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Neue Liebeswelt in Ascona Zwölf Thesen zu Fourier und Otto Groß
Als die Gebrüder Gräser
auf dem Weinberg über Ascona sich ansiedelten, hatten sie eine Kolonie im Sinne von Charles Fourier im Auge: ein nietzscheanisch und lebensreformerisch gewandeltes Phalansterium. Angelockt durch das Erscheinen Gusto Gräsers in der Reformkolonie Friedrichshagen sammelte sich ab 1904 eine kleine Gruppe von Anarchisten um Karl Gräser auf dem Monte Verità: zunächst Raphael Friedeberg, dann Johannes Nohl, Erich Mühsam, Ernst Frick und Otto Buek. Zu diesen Sympathisanten der Gräsers gesellte sich im Jahre 1905 der drogensüchtige Arzt und Psychotherapeut Otto Groß aus Graz. * Entwurf eines Phalansteriums Ein Freudschüler im Phalansterium Otto Groß,
der den wir kennen, wurde auf dem Monte Verità geboren (siehe auch Ludersocke). Was der hochbegabte,
allerdings auch drogensüchtige Sohn eines berühmten Kriminalisten bis dahin
geschrieben hatte, war durchaus im Rahmen der Freudschen Schule geblieben. Der
Meister in Wien sah in ihm und Jung zwei seiner hoffnungsvollsten Söhne, zwei
Junggenies - die sich beide gegen ihn wenden sollten. Die Mine,
die die beiden absprengen sollte vom granitenen Block der psychoanalytischen
Lehre, wurde in Ascona gelegt. Groß kam 1905 auf den Berg, um im Sanatorium seine
Drogensucht zu kurieren. Er befreundete sich alsbald mit Erich Mühsam und
dessen Kreis, einem Mühsam, der damals noch mitten in seiner Verehrung für Karl
Gräser stand. Noch anderthalb Jahre später arbeitet Mühsam an der
"Herausgabe der Aufzeichnungen des hier lebenden Naturphilosophen Carl
Gräser" (Posaune 63). Zu gleicher Zeit aber schon an einem Manuskript, das
der Grazer Privatdozent und Analytiker ihm zugeschickt hatte. Otto Groß
hatte sich zu einer Entziehungskur ins Sanatorium von Oedenkoven begeben, mußte
allerdings feststellen, daß der Abschied vom Üblichen hier in gewissen Grenzen
blieb. Reformierte Bürgerlichkeit, gewiß, aber immer noch Bürgerlichkeit. Er
lernt Menschen kennen, die einen wesentlichen Schritt weiter gegangen sind, die
den herrschenden Normen entschiedener den Rücken gekehrt haben: Erich Mühsam
und Karl Gräser. Mit ihnen erst hat er seine wahren Freunde gefunden. Seine
Verbindung mit Erich Mühsam ist bekannt, die mit den Gräsers indirekt zu
erschließen. Nicht nur daß das Bauen und Schaffen von Karl Gräser ihm offen vor
Augen lag - dessen Grundstück grenzt unmittelbar an das Gelände der
Naturheilanstalt, der Fußweg dorthin führt an seinem Hause vorbei -, nicht nur,
daß Mühsam mit Gräser befreundet war, seine Schriften herausgeben wollte und
seine Begeisterung auf Groß übertragen haben wird, deutlicher noch als diese
Gegebenheiten spricht die Spur des Gräserschen Denkens im Werk von Groß für
Nähe und Einfluß. Denn das
Siedlungsunternehmen der Gräsers stützte sich auf die Ideen des französischen
Sozialphilosophen Charles Fourier. Eben diese Ideen
waren es gewesen, die zur Spaltung der ursprünglichen Siedlergemeinschaft und
zur Trennung der Gräserbrüder vom Sanatoriumsgründer Oedenkoven geführt hatten.
Dessen Lebensgefährtin Ida Hofmann schreibt, etwa zur Zeit des Kuraufenthalts
von Groß, auf den gleich im Anfang geschehenen Bruch zurückblickend: „Es
bedurfte nicht nur einiger heftiger Auftritte bis wir uns Gustav Gräser's
wieder und diesmal endgiltig entledigt hatten; es machte sich auch eine
Spaltung in den Zielen der fünf Teilnehmer geltend, insbesondere zwischen uns
und Karl ... Von den krankhaften Ansichten seines Bruders angesteckt, kehrten
diese im weitern Verlauf der Ereignisse immer stärker hervor und gipfelten ...
in dem Bestreben, alle klingenden Güter, auch die unsrigen, von sich zuwerfen,
communistischen Allgemeinbesitz einzuführen und den ganzen Aufbau cultureller
Wohltaten für ein ... bedürfnisloses Leben einzutauschen. ... Er sah stets nur kolonistisches Leben von uns 5 Personen, denen sich noch
Andere in der Art des "Phalanstère" von
Fourier zugesellen sollten.“ (Hofmann 21f.; Hervorhebung von mir, H. M.) Wenn Frau
Hofmann-Odenkoven, der "communistische" Neigungen völlig fernliegen,
sich nach fünf Jahren noch an das Thema "Fourier" in ihren
Auseinandersetzungen erinnert, dann muß der Name mehr als einmal gefallen sein,
dann muß er für die Gräsers grundlegende Bedeutung gehabt haben - und ihre
Praxis spricht dafür. Es versteht sich also von selbst, daß sie Schriften von
und über ihren Gewährsmann im Hause hatten und diese an Mühsam und dessen
Freund Groß weitergaben, zumindest darüber sprachen. Am weitesten verbreitet
war damals die Monographie über Fourier des Sozialistenführers August Bebel, der übrigens im selben Jahr 1905 auf den Monte
Verità kam, um seinen Genossen Friedeberg zu treffen. Auch Mühsam war mit ihm ins Gespräch gekommen. In diesem Buch
also konnten Mühsam und Groß Folgendes lesen:
„Fourier
beurteilt den Kulturgrad einer Gesellschaft nach der Stellung, welche die Frau
in derselben einnimmt ... nach ihm geht die Veränderung in der Stellung der
Frau einem neuen Kulturzustand voraus ... Er ist von seiner Überzeugung, daß
nur die Einehe das Hindernis für den Ausgang aus der Zivilisation bilde, so
durchdrungen, daß er dem Konvent vorwirft, dadurch die Revolution in ihrer
Wirkung beschränkt zu haben, daß er vor der Ehe stehengeblieben sei. (Bebel
141) ... Im
gesellschaftlichen Urzustand herrscht der Kommunismus an Grund und Boden, und
wo dieser herrschte oder noch herrscht, existiert auch überall die freie Liebe
... In diesem Zustand herrscht auch das Mutterrecht ... entsteht die Polygamie.
... Aus der Polygamie wird allmählich die Monogamie. (142) ... Die hierarchische
Ordnung und die Gesetze, das heißt der Zwang, kommen stets von oben, sie sind die in Paragraphen formulierten Interessen der herrschenden
Klassen. ... Wie die Welt gut, so soll der Mensch, dem Willen Gottes
entsprechend, glücklich sein. Statt dessen sehen wir
die große Mehrzahl unglücklich, und zwar unglücklich, weil sie die Triebe, die
Gott ihnen gegeben, nicht befriedigen können. Aus Unkenntnis ihrer Natur und
ihres Zweckes haben sie sich eine Ordnung gegeben, in der diese Triebe meist
unterdrückt werden, zur Einseitigkeit gelangen, kurz ihren Zweck verfehlen. Die
Einheitlichkeit, das heißt die volle Harmonie zwischen dem Menschen und der
Welt und der Welt und Gott, ist aber der große Zweck Gottes, und um diese
Einheitlichkeit zu ermöglichen, ist die Vielseitigkeit der Beziehungen auf
ausgedehnter Stufenleiter die einzige Lösung. ... ergo müssen Ehe und Familie
in ihrer heutigen Gestalt verschwinden.“ (143) Er führt
weiter aus, Fourier zitierend: "In
der Zivilisation ist das System der Liebe ein System allgemeinen Zwanges und
infolge davon allgemeiner Falschheit. ... ist sie gefälscht, so genügt dies, um
durch ihren Kontakt den Mechanismus des ganzen sozialen Systems zu
fälschen." (144) Soweit
Bebel über Fourier. Es ist unschwer zu sehen, daß hier die Grundpositionen des
Großschen Denkens bereits vorgegeben sind. Groß entkleidet das Fouriersches
System seines metaphysischen Hintergrunds und nimmt die Freudsche Psychologie
als neues Fundament. Aus dem Befund der verhinderten Liebeserfüllung ergibt
sich die Kritik an der herrschenden Kulturnorm, dem Patriarchat. Fourier war
es, der diesen Begriff erstmals geprägt hat; Groß wird ihn zu einem
Kampfbegriff für das zwanzigste Jahrhundert machen. Ohne die
hier aufgezeigten biographischen Zusammenhänge zu kennen, konstatierte Nicoalus
Sombart schon in den Siebzigerjahren: „Hier
nun steht Otto Groß in der ehe-, familien- und eigentumsfeindlichen Tradition
des utopischen Frühsozialismus, der über die Saint-Simonisten und Fourier auch
auf Marx und Engels (besonders auf Engels), auf Stirner natürlich, aber auch
auf den "frühen" Bebel gewirkt hatte, der nicht nur eine
Fourier-Biographie, sondern auch ein bedeutendes Frauenbuch geschrieben hat;
jenes Charles Fourier, von dem der erstaunliche Satz stammt, daß der Zivilisationsstand
(oder wenn man will, das "kulturelle Niveau") einer Gesellschaft an
dem Grade der Freiheit zu messen sei, die den Frauen zugebilligt wird, und den dasselbe
Schicksal der Okkultierung ereilt hat wie Otto Groß, aus denselben Gründen
natürlich.“ (Sombart: Nachdenken
35) Man hat
bisher in der Forschung über Groß oft von den Einflüssen von Stirner, Landauer,
Bachofen und Klages gesprochen, ohne dafür einen ausdrücklichen Beleg zu haben.
Es handelt sich um Vermutungen. Man wird diesen Vermutungen den Namen Fourier
hinzufügen müssen, freilich mit erheblich größerer sowohl biographischer wie
ideographischer Wahrscheinlichkeit, ja
Gewißheit. Keiner der vorgenannten Autoren steht den Grundthesen von
Groß näher als Fourier, keiner erreicht dessen Konsequenz und Radikalität, und
jeden von ihnen dürfte Groß später kenengelernt haben und weniger direkt als
Fourier, der ihm in einer eigenen Kolonie und in der Person Karl Gräsers
sozusagen leibhaftig entgegentrat. Auf dem
Monte Verità fand Groß nicht nur die Freunde, denen er sich öffnen konnte und
die ihm dann in Ascona und München zur eigentlichen Heimat wurden: Erich
Mühsam, Johannes Nohl, Ernst Frick, er fand dort auch zu jenen
Grundanschauungen, die dann den Kampf seines Lebens bewegen sollten. Seine theoretische Abweichung von Freud tritt seit seinen Aufenthalten in Ascona hervor; dort inszenierte er seine berüchtigten "Orgien", dort wollte er eine Freie Hochschule gründen, dort versammelten sich seine Anhänger und Freunde. Sein Schüler Erich Mühsam war von den Lehren Karl Gräsers fasziniert, wollte dessen Schriften herausgeben. Sein anderer Musterschüler Franz Jung hat sich sein Leben lang für Fourier eingesetzt. Zwar scheint der Name dieses frühen Vordenkers in den Schriften von Groß nicht vorzukommen - so wenig wie der von Bachofen (die Kenner mögen mich berichtigen!), aber sein ganzes Gedankengebäude spricht eine deutliche Sprache. Es gibt wenig in den Ansichten von Groß - von der Psychoanalyse einmal abgesehen - , was nicht vorgebildet wäre in den Schriften von Charles Fourier. Charles Fourier (1772-1837) Fouriers "neue Liebeswelt" in
Ascona Fourier ist
der Erfinder des Wortes "Patriarchat" und war der erste bewußte und
kämpferische Antipatriarch.Er forderte die Abschaffung
von Ehe und Familie und die Aufzucht der Kinder durch das Kollektiv. Fourier
kämpfte für die Freiheit der Liebe, für uneingeschränkte Sexualität zwischen
den Geschlechtern und innerhalb der Geschlechter (Homosexualität und
Polygamie). Er befürwortete den "Venuskult", eine "Religion der
Wollust", wollte die sexuelle Orgie als kultischen Höhepunkt des
Gemeinschaftslebens. Er war gegen jede Art von Zwang, Herrschaft und
"Moral". Er vertrat das uneingeschränkte Lustprinzip. Fourier glaubte
an eine Selbstorganisation der Gesellschaft durch die "Attraktion der
Leidenschaften", d. h. durch die menschlichen Beziehungen, namentlich den
Eros. Es sind
diese Grundansichten, die zugleich die Eigenart der Großschen Lehre im wesentlichen ausmachen. Andere Momente seiner Theorie lassen
sich von Nietzsche, Bachofen, Stirner und Landauer ableiten - und nicht zuletzt
von Gusto Gräser. Gräser ist es, der den Willen zur Macht
als das Trottelidol der Jahrtausende, als das
Grundübel unserer christlich-jüdischen Tradition brandmarkt und bekämpft - wie
nach ihm Otto Groß. Durch ihn ... ist der Willen zur Macht, der willkürfreche,
zur Wend gedacht. Gräser ist es, der das Grundleiden des Menschen in der gegebenen
Zivilisation als Vergewalt definiert, als
Vergewaltigtwerden und Vergewaltigen. Wie Otto Groß. ... Allso Seelbesonnensein
- und sobald, wo es strahlt, fällt von uns die Vergewalt
... Gräser ist
es, für den die Behauptung des "Eigenen" gegen den Einfluß und die
Übermächtigung durch das "Fremde" Kernpunkt seines Denkens wie seines
Lebens wird. ... räum auf, räum aus, was tief dein Eigen nicht ... Daß er wie
kein anderer sein Eigenes gegen das vergewaltigende Fremde bewahrt und
behauptet hat und darin den Weg zur Gesundung sah, ist offensichtlich. Gräser
schließlich ist es, der gegen den "Willen zur Macht" ebenso wie gegen
die christliche Überforderung von "Liebe" das Freundsein und den
Willen zum Freund setzt - in den Worten von Groß: den "Willen zur
Beziehung". ... Uns ruft Urlebewelt zu unsrem Frohberuf:
Ein Freund zu sein ... In einer
von Johannes R. Becher überlieferten Szene zitiert Groß emphatisch eine
"Freund"-Beschwörung Nietzsches, ein Schlüsselzitat auch für Gräser. Auch Gräser
kennt die "Orgie", wenn auch in anderer Weise als Groß - als
Mitschwingen im Wirweltwirbel, als Hochzeitstanz und sel'gen Tausch
im Miteinandergang, im grohsen
Ineinanderschlang. ... Voll Wildrausch ineinander sich
verschlingen im Lebenstausch ... ... zum grohsen Ineinanderschlang voll
Mussmusik! War Gräser in mancherlei Hinsicht und
belegtermaßen ein Schüler von Fourier und Nietzsche und vermutlich auch von
Landauer und Bachofen, so setzt er sich doch in einem Punkte von Fourier entschieden ab. Er entscheidet sich für
die Familie und gegen deren Auflösung im Kollektiv, und er entscheidet sich
logischerweise gegen den sexuellen Immoralismus. Gräser heiligt die Familie,
Groß will sie zerstören. Jeder von
den beiden liest die Schriften Fouriers auf seine Weise. Gräser findet darin das Streben nach Eintracht, nach Harmonie, die Vereinigung
von Arbeit und Genuß, die volle Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten im
Zusammenspiel einer ländlich-handwerklich bestimmten Gemeinschaft. Groß findet darin die Zertrümmerung von Ehe und Familie und die
Entfesselung der Sexualität bis hin zur kultischen Orgie. Aus diesem
Ineinander von Gemeinsamkeiten und Differenzen ergibt sich das ambivalente
Verhältnis der Groß-Gruppe zu den Gräsers (wie auch umgekehrt). Es gibt
praktische Zusammenarbeit: Graf und Schrimpf arbeiten bei Karl Gräser,
beherbergen Gusto in München; die 'Tat'-Gruppe vermittelt Militärflüchtige zu
den Gräsers nach Ascona. Zugleich hält man auf Distanz. Weder der sexuelle
Immoralismus der Großianer noch ihr Drogengebrauch noch ihr aktiver Anarchismus
sind für Gräser akzeptabel. Für ihn trug nach seinen Worten das anarchistische Gesindel
die Schuld am Scheitern des Experiments von Ascona. Gräser muß
die Großianer etwa so gesehen haben wie einst Luther seine wildgewordenen
Schüler in Mühlhausen: irregeleitete Schwärmer, die in Selbstzerstörung enden
würden. Beide
kämpften sie, Groß wie Gräser, leidenschaftlich empört gegen das patriarchale
Herrschaftssystem. Gräser jedoch wählte den Fourier
der "harmonie" und des "unitéisme", Groß mehr den Fourier
"cabaliste". Gräser las seinen Lehrmeister
praktisch und spirituell, Groß las ihn sexuell und politisch. Die
"Orgie" der Gräser-Gruppe war Selbstausdruck und Tanz, war
seelisch-körperliche Ekstase. Groß haßte seinen Körper, war unfähig zum Tanz,
suchte Befreiung von seiner Starrheit in Drogenrausch, Sex und Revolution. Die
Gründung der Gräsers auf MonteVerità war gedacht als eine "association
domestique-agricole" im Sinne Fouriers (Weber 93); einzelne Mitglieder der
'Tat'-Gruppe schlossen sich diesem Unternehmen zeitweise, aber am Rande
bleibend, an. Ohne diese Grundlage im Alltagsleben und ohne den damit
verbundenen harten Überlebenskampf suchte Groß, freischwebend im
gesellschaftlichen Nichts, Fouriers "nouveau monde amoureux" und seine "religion de la volupté"
(z. n. Weber 96 und 97) zu verwirklichen. Gräser ist wie der französische Vordenker
"à la fois ultra-conservateur et ultra-radical" (Victor Considérant,
z. n. Weber 104), gleichzeitig ultrakonservativ und ultraradikal, Groß nur
"ultra-radical". Phalansterium in Nordamerika Zwölf Thesen zur Fourier-Rezeption von Otto
Groß 1. OG wurde
durch die Gebrüder Gräser und das ihnen nahestehende asconesische Milieu mit
Fourier vertraut gemacht. Der Monte Verità im Sinne der Gräsers war eine
fourieristische Kolonie. Auch hinzukommende Sympathisanten ihres Experiments
wie Raphael Friedeberg, Fritz Brupbacher und Peter Kropotkin waren
belegtermaßen oder höchstwahrscheinlich durch die Darstellungen von Engels,
Bebel und Greulich mit der Gedankenwelt Fouriers vertraut. Sie besagt in ihren
wesentlichen Grundzügen: 2.
"Beziehung" ist das Zentralwort für Fourier wie für OG. Durch die
freie Entfaltung der menschlichen Beziehungen soll sowohl der Einzelne wie die
Gesellschaft geheilt werden. 3. Die
menschlichen Leidenschaften sind gut, solange sie nicht durch
gesellschaftlichen Druck - Zwang und Vergewaltigung - korrumpiert werden. Sie
folgen dem Lustprinzip, und dieses Lustprinzip ist zu bejahen. 4. Die
menschlichen Leidenschaften führen natürlicherweise durch gegenseitige
Anziehung (attraction) zu individueller und gesellschaftlicher Einheit und Harmonie. 5. In der
bestehenden Zivilisation des Patriarchats sind jedoch die Leidenschaften durch
Herrschaft, Zwang und Vergewaltigung zu (selbst- und fremd-)zerstörerischen
Kräften geworden. 6. Die
dreitausendjährige Herrschaft des Patriarchats, eine geistesgeschichtliche
Katastrophe, hat (in der Darstellung durch Bebel) eine frühere mutterrechtliche
Ordnung abgelöst. Sie muß in der kommenden Zukunftsgesellschaft (der
"Harmonie") wieder hergestellt werden. 7. In
dieser Zukunftsgesellschaft nach Abschaffung des Patriarchats werden die
Menschen ihr Kontakt- und Beziehungsbedürfnis voll befriedigen können. Das
stärkste Bindemittel wird der befreite Eros sein, denn Ehe und Familie, die
einengenden Zwangsinstitutionen des Patriarchats, werden abgeschafft. Die Frauen
werden gleichberechtigt sein und die Kinder werden durch die Allgemeinheit
(Kommune) versorgt und erzogen werden. Polygamie und ritueller Venuskult mit
der sakralen Orgie als Mittelpunkt werden durch ihr dichtes Beziehungsgeflecht
die gesellschaftliche Einheit herstellen. 8. Die
gesellschaftliche Umwälzung vollzieht sich nicht durch Gewalt und Revolution
sondern durch die Bildung intensiv und vielseitig kommunizierender Gruppen. (In
diesem Punkt wird Groß sich von Fourier unterscheiden.) 9. In den
erotisch kommunizierenden Gruppen (Liebeshöfen) wird ein Priester die Paarungen
nach therapeutischen Gesichtspunkten arrangieren, um einen Ausgleich und Abbau
bestehender Defizite herbeizuführen. 10. In der
von Gusto Gräser unter dem Einfluß von Nietzsche und Landauer entwickelten
Variante treten folgende Merkmale hinzu, bzw. treten verstärkt hervor:
Selbstwerdung, Entfaltung des Eigenen und der Kampf des Eigenen um seine
Selbstbehauptung gegen das Fremde der Ideologien, Konventionen und
Institutionen. 11. Zu dem
Zeitpunkt, als OG auf den Monte Verità kam, stand Erich Mühsam unter dem
beherrschenden Einfluß von Karl Gräser. Er wollte dessen Schriften herausgeben
und dürfte OG in dessen Ideen und bei Gräser selber
eingeführt haben. 12. Zu dem Zeitpunkt, als OG auf den Monte Verità
kam, gab es dort unter Führung der Gräsers bereits die Praxis der (edlen)
"Orgie" in Form von nächtlichen Nackttänzen im Wald. Es gab auch
bereits eine Gruppe von etwa 60 Personen, die an diesen Aktivitäten teilnahmen,
darunter möglicherweise eine größere Anzahl von (anarchistischen/russischen?)
Studenten aus Genf und Bern. Diese Ausdruckstänze mit therapeutischem Einschlag
gingen vermutlich auf Gusto Gräsers Bekanntschaft und Freundschaft mit dem
amerikanischen Geschwisterpaar Raymond und Isadora Duncan zurück. Im
Folgenden werden diese zwölf Thesen näher belegt. Die zwölf Thesen
und ihre Begründung 1. OG wurde durch die Gebrüder Gräser und das ihnen nahestehende asconesische Milieu mit Fourier vertraut gemacht. Der Monte Verità im Sinne der Gräsers war eine fourieristische Kolonie. Auch hinzukommende Sympathisanten ihres Experiments wie Raphael Friedeberg, Fritz Brupbacher und Peter Kropotkin waren belegtermaßen oder höchstwahrscheinlich durch die Darstellungen von Engels, Bebel und Greulich mit der Gedankenwelt Fouriers vertraut.
Zusätzliche Bemerkungen (in
Zukunft abgekürzt ZB): Die
Monographie von August Bebel über Fourier war 1888 erschienen, die Darstellung
durch Hermann Greulich, den Vorsitzenden der Schweizer Sozialdemokraten,
bereits 1881. Da Gräsers Meister Karl Wilhelm Diefenbach die ländliche
kommunitäre Siedlung propagierte und in Wien und bei München in die Tat
umsetzte, mußte ihn und seine Schüler der Entwurf Fouriers interessieren. Im
Winter 1899/1900 besuchte Gusto Gräser mehrfach den Zürcher Sozialreformer
Gustav Maier, der in seiner Geschichte der sozialen Bewegungen Fourier mit
spürbarer Sympathie behandelt hatte. Das weitverbreitete, preiswerte Büchlein
in der Teubnerschen Reihe 'Aus Natur und
Geisteswelt' bot noch Franz Jung um 1913 den ersten Einstieg in die
Gedankenwelt des französischen Kulturkritikers. Früher schon waren dessen Ideen
durch Friedrich Engels zwar kritisch betrachtet aber doch auch mit Respekt
behandelt worden. Peter Kropotkin, der
sich auf Monte Verità von seinem
Freund Raphael Friedeberg behandeln ließ, stand bewußt und bejahend in dieser
Tradition, wollte "zeigen, daß Fouriers Traum von der materiellen
Organisation [der zukünftigen Gesellschaft] keineswegs eine Utopie ist"
(Brot 188). Bebels weitverbreitetes Buch 'Die Frau und der
Sozialismus' stand ebenfalls unter dem Einfluß Fouriers. Auch Bebel
kam 1905 auf den Monte Verità und hat späteren Auflagen seiner Schrift einen
Abschnitt über diese Reformersiedlung eingefügt. Der Versuch der Gräserbrüder, die Theorie Fouriers (in freier, nietzscheanischer Abwandlung) auf dem Monte Verità in die Tat umzusetzen, wurde durch den Widerstand von Henri Oedenkoven vereitelt. Umsomehr mußte Karl Gräser daran gelegen sein, wenigstens auf seinem eigenen Grund und Boden die ursprüngliche Vision zu verwirklichen und durch Werbung zu verbreiten. Gusto Gräsers Wanderungen hatten keinen anderen Zweck (sofern von "Zweck" bei ihm überhaupt die Rede sein kann) als diesen: ein Geflecht von rein menschlichen Beziehungen außerhalb aller materiellen Interessen herzustellen und damit die Grundlagen für einen "Bund der Lebendigsten" zu legen. Er wollte nur "Freund", nur "Mensch" sein. Gusto lockte die Menschen, die er auf seinen Wegen ansprach, nach Ascona; dort sammelte sich um seinen Bruder Karl (und ihn selber, wenn er dort war) eine Schar von Freunden und Sympathisanten, zu denen mit Sicherheit Erich Mühsam, Johannes Nohl, Fritz Brupbacher und Raphael Friedeberg gehörten. Um diesen Kern sammelte sich nach und nach ein weiterer Umkreis mit Groß, Frank, Frick, Buek und anderen, dessen Nähe oder Abstand zu den Gräsers nicht genauer bestimmt werden kann. 2. "Beziehung" ist das
Zentralwort für Fourier wie für OG. Durch die freie Entfaltung der menschlichen
Beziehungen soll sowohl der Einzelne wie die Gesellschaft geheilt werden.
ZB: Was bei
Groß "Beziehung" heißt, heißt bei (Gusto) Gräser
"Freundschaft", "Bund" und "Freundsein". Wie Groß
hat er die Fouriersche Konzeption von ihrer materiellen Verkleidung (im
Phalansterium, bzw. der ländlichen Siedlung) gelöst und auf ihren wesentlichen
und tragfähigen Kern konzentriert: den der allseitigen (körperlichen wie
seelischen und geistigen) menschlichen Attraktion und Kommunikation. Allseitig:
denn was Fourier als Kern seiner Entdeckungen ansieht: die Anziehungskraft der
Leidenschaften, bezieht sich keineswegs nur auf die sinnlichen Triebregungen
sondern ebensosehr auf die seelischen und geistigen Regungen wie Streitlust,
Übereinstimmungslust, Begeisterung, Freundschaft, Liebe: "Ich verleihe der
spirituellen Liebe großen Glanz ... In der Harmonie wird jedermann sein
höchstes Glück im Gefühl finden." (NL 136f.). Volle und allseitige
Entfaltung der Leidenschaften und Gefühle - Otto Groß wird es
"Erleben" nennen, für Gräser heißt es "Leben". Das
"höchste der Gefühle" im wörtlichsten Sinne ist für Fourier der als
Gegenleidenschaft zum Egoismus betrachtete "Unitismus", nämlich
"die Neigung des Individuums, sein Glück mit dem Glück aller anderen in
Einklang zu bringen" (Guérin in NL 51). "Brüderlichkeit wird zum
natürlichen Bedürfnis werden und keine moralische Pflicht mehr sein."
(Weber 99) Während
alle anderen Leidenschaften mit den Ästen eines Baumes zu vergleichen sind,
bildet der Unitismus, die Vereinigungslust,
den Stamm dieses Baumes. "Although
this was a passion in itself, it was of another order than the twelve radical passions: it
was the result of their sympathy or harmony" ( Die
prästabilierte Harmonie der sinnlich-seelischen Regungen ist geradezu die
theoretische Grundlage von Fouriers Utopie, was schon in seiner Namengebung für
die künftige Zukunftsgesellschaft zum Ausdruck kommt: "Harmonie".
Harmonie im Sinne Fouriers bedeutet Heimkehr in die Einheit des Menschen mit sich
selber, mit der Gesellschaft und dem ganzen Universum. Sie stellt sich her
durch die freie Entfaltung der menschlichen Beziehungen. "Im gegenseitigen Verhältnis der Individuen zu einander ist Raum gegeben zur Entfaltung von Beziehungen, die Selbstzweck bleiben können und frei von Zügen der Autorität und Motiven der Macht" (Kr. 48). Der Satz stammt von Otto Groß und bezieht sich auf die Mutterrechtsordnung; er könnte genausogut von Fourier gesagt worden sein in bezug auf die Ordnung der "Harmonie". Otto Groß gibt in einem Satz eine konzentrierte Definition der Fourierschen Gesellschaftsutopie. 3. Die menschlichen
Leidenschaften sind gut, solange sie nicht durch gesellschaftlichen Druck -
Herrschaft, Zwang und Vergewaltigung - korrumpiert werden. Sie folgen dem
Lustprinzip, und dieses Lustprinzip ist zu bejahen.
4. Die
Zwangsmechanismen der Zivilisation führen zum Konflikt der Triebe und zu ihrer
Entartung. Perversionen sind nicht angeboren sondern Folgen des
gesellschaftlichen Drucks. Wenn dieser Druck wegfällt, führen die menschlichen
Leidenschaften natürlicherweise durch gegenseitige Anziehung (attraction) zu
individueller und gesellschaftlicher Einheit und Harmonie.
ZB: In der Psychologie von Fourier sind einige Grundzüge der Lehren Freuds schon vorgebildet, so die Lehre von der Verdrängung und ihrer krankmachenden Wirkung. Die psychische Grundsituation im Zeitalter der Zivilisation ist ein innerer Konflikt der Triebe, verursacht durch die patriarchale Repression. Heilung wird in einer repressionsfreien Gesellschaftsordnung gesucht und als harmonische Entfaltung der Leidenschaften gesehen. Daran konnte OG anknüpfen. Wie für Fourier gibt es auch für Groß keine angeborenen Perversionen und selbst der Inzest wird gebilligt. Die Grundstruktur seiner Lehre, durch die Freudschen Erkenntnisse psychologisch vertieft, entspricht der Lehre Fouriers. 5. In der bestehenden Zivilisation des Patriarchats sind jedoch die Leidenschaften durch Herrschaft, Zwang und Vergewaltigung zu (selbst- und fremd-)zerstörerischen Kräften geworden.
ZB: Zwang und Vergewaltigung sind die immer wiederkehrenden Kennzeichnungen der patriarchalen Gesellschaftsform bei Otto Groß. Zwang und Vergewalt spielen dieselbe Rolle bei Gusto Gräser und auch schon bei Fourier. Die auffällige Entsprechung besonders zwischen Gräser und Groß dürfte ein deutlicher Hinweis sein, daß hier eine Einwirkung stattgefunden hat. 6. Die
dreitausendjährige Herrschaft des Patriarchats, eine geistesgeschichtliche
Katastrophe, hat (in der Darstellung Fouriers durch Bebel) eine frühere
mutterrechtliche Ordnung abgelöst. Sie muß in der kommenden
Zukunftsgesellschaft (der "Harmonie") wieder hergestellt werden.
Fourier bezeichnet die zeitgenössische Gesellschaftsform zwar als
"Zivilisation", doch stellt diese nur die Endstufe dar von 4
unglücklichen Zeitaltern, die alle durch Männerherrschaft gekennzeichnet sind,
von denen jedoch nur eines ausdrücklich den Namen "Patriarchat"
trägt. Den patriarchalen Zeitaltern ging nach Fourier ein Urzustand des
"Edenismus" voraus, in dem Liebesfreiheit herrschte. Dieser
paradiesische Urzustand soll in der Zukunftsgesellschaft der
"Harmonie" auf höherer Stufe wiederhergestellt werden.
ZB: Die
dreistufige Zeitalterlehre von Fourier entspricht derjenigen von Groß. Die
zeitgenössische Gesellschaftsverfassung bezeichnet Fourier zwar als
"Zivilisation", doch sieht er sie eindeutig als eine psychologisch
verfeinerte Höchststufe des Patriarchats. Für den Urzustand gebraucht er nicht
das (damals noch nicht erfundene?) Wort Matriarchat, spricht auch nicht von
Mutterrecht, das zu seiner Zeit noch nicht entdeckt war, kennzeichnet diese
Periode jedoch als eine Zeit der Liebesfreiheit und der gesellschaftlichen
Hochachtung der Frau. Den Beginn der Männerherrschaft (die logischerweise eine
vorangehende Frauenherrschaft unterstellt) setzt er, wie Groß, vor 3000 oder
2500 Jahren an. In der
Literatur wird Groß durchgängig eine Abhängigkeit von Bachofen und öfters auch
von Klages zugeschrieben. Belege dafür gibt es, soviel ich sehe, nicht. OG
erwähnt meines Wissens weder Bachofen noch Klages; der Einfluß der beiden ist
nicht mehr als eine Vermutung, eine Annahme. Das Geschichtsbild von Groß
entspricht aber weit mehr dem von Fourier als dem von Bachofen. Nun geht
zwar der für OG zentrale Begriff des Mutterrechts zweifellos auf Bachofen und
dessen gleichnamiges Buch von 1861 zurück, das Wort war aber um 1900 bereits in
den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Engels und Bebel verbreiten sich
schon in den Achtzigerjahren über das Mutterrecht. Wer zur
Zeit von Groß von Mutterrecht sprach, mußte nicht unbedingt Bachofen
oder Klages gelesen haben. Es finden
sich bei Groß, soviel ich sehe, keinerlei Spuren einer näheren Kenntnis der
Schriften von Bachofen oder der Kosmiker. Weder ist von
"Gynaikokratie" die Rede noch von "chthonischem
Tellurismus", weder von "Hetärismus" noch vom "kosmogonischen Eros" und
noch nicht einmal von Amazonen, Apoll oder auch nur von Dionysos. Bei der
enormen Bedeutung, die die Vorstellung vom Matriarchat für OG hatte, wäre aber
zu erwarten gewesen, daß er sich mit Wonne und Ausdauer auf solche Begriffe
gestürzt und sie in seinen Schriften auch gebraucht hätte. Davon ist weit und
breit nichts zu sehen. Erstaunlicherweise!
Vielmehr, wenn Groß einmal, wie in 'Die kommunistische
Grundidee in der Paradiesssymbolik',
auf die "mutterrechtlich-kommunistische Gesellschaftsordnung der
Urzeit" (Kr. 41) sich ausführlicher einläßt, dann greift er nicht auf
Bachofen oder Klages zurück sondern auf - die Bibel. Eine hervorragende
Bibelkenntnis wird ihm allenthalben nachgesagt, und was er in dieser seiner
zentralen Aussage über die patriarchale Kulturrevolution vorlegt, sind nicht
Erkenntnisse Bachofens sondern der wissenschaftlichen Bibelkritik (vgl. Kr.
53). Bereits um 1806 hatte der Theologe de Wette nachgewiesen, daß im 7.
Jahrhundert v. Chr. "der gesamte ältere historische und mythologische
Stoff des Alten Testaments vollständig umgearbeitet wurde" (Campbell 114),
eine Umarbeitung, die einherging mit der Auslöschung der Naturkulte, namentlich
denen des Baal und der Astarte. Es könnte
sein, daß Groß sich mit Bachofen oder Klages nicht ausführlich befaßt, ihre Ansichten
möglicherweise nur vom Hörensagen gekannt hat. Für ein genaueres Studium gibt
es jedenfalls keine Beweise. Vielmehr
scheint sein Geschichtsbild von Fourier geprägt und von ihm selbst ergänzt
worden zu sein durch Folgerungen aus der Textkritik des Alten Testaments. Was
bei Fourier die gehaßten Philosophen und
hebräischen Patriarchen sind, - die Hauptschuldigen an der Verteufelung der
Lust, der Liebe und der Frau - , das sind sie auch bei Otto Groß. "Gebhart hates
Moses, Socrates and Plato because he views them as hellish demons, 'die dem
Vergewaltigungstrieb und dem Machtgedanken die Moral geliefert hatten:
Vaterverehrung, Monotheismus, Monogamie'" (Michaels 146). Groß spricht nur
deutlicher aus, was auch Fourier gedacht hat aber so offen nicht sagen durfte.
Er erweist sich auch hierin als Fortführer und Ausgestalter der Ideen des
französischen Kulturrevolutionärs. Schon 1879
(wenn die Angaben von Heinrichs zuverlässig sind) hatte Bebel in 'Die Frau und der Sozialismus' - unter dem Einfluß von Fourier
sowohl wie von Bachofen - geschrieben: Die Geltung des Mutterrechts bedeutete Kommunismus,
Gleichheit aller; das Aufkommen des Vaterrechts bedeutete Herrschaft des
Privateigentums, und zugleich bedeutete es Unterdrückung und Knechtung der
Frau. ... Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial
und ökonomisch vollkommen unabhängig; sie ist keinem Schein von Herrschaft und
Ausbeutung mehr unterworfen, sie steht dem Manne als Freie, Gleiche gegenüber
und ist Herrin ihrer Geschicke. ...In der Liebeswahl ist sie gleich dem Manne
frei und ungehindert. ... Der Sozialismus schafft hier nichts Neues, er stellt
auf höherer Kulturstufe und unter neuen gesellschaftlichen Formen nur wieder
her, was, ehe das Privateigentum die Gesellschaft
beherrschte, allgemein in Geltung war. ... Die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann
ist eins der Ziele unserer Kulturentwicklung. ... Das "goldene
Zeitalter", von dem die Menschen seit Jahrtausenden träumten und nach dem
sie sich sehnten, wird endlich kommen. Die Klassenherrschaft hat
für immer ihr Ende erreicht, aber mit ihr auch die Herrschaft des Mannes über
die Frau. (August Bebel, z.
n. Heinrichs 346-351) Rannte also
Groß - mehr als ein Menschenalter später! - nicht offene Türen ein? Was
berechtigt ihn zu seiner emphatischen Tonlage, die ihn von Bebel unterscheidet
(aber mit Fourier verbindet)? War nicht die Befreiung der Frau und damit die
Beendigung der Männerherrschaft - im Prinzip wenigstens - bereits ein
Gemeinplatz unter Progressiven? Es trennen ihn
von Bebel und Engels und ein Stück weit auch von den Kosmikern eben die typisch
fourierischen Momente: Polygamie, Abschaffung von Ehe und Familie, Venuskult
und Orgie. Es unterscheidet ihn wie seinen Vorläufer von den marxistischen
Sozialisten die Erkenntnis, daß es nicht nur um die rechtliche und
wirtschaftliche Besserstellung des Arbeiters und der Frau geht, sondern um eine
Umkehrung der kulturellen Grundwerte: nicht um Machtwechsel sondern um
Kulturrevolution. Ascona war der Ort, wo sich diejenigen sammelten, die aus der bestehenden Kultur austreten und auf eigene Faust eine neue gründen wollten im Sinne ihrer Vordenker Karl Wilhelm Diefenbach, Friedrich Nietzsche und Charles Fourier. Eine Kultur der Brüderlichkeit, der Freiheit in der Liebe, der Freiheit von Herrschaft und der Verbundenheit mit der Natur. Hier trafen sich die Enttäuschten und Ausgestoßenen der Sozialdemokratie, die dem "historischen Materialismus" einen "historischen Psychismus" (Brupbacher) entgegenstellten. Nur hier, in der von den Gebrüdern Gräser gestifteten fourieristischen Kolonie, konnte Groß den Boden finden, auf dem sein psychoanalytisch erweiterter Neu-Fourierismus keimen und sich entfalten konnte. Nicht zufällig sondern sinngemäß sollte hier, im Umkreis des Monte Hilarità, seine "Hochschule zur Befreiung des Menschen" gegründet werden. 7. In der
Zukunftsgesellschaft nach Abschaffung des Patriarchats werden die Menschen ihr
Kontakt- und Beziehungs-bedürfnis voll befriedigen können. Das stärkste
Bindemittel wird der befreite Eros sein, denn Ehe und Familie, die einengenden
Zwangsinstitutionen des Patriarchats, werden abgeschafft. Die Frauen werden
gleichberechtigt sein und die Kinder werden durch die Allgemeinheit (Kommune)
versorgt und erzogen werden. Polygamie und ritueller Venuskult mit der sakralen
Orgie als Mittelpunkt werden durch ihr dichtes Beziehungsgeflecht die
gesellschaftliche Einheit herstellen.
ZB: Fourier betont, daß Polygamie und "ehrbare Orgie" in der "Harmonie" nichts gemein hätten mit den schmutzigen Orgien und der libertinistischen Polygamie in der Zivilisation. Was dort Laster ist, soll hier Tugend werden, nicht nur durch Öffentlichkeit und Rechtlichkeit und kultische Zeremonie sondern vor allem kraft ihrer gemeinschaftstiftenden und seelenerhebenden Funktion. Wenn Fourier die Kultivierung der Geschlechtlichkeit in Einzelfällen bis zum Verzicht auf sinnliche Erfüllung treibt, dann gilt dies erst recht für den "grohsen Ineinanderschlang" Gusto Gräsers, der als ekstatische Allerfahrung zu verstehen ist. Bei Groß steht zwar die Sexualität im Vordergrund, aber auch er sucht ihre Steigerung und Übersteigung in "das reine große Dritte", das "die Quelle einer Intensität ... und ein neues Leben ist" (Kr. 23). Er spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einer "neuen Lebensform", sondern sogar von "Glauben" und "Religion" [Fussnote 2]. (Kr. 22) 8. Die
gesellschaftliche Umwälzung soll sich nicht durch Gewalt vollziehen sondern
durch Überzeugung und Erziehung und durch die Bildung intensiv und vielseitig
kommunizierender Gruppen.
ZB: Nicht nur der durch die Große Revolution bitter enttäuschte
Fourier ist gegen den gewaltsamen Umsturz. Auch Gräser verachtet die
"Revolverrevolution" als bloße "Lohn-Revolution" und
"Rüppelution der ewigen Knechte". Gräser, Groß und Fourier haben zwar
einen Kulturwandel im Auge, der in seiner umfassenden Radikalität alle nur politischen
Umsturzintentionen weit übertrifft - "exécrer et non pas corriger la
Civilisation"! (CF z. n. Weber 91) - , aber sie
suchen den Neubeginn auf dem Wege der Überzeugung und Erziehung herbeizuführen.
Auch der späte, dem Parteikommunismus und damit der Gewaltoption sich
annähernde Groß betont immer noch den Vorrang der inneren, der geistigen
Veränderung. "Die Vorarbeit zu solcher Revolution muß die Befreiung jedes
einzelnen vom Autoritätsprinzip bewirken, das er im Innern trägt." (Kr. 52)
Fouriers Neue Liebeswelt bedeutet nicht nur den "Sieg des Lustprinzips" (Weber 98), sie bezeichnet auch den Entwurf einer von innen her solidarisch gewordenen Lebensgemeinschaft, in der die Entfremdung des Menschen von sich selbst wie von Mitwelt und Umwelt aufgehoben ist. Nach dem Gebrauch des Wortes "solidaire" durch Fourier "wird der Begriff der Solidarität zur zentralen Idee der Arbeiterkultur im 19. Jahrundert" (Weber 104). Gräser feiert den heiligen "Miteinandergang", "das große Allmiteinander"; Groß erwartet ein "unbeschränktes Sichverstehen" in der "zur Einheit geschlossenen Gesellschaft". (Kr. 53) 9. In den erotisch
kommunizierenden Gruppen (Liebeshöfen) werden psychologisch erfahrene Berater
die Paarungen nach therapeutischen Gesichtspunkten arrangieren, um einen
Ausgleich und Abbau bestehender Defizite herbeizuführen. In den höchsten
Ausformungen der Liebesbeziehungen wird das körperliche Begehren überstiegen
werden. Liebe ist eine soziale und öffentliche Angelegenheit.
ZB: Die bekannte Handlungsweise von Groß, unter seinen Bekannten und Analysanden therapeutisch gemeinte Partnerwechsel vorzunehmen oder vorzuschlagen, wird verständlicher und gewinnt an Überzeugungskraft, wenn man annimmt, daß er darin von Fourier beeinflußt worden ist, der den Leitern seiner Liebeshöfe ein solches Eingriffsrecht zugesteht. Auch die Möglichkeit, daß die psychologischen Berater in Liebesdingen gegenüber ihren Klienten und Klientinnen sexuell aktiv werden, ist bei Fourier schon vorgegeben. Auf jede nur mögliche Art und Weise einen harmonisierenden (und das heißt heilenden und entwicklungsfördernden) Ausgleich der Passionen herbeizuführen gehört zu den Grundabsichten von Fouriers Gesellschaftsentwurf. 10. In der von Gusto
Gräser unter dem Einfluß von Nietzsche und (vermutlich) Stirner entwickelten
Variante treten folgende Merkmale hinzu, bzw. treten verstärkt hervor:
Selbstwerdung, Entfaltung des Eigenen und der Kampf des Eigenen um seine
Selbstbehauptung gegen das Fremde der Ideologien, Konventionen und
Institutionen. Gräser und Groß stellen sich jedoch entschieden - und dies
wiederum ganz im Sinne Fouriers - gegen die Herrschsucht und den Willen zur
Macht.
11. Zu dem Zeitpunkt,
als OG auf den Monte Verità kam, stand Erich Mühsam unter dem beherrschenden
Einfluß von Karl Gräser. Er wollte dessen Schriften herausgeben und dürfte OG
in dessen Ideen und bei Gräser selber eingeführt
haben. 12. Zu dem Zeitpunkt, als OG auf den Monte Verità kam, gab es dort unter Führung der Gräsers bereits die Praxis der (ehrbaren) "Orgie" in Form von nächtlichen Nackttänzen im Wald. Es gab auch bereits eine Gruppe von etwa 60 Personen, die an diesen Aktivitäten teilnahmen, darunter anscheinend zeitweise eine größere Anzahl von (anarchistischen/russischen?) Studenten aus Genf und Bern. Diese Ausdruckstänze mit therapeutischem Einschlag gingen vermutlich auf Gusto Gräsers Bekanntschaft und Freundschaft mit dem amerikanischen Geschwisterpaar Raymond und Isadora Duncan zurück. In seiner Kulturkritik war Fourier ein gnadenlos klarblickender Realist. Seine Utopie, unglaublich kühn und weit vorausschauend in ihrer Radikalität, war allerdings allzu naiv und teilweise rückwärtsgewandt in ihrer Ausgestaltung. Otto Groß hat den Entwurf seines großen Vorgängers psychoanalytisch vertieft und untermauert und zugleich den Bedingungen des Industriezeitalters angepaßt. Er hat ihn aber auch vereinseitigt, hat ihn in der Nachfolge Freuds weitgehend auf seine sexuelle Komponente reduziert. Gräser dagegen hat vorzugsweise den andern Flügel des fourierschen Denkgebäudes bewohnt und ausgebaut: die Humanisierung der Arbeit, ihre Umwertung zu "Arbeitspiel", "Genußmittel" und "Urvergnügen" (GG). Beiden gemeinsam bleibt jedoch die für das fouriersche Denken grundlegende Forderung: die Lust-, Freude-, Liebes- , kurz: die Glückspotentiale des menschlichen Daseins zu erkennen und im Einzelnen wie in der Gesellschaft zu entfalten [Fussnote 3]. Dieser hehre Wunsch und der Versuch. ihn zu verwirklichen, machte sie - ganz ebenso wie Fourier - zu verlachten und gefürchteten "Narren" ihrer Zeit.
Wer
hat den Weg zur neuen Welt gefunden?
Ein "Narr", verfallen afterweisem Spotte. Am Kreuz erliegend seinen Nägelwunden, Wird uns ein "Narr", der elend stirbt, zum Gotte. Versänk' die Sonne in des Dunkels Schlünden, Daß uns das Morgen keinen Morgen brächte, So würde morgen eine Fackel zünden Irgend ein Narr dem menschlichen Geschlechte. (Übersetzung
eines Gedichts von Béranger
über Fourier, z. n. Bebel 239)
Gusto Gräser
Abkürzungen: OG = Otto Groß; GG = Gusto Gräser; KG = Karl Gräser; CF = Charles Fourier. [2] Selbstverständlich ist zwischen dem "grohsen Ineinanderschlang" Gräsers und der Orgie im Sinne von Groß klar zu unterscheiden. Gräsers Ekstase kommt aus geleisteter Bewährung in Kampf und Not (er tanzt und singt in der Gefängniszelle!), ist die Frucht einer extremen Hingabe und Selbstgefährdung bis an die Grenze von Leben und Tod, ist Glücksrausch des Überlebenden. Denkbar weit entfernt davon ist jene von Drogen befeuerte sexuelle Enthemmung, wie sie Otto Groß und Theodor Reuß auf Monte Verità praktiziert haben. Und doch kann es kaum Zufall sein, daß sowohl der Sexualanarchist Groß wie der Sexualmagier Reuß sich Ascona als Ort ihrer Inszenierungen ausgesucht haben. Durch ihre normwidrige Erscheinung und Lebensweise hatten die Gebrüder Gräser einen Freiraum geschaffen, der nach jeder Richtung hin ausgeweitet und auch mißbraucht werden konnte.
[3] Man wird einwenden, Fouriers Schrift 'Le Nouveau monde amoureux', in der er seine Ansichten zum Thema Erotik ausführlicher darlegt, sei zu Groß' Zeiten nicht bekannt gewesen. Ein Gutteil dieser Ansichten läßt jedoch auch Bebel in seiner Monographie erkennen. Wie weit die diesbezüglichen Kenntnisse eines Lesers um 1900 gehen konnten, ließe sich nur durch ein gründliches Studium der damals zugänglichen Quellen bestimmen. Wie auch immer das Ergebnis ausfallen mag, so ist doch soviel sicher, daß die gedanklichen Positionen von Groß auf verblüffende Weise mit denen Fouriers sich decken. | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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