Meinungen sind Vordergründigkeiten. Wie antwortet der Mensch auf den Menschen? Wie reimt oder reibt sich der "Paraklet" mit dem „Erdsternsohn“? Wir nähern uns damit einem schwer zugänglichen Terrain. Unmittelbare Dokumente gibt es dazu nicht. Wir haben allerdings ein indirektes Zeugnis darüber in zwei Schriften, die 1917 in Locarno-Ascona entstanden, von Bloch aber erst in seinen letzten Lebensjahren in Druck gegeben worden sind. Es handelt sich um die beiden Aufsätze 'Die Güte der Seele und die Dämonie des Lichts' und 'Über den sittlichen und geistigen Führer oder die doppelte Weise des Menschengesichts', abgedruckt 1964 in 'Durch die Wüste', S.141-147 und Seite 95-104, und in 'Philosophische Aufsätze'. Schon ein Vergleich der beiden Titel verrät, daß hier wie dort das selbe Thema in Frage steht. Worum geht es? Es geht, wie die Titel schon sagen, um die Güte der Seele oder die "ethische" Tugend und den "sittlichen Führer" einerseits und um die "Dämonie des Lichts", den "geistigen Führer" oder die "dianoëtische" Tugend des Denkens andererseits. Es geht Bloch darum, die Leistung des Denkens für gleichwertig zu erklären mit der sittlichen Tat. Wie kommt er dazu? Nun - hatte er nicht das Bild eines neuen Menschen entworfen, gerade in seinen Aufzeichnungen zu 'Geist der Utopie', undeutlich zwar und doch erkennbar, eine Messiasgestalt, einen Über-Christus, der den historischen Jesus, den "allzumilden", überholen und ablösen sollte? Einen Zukunftsmenschen, der das "Aufständische", das "Rebellische", das Luziferische und Dionysische in Christus stärker in sich tragen und die Kraft des Inneren stärker ins Äußere, ins Politische einströmen lassen würde? Hatte er nicht den "letzte(n), unbekannte(n) Christus" gerufen (U 332) , das Heldenhafte in uns, die "Schlange in Christus", den "Erretter" und "Überwinder"? (U 441f.) "Gutsein, wo es eines ist, kommt nie so mild an sich daher", schreibt er in 'Güte der Seele', nicht als "leicht scherbares Lamm", nicht als "Schwachmatiker" und "Duckmäuser" (DW 141). "Die wirklich christförmige Güte ist auf dunklen Grund gezogen. ... Gewiß nicht mit irgendeinem Haß gesprenkelt, gar mit egoistischer Gier, wohl aber, solange die Welt im Argen liegt, mit Zorn ... Jesus hat die Wechsler aus dem Tempel gepeitscht, ein Feuer angezündet, und er wollte, es brennte schon. ... Jesus hat bekanntlich gerade viele betrübt ... , der Geringe, doch eben deshalb von grober Größe, ... ein Überwinder, der franziskanisch leben wollte, statt auf der Herrenseite. Wie nun erst, mit Sprung, wenn jenes andere Gutsein aufzieht, das nicht umhergeht, sondern - baut ... " (DW 142f.) Mit dem ersten "Führertypus", dem sittlichen nämlich, so schreibt er in 'Über den sittlichen und geistigen Führer', "kommen allein die täuferischen ... Zeiten wieder, die Tage Münzers und des überall werbenden, untertauchenden, umgehenden Prädikantentums, die Soziologie einer universal-spirituellen Leids-, Liebes- und Erwartungsgemeinschaft, einer überökonomischen, überpolitischen, von aller Wirtschafts-, Verwaltungs- und Regierungssphäre emanzipierten." (DW 99) Und nun stand da einer vor ihm, der dies alles erfüllte - ein überall werbender, um(her)gehender, untertauchender und wieder auftauchender Wanderer, Wanderprediger (Prädikant!), ein Geringer von grober Größe, ein Überwinder, der franziskanisch lebte und nicht auf der Herrenseite. Einer, der mit Wirtschafts- und Regierungssachen nichts zu tun haben wollte, der dichtete, schrieb und münzerisch predigte – gewaltig aber stillgewaltig, d. h. gewaltlos -, in Mühlhausen (wo er zeitweise sich aufhielt) und anderswo:
Ihr Herrschaften alle, in blutloser Macht, vorbei ist die Zeit eurer protzenden Pracht, vorbei die Zeit eurem rachigen Recht nach Sätzen und Paragrafen, nun kommet die andre, weit hinter dem Neid, die Glühenden, Frommen, die Herzhaften kommen und bringen mit Singen die Blütezeit! Vorbei, ihr Herrn von Knechte, um um ist eure Zeit ... Herrschaften müssen fallen, wie welkes Blatt vom Baum ...
Kein milder Dulder nur, kein "Schwachmatiker" und "Duckmäuser", kein "keusche(r) Josef" und "leicht scherbares Lamm". Christförmige Güte zwar, aber "auf dunklen Grund gezogen, gewiß nicht mit irgendeinem Haß gesprenkelt", wohl aber "mit Zorn" (U 142), mit Liebezorn (GG). Einer, der donnerte gegen Tristentum und Staatsgesindelzucht, gegen Mammonarchen und Plutokrotten, gegen Hohlkultur und Kriechokratie, der kämpfend zum Kampf aufrief und raufend zu RAufrichtigkeit mahnte - und sich doch nicht scheute, dionysisch den Tanz zu feiern und den Leib, die Lust und das Weib und das heilige Genießen, der als Banditen des Weltbummelbunds sich bezeichnete, der seine grüne Zigeunerkarre mit der Schlange bekrönte, der holzgeschnitzten.
Heilloh, flamm auf, mein Zorn, Heilzorn voll Freudelodern!
Einer, der gewiß auch viele betrübte - den Bürgern ein „schlechter Kerl“, Anstoß und Ärgernis, den Behörden ein "Staatsgefährlicher", den Dogmengläubigen ein Ketzer, den Siebengescheiten ein Narr. Wie also? Solches schreibt Bloch im Sommer 1917, während ein solcher Mensch ihm vor Augen steht? Stand der Prophet, der erhoffte, nicht vor seiner Tür? Mußte Bloch ihm nicht auftun - sich ihm auftun?? Hatte er nicht geschrieben, mehr als einmal, es gebe nur eine Sünde, die eigentliche Ursünde, die nämlich: nicht sein zu wollen wie Christus? Er war nach Ascona geeilt, um Menschen zu finden, oder wenigstens einen, der seinen hohen Anspruch einlösen könnte. Nun hatte er einen gefunden, einen solchen zwar, der seine Hoffnung höher und anders erfüllte als ihm lieb sein konnte. Wer war nun der Paraklet? Wer hatte wem zu folgen? Oder gab es hier Gleichrangigkeit in irgendeiner noch zu bestimmenden Weise? "Der wahrhaft nach Heiligung strebende Mensch ergießt sich, taucht unter, bleibt ein Bruder, wandert und wandelt sich im Anderen", ist "Eiferer und Helfer, Mahner und Diener, Beichtiger und Vorbild". So schreibt er im Sommer 1917. Es ist die exakte Beschreibung des Mannes, der da vor ihm steht. Sollte er mitwandern, untertauchen, ein Bruder für alle werden, Mahner und Diener, Helfer und Vorbild? Sollte er wie Gräser als bekennender Verweigerer sich vor ein Erschießungskommando stellen lassen? Sollte er ohne Geld in der Tasche, ohne Dach überm Kopf in härener Kutte durch die Lande ziehen, auf das Erbarmen der Leute angewiesen, von Hunden und Polizisten gehetzt, vom Pöbel verhöhnt, von den Klugen verachtet? Sollte er noch sein Bestes, seine hochgetriebenen, alles Bisherige überbietenden Theorien und Spekulationen von sich werfen? Gusto Gräser 1928 in Berlin Denn dieser Prophet rührte auch an Götzen, die dem Bürger und Philosophen Bloch noch heilig waren, denen er noch diente: Marxismus - das war für Gräser die Pest, Revolution - eine Rüppelution der ewigen Knechte, Macht war ihm der Mörder an sich, vor allem aber wetterte er gegen die Verstandvereisten, die Ratioratzen, gegen die Zukopfgestiegenheit der Hirnvernarrten, gegen den Wisswust der Wissensgierigen und ihre zerklitternde Verstandesmache, ihre blutleere Bibliothekenbildung. Nein, diesen Sprung in die Nacktheit der Armut und des mystischen Nichtwissens will und kann er nicht leisten. Wohl aber muß er einsehen, daß er mit seinem hochgespannten Anspruch an sich selbst gescheitert ist. Was tun? Wie seine Selbstachtung retten? - Bloch entscheidet sich dafür, das sittliche Tun andern zu überlassen - das ist der Sinn jener Meditation über die 'Güte der Seele und die Dämonie des Lichts' - und sich die "dianoëtische Tugend" des Denkens zuzuweisen, die er vom sittlichen Tun erst scheidet und dann für gleichwertig erklärt. "Güte der Seele ... ist und bleibt nicht das gleiche wie Dämonie des Lichts; die ethische und die dianoëtische Tugendweise sind im Tenor unterschieden" (DW 145). Güte der Seele: das ist der im Volk umgehende und in Armut untertauchende Wanderprediger; Dämonie des Lichts: das ist der "geistige Schöpfer", dessen Denken "empirisch noch ungelebt, nur in Zeichen und Symbolen geschehend" sich ausspricht (DW 102). Der eine ist ständig im Fluß, in "unablässig tauchende(r), tauschende(r), ... exzentrische(r) Bewegung", immer auf dem Weg "zum Anderen, mit dem Anderen" (ebd. 99); der andere erscheint "wesensgemäß ragend", "wahrhaft einsam", "tauscht sich auch nicht brüderlich aus", sondern richtet seinen Blick auf die "in ihm lediglich manifestierte Sache". (DW 101) So sich abgrenzend kann Bloch sein hohes Selbstverständnis sich einigermaßen bewahren, angeschlagen zwar, reduziert auf nur einen, den theoretischen Flügel, aber doch mit der Hoffnung, im "Hochgebirge der herzustellenden, der riesig heraufzurufenden Sicht" der "Brüderlichkeit im Wandel" - also dem praktischen Tun - und ihrer tiefergelegenen "Ebene" ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen zu sein. (DW 147) So kann er sich, gönnerhaft fast, dem Mann der Tat an die Seite stellen: "Zum rechten christförmigen Vollzug gehört: Ebene der herzustellenden Brüderlichkeit im Wandel, Hochgebirge der herzustellenden, der riesig heraufzurufenden Sicht. Und all das in einem einzigen Zug, einem hart kontrastierenden, nirgends dualistischen - doppelt unterwegs fürs Licht." (DW 147) Ein Brüderpaar also: Kastor Gräser und Pollux Bloch, auf verschiedenen Wegen wandelnd, der eine im finstern Tal der Armut, der andere im Hochgebirge der geistigen Sicht. Es handle sich um "verschiedene Schichten des kreatürlichen Umbruchs", aber "verbindend bleiben der Umbruch ... und das - auf ein gemeinsames Ziel hinorientierte - Hellwerden". (DW 145) Was Bloch in diesen Aufsätzen sonst an Gedanken, tiefsinnigen und bedenkenswerten, anspinnt, darf hier außer Betracht bleiben. Uns geht es allein um das Bild des sittlichen Führers, das er entwirft, und um die Beobachtung, wie er fast verzweifelt sich abmüht, neben diesem "gute(n) Mensch(en)" (DW 101) sich als "der schöpferische Mensch" gleichrangig zu behaupten. Dergleichen Aufwand treibt nicht, wer nicht aufs Äußerste herausgefordert, ja bedroht ist von einem als überlegen empfundenen Gegenüber. Bloch ist bedrückt von dem "vollen Gramerlebnis des Schöpfers, nicht nur nicht würdig, sondern auch nicht gläubig zu sein an das notwendig Gefundene", mehr noch bedrückt von dem zweiten Gramerlebnis "des halb Spielerischen, oft nur denkerisch Artistischen des Werks", das "allzuwenig selbst gesehen, das heißt selbst erlebt, ... ungegessen ... und allzu konstruktiv" ist (U 363). Er sieht sich und andere als "schlammig, lau und ausspeienswert", "die Trägheit des Herzens regiert" (U 346). Und weiß doch zugleich: "Nur der gute Mensch kann in dieser Nacht der Vernichtung den Morgen herbeiziehen". (U 439) Schon seit Jahren kämpft Bloch mit diesem Zwiespalt in sich zwischen der hochfliegenden Theorie und dem wirklichen Sein, "wohl eingedenk der Worte Jacobi, wer da wisse Gutes zu tun und tut es nicht, dem ist es Sünde. ... Es ist das erste, zuerst sichtbare Gramerlebnis des Schöpfers, der zerbricht, wenn man ihn nach diesen Maßen mißt" (U 360). Jetzt, da er auf einen Lebemeister trifft, die lebendige Verkörperung seiner Selbsterwartung, Selbsternennung, kann er sich ihm nicht anschließen, kann ihn auch nicht verwerfen, die Spannung steigert sich zur Krise. Die eigene Hoffnung, der kommende Prophet, der Künder einer neuen Religion zu sein, muß aufgegeben werden: abstürzt der Paraklet. 6c. Zu Datierung und EntstehungDer Aufsatz 'Die Güte der Seele und die Dämonie des Lichts' ist, nach Blochs eigener Angabe, 1917 entstanden (DW 148). Das inhaltlich zugehörige Pendant 'Über den sittlichen und geistigen Führer oder die doppelte Weise des Menschengesichts' wird zwar in 'Durch die Wüste' auf das Jahr 1920 datiert, an anderer Stelle räumt Bloch jedoch ein, daß der Text auf einen früheren Entwurf von 1917 zurückgehe. Beide Aufsätze sind sicher in einem Atemzug entstanden, in jenem Sommer 1917 in Locarno und Ascona oder kurz danach. Bloch hat sie fast ein halbes Jahrhundert lang für sich behalten, sie wurden erstmals 1964 abgedruckt. Was uns vorliegt, ist mit Sicherheit mehrfach bearbeitet worden - Bloch selbst spricht von "Streichungen" und "Ergänzungen" (DW 148) - , und daher ist anzunehmen, daß die ursprüngliche Fassung noch deutlicher das Gesicht jenes "sittlichen Führers" erkennen ließ, gegen dessen "Güte der Seele" der junge Philosoph die "Dämonie" seines "Lichts" abzugrenzen und abzuschirmen sich genötigt sah. Dies wird besonders deutlich im Falle des Textes 'Über den sittlichen und geistigen Führer ... ', den Bloch in 'Durch die Wüste' auf 1920 datiert, der also wohl in dieser Zeit überarbeitet worden ist. Nicht nur im geschichtlichen Rückblick erscheint es grotesk, daß "das Urchristentum und alle Idee, Ideologie der Ketzergeschichte", diese "Rebellionen des Menschengesichts" gegen "zentralisierte Herrschaftstartarismen", nun ineins gesetzt werden mit dem "neue(n) revolutionäre(n) Vollzug im Osten" und die christförmig umgehenden Heiligen mit den "russische(n) Führer(n)" (DW 98). Hier hat Bloch bereits die Wandlung vollzogen, die auch den Unterschied von erster und zweiter Fassung von 'Geist der Utopie' ausmacht: weg von den brüderlichen Wanderern in Armut, hin zu den neuen "Herrschaftstartarismen". An die Stelle seines mystisch-gnostischen Ideals von 1917 ist dessen vermeintliche konkrete Erfüllung durch die "russischen Führer" getreten. In seiner Enttäuschung über das eigene Unvermögen projiziert der gestürzte "Paraklet" sein übersteigertes Hoffnungsbild auf die Träger der proletarischen Revolution. 6d. Worte aus dem Schweizer ExilDas
Amulett des nackten Herzens Dieses war Osten, war Tolstoi, war Rußland; alles geschah von innen her, fast gewaltlos, die revolutionäre Idee wirkte ... nicht tötend wie ein Schwert sondern ... satanvertreibend wie ein Amulett. (KK 196; 27.2.1918) Hinüberblicken in eine ... Zukunft, wo es keinen Krieg mehr gibt ... wo es gilt, asiatisch zu werden, in die östliche Welt, in die Welt Tolstois und Buddhas zu ziehen ... in die Welt Christi, dessen ganzes Leben dieses brüderliche sich Schicken, sich Lieben, dieses Evangelium der Nicht-Gewalt versinnlichte. (KK 234; 17.4.1918) All diesen versprengten deutschen Literaten ist zwischen "Kampf" und "Krieg" kein sittlich kategorieller Unterschied erkenntlich. In beiden wirkt vielmehr - nach einer einzigen bedeutungsvollern Theorie - ... der Protestantismus, der Militarismus, der blutige, neblige Norden; dessen Mythologie ... auch nicht die Ahnung eines möglichen Bruches durch Milde, Verzeihen, Güte ... durch das große, Gewalt vertreibende Amulett der Liebe aufweist. (KK 541; Juli 1918) Auch kann man nicht, wie es die Aktivisten tun, auf der einen Seite von Petroleum, mit Bakunin, auf der andern von der Nicht-Gewalt, mit Tolstoi, überschwärmen, ohne Bedürfnis, sich des leichten Widerspruchs dazwischen bewußt zu werden. (KK 448) Jesus ist im Anderen der Führer, der schließlich gekreuzigte Heiland mit dem Irrtum der großen Reinheit, die nur zu dem Letzten, Spätesten, leicht verloren Gehenden in den Menschen sprach, und die das Kranke, Sinnlose, Unlogische der Welt durch den Kuß und das konstitutive Ignorieren zu heilen glaubte. Das mag manchmal gelingen, das Ignorieren ... aber es steht doch in der Regel so, daß die Seele schuldig werden muß, um das blöde Bestehende zu vernichten ... (U 405) Nur Messer kann Geschwür vertreiben. Ist man einmal auf dieses Feld gezerrt, dann kann nicht das unbewaffnete Herz, das Herz ohne Hilfsmittel, ohne die der Gewalt homogenen Hilfsmittel, dieser puren Gewalt begegnen. Es wird besiegt und zu ohnmächtig privatem Protest ... indes die ganze, öffentliche, reale Welt ... okkupiert bleibt, in keiner Weise noch durch Tolstoismus zu fällen. Die vielfach geworfene, verworfene Welt ist so beschaffen, daß nur von oben her, mit Kuß und reiner Gesinnung, das Böse in ihr nicht zu heilen ist. Sondern die Macht muß der Macht noch entgegenstehen, soll diese überwunden werden; das Amulett des nackten Herzens hat sich selbst bei Golgatha noch als kraftlos erwiesen. (KK 315; 17. 8. 1918) Und darum bleibt endgültig zu sagen, man muß Mächte ausspielen, wo böse Mächte herrschen, weil die bösen Mächte nicht die Idee, sondern bloß wieder die Kanonen begreifen und allein durch Kanonen widerlegbar sind. (KK 87 ; Oktober 1917) Das Herrschen und die Macht an sich sind böse, aber es ist nötig, ihr ebenfalls machtgemäß entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand. (U 406)[2] 6e. Bild eines dionysischen HeiligenNimmt man die drei Schriften zusammen, die in Blochs Asconazeit oder kurz danach entstanden sind bzw. abgeschlossen wurden - 'Geist der Utopie' und die beiden Essays 'Güte der Seele' und 'Über den sittlichen Führer' - , zusammen auch mit den in 'Kampf, nicht Krieg' versammelten, sich anschließenden Schriften, so zeichnet sich darin das Bild eines Menschen ab, der "umhergeht", untertaucht, wandert, predigt und wirbt, der franziskanisch lebt, d. h. besitz- und berufslos von milden Gaben sich ernährt, eines Aufständischen, der nichts als die Seele will, der das Selbstwerden lehrt und das Seelenreich und das Eingehen ins allumfassende Wir. Der die Maschinenwelt hasst und an Bauerntum und Handwerk festhalten will, der genossenschaftlich leben will, etwa in einer Gemeinschaftssiedlung auf dem Lande, jedenfalls in einer brüderlichen Liebesgemeinde ohne Herren und Knechte, ohne Zwang und Rang. Der den Kriegsdienst verweigert und mit dem Staat auf Kriegsfuß steht, der jede Art von Organisation ablehnt, dagegen den deutschen Volkskörper regenerieren will. Der aber zugleich den Zug nach Osten hat, zu Tolstoi und Buddha, in das Traumland, Mutterland, Wärmeland der Menschheit. Der "die Kraft zur Güte und Brüderlichkeit" hat (U 301), aber nicht so mild daherkommt wie Jesus sondern grob und mit Zorn gesprenkelt. Der einen unzähmbaren Brand, ein Feuer entfachen will und die dionysisch-luziferische Schlange im Schilde trägt. Der die beseelte Mütterlichkeit feiert, "die große Mutter" (U 357), aber auch das sinnenhafte Weib und den heiligen Eros. Dieser Mensch vertraut auf das Werdenwollende, Zukünftige, den Geist, der sich erst bildet; ihm ist er Künder und Vorkämpfer, Vorbote einer kommenden großen Wandlung, einer Gemeinschaft der "heilig Erneuerten" (U 358). Ihnen geht er voran mit dem Amulett des reinen Herzens, dem Tao der Idee, dem Evangelium der Nicht-Gewalt. Es ist, mithin, das Bild eines dionysischen Heiligen und diesseitsfrommen Propheten, das Bloch entwirft. Und es handelt sich, zweifellos, um ein Wunschbild von Ernst Bloch, aber ebenso zweifellos um ein Bild, das kein anderer so erfüllt wie Gusto Gräser. Ist Bild und Erfüllung zu trennen? Wenn es ein durchweg selbstgeschaffenes gewesen sein sollte - wie hätte Bloch einem Gräser ausweichen können? Wenn er Gräser im Ernst begegnet ist, wie hätte er anders schreiben können als so? Wenn da zuerst ein Wunschbild war - wie musste diese Verkörperung auf ihn wirken? Wie konnte er auf sie antworten? Wenn aber dieses Bild durch seine Begegnung mit Gräser erst erzeugt oder zumindest gesteigert, vertieft worden sein sollte, wie können wir Inbild und Abbild trennen, Phantasie und Wirklichkeit scheiden? Alles deutet darauf hin, dass Bloch in Gräser seinem Messiasbild begegnete und eine Zeit lang von ihm entflammt war. Dass er in der Reformsiedlung Monte Verità einen Vorschein seiner Zukunftsgesellschaft erblickt hat. Möglicherweise hat diese zweifache Konkretion seiner Utopie ihn lebenslang bestimmt, hat ihn unterirdisch geführt unter einer jahrzehntelangen marxistisch-kommunistischen Verkrustung hindurch, ist wieder aufgebrochen in den prophetischen Ketzergestalten von 'Atheismus im Christentum', wurde theoretisch und historisch umkreist in seinem Hauptwerk 'Prinzip Hoffnung'.
Gusto Gräser in Freimann vor München, 1956 7. Quellennachweis / FussnotenDies sind Auszüge aus
dem noch unveröffentlichten Buch von Hermann Müller:
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8. Literaturquellen
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