Hilde Neugeboren (1891 - 1979)

>>> Siehe auch "Hesse Demian"
>>> Siehe auch "Albine Neugeboren"
 
>>> Weitere Dokumente zu Albine und Hilde Neugeboren, deren Haus in Monti Trinità sopra Locarno, der Beziehung zu den Gräsers und Hermann Hesse hier!

Das Trauma der alten Dame
Ein Gespräch mit Hilde Jung - Neugeboren

„Ich hasse die Gräsers!“ - Das waren die ersten Worte, die mir Hilde Jung entgegenschleuderte, als ich die Achtzigjährige in ihrem Haus in Böblingen besuchte. Ich hatte ihr Zimmer noch nicht einmal betreten, noch im Vorraum stehend erreichte mich schon ihr Ausbruch. Die Gräsers seien für sie ein Trauma, klagte sie mir dann, mit dem sie bis heute nicht fertig geworden sei. Sie sprach mit leidenschaftlicher Erregung. Schmerzhafte Kindheitserinnerungen brachen in ihr auf: Ihre von Gräser begeisterte Mutter hatte sie gezwungen, bei Karl (!) Gräser in die Lehre zu gehen, wo sie hungerte und fror und anderes mehr erlitt.

Dass sie damals, etwa zwölfjährig, aus der Gefangenschaft bei Karl Gräser flüchtete, scheint das Schlüsselerlebnis ihrer Jugend gewesen zu sein, ein Akt des Selbständigwerdens. Denn damit erhob sie sich gegen den Willen ihrer Mutter.

Sie habe seit ihrem zwölften Jahr ein sehr selbständiges Leben geführt, sei durch krasse Erfahrungen an der Wirklichkeit früh erwachsen geworden. Die krasse Wirklichkeit sah etwa so aus (von mir während unseres Gesprächs notiert):

„Ich musste bei Karl Gräser viel hungern und habe deshalb nachts auf den Äckern Kraut gestohlen und roh gegessen. Einmal übernachtete ich mit den Gräsers auf dem Heuboden eines Bauernhauses. Aus der Küche stieg mir der Minestraduft in die Nase. Ich hatte furchtbaren Hunger. In der Nacht schlich ich hinnter zur Bäurin und bettelte um Essen. Dann lief ich weg – nach Hause. – Ich habe die Gräsererlebnisse verdrängt, habe Schreckliches mit ihm erlebt. Hatte immer Hunger.“

Hilde Jung erzählte mir eines ihrer schlimmsten, ganz unvergesslichen Erlebnisse. Karl Gräser habe an die Heilkraft der Erde geglabt und darum kranke Menschen, die hilfesuchend zu ihm kamen, manchmal in den Boden eingegraben – bis zum Hals. Wieder einmal habe er eine schwerkranke Frau abends im Garten eingebuddelt. Am anderen Morgen sei sie mit Karl in den Garten gegangen, sie – damals ein Kind von zehn bis zwölf Jahren.

Ihr bot sich ein furchtbarer Anblick: Wie aus der Erde, wie aus einem Grab gewachsen starrte ihr mit offenen Augen der Kopf einer Toten entgegen. Die Erinnerung daran habe sie noch lange in ihren Träumen verfolgt.

Nun: In der ganzen Monte Verità-Literatur finden wir keinen einzigen Hinweis auf die Praxis des Eingrabens. Nur Hilde Jung berichtet davon. Und wer noch? – Hermann Hesse. In seinen ‚Notizen eines Naturmenschen’ berichtet er, dass er sich bis zum Hals eingegraben habe, „um die Kühlung und Heilkraft der Erde zu erproben“ (Mat. Siddh. II, 343).

Zwar hatte Hilde ihre traumatischen Erfahrungen mit Karl gemacht, doch konnte ihr dessen Bruder Gusto noch weniger sympathisch sein. War er doch als Freund ihrer Mutter an die Stelle ihres Vaters getreten, hatte diesen verdrängt, war wahrscheinlich mitverantwortlich für die Entfremdung in dieser Ehe. Die Begeisterung von Albine Neugeboren für Gusto ging so weit, dass sie ihn auf seinen Wanderungen durch die Alpen bis ins Rhônetal begleitete. Suchten sie abends Quartier, dann war sie es, die Millionärsfrau, die um ein Heulager bittend zu den Bauern ging, weil das Aussehen des wilden Gusto die Menschen abschreckte. Mit der Lehre bei Karl hätte die junge Hilde eigentlich für Gustos Lebensweise und Überzeugungen präpariert werden sollen. Die Mutter hatte ihre Tochter ideologisch vergewaltigt.

Hinzu kam, dass im Jahre 1909 Gräser seine ganze neugewonnene Familie – Elisabeth Doerr mit ihren fünf Kindern – bei den Neugeborens unterbrachte, mit der Folge, dass die nun fast zwanzigjährige Hilde für diese von ihr ungeliebten Menschen noch Kleider nähen musste.

Dass die junge Frau gegen eine solche erzwungene Jüngerschaft und Hilfsbereitschaft sich aufbäumte, kann nicht verwundern. Und noch weniger kann verwundern, dass sie die Gräsers nicht mochte – milde ausgedrückt. Sie hat aus dieser ihrer Abneigung mir gegenüber – mit explosiver Heftigkeit noch nach einem Zeitraum von sechzig Jahren! – kein Hehl gemacht. Erst recht wird sie damals – 1916 – ihrem Gast Hesse gegenüber kein Geheimnis aus ihrem Hass gemacht haben. Hesse, dem an der Sympathie der jungen Frau gelegen war, hatte allen Grund, sie von der Innigkeit seiner Gräser-Beziehung nichts merken zu lassen.

Diese Konstellation macht eine Anekdote erst verständlich, die Hilde Jung mir erzählte und die sie als Beweis dafür nahm, dass Hesse von Gräser nichts habe wissen wollen. Ganz abgesehen davon, dass biographische Befunde – Briefe und Besuche – diese Meinung eindeutig widerlegen, belegt die Anekdote in Wirklichkeit nur, was wir inzwischen schon wissen: dass Hesse seine Gräser-Freundschaft Hilde wie anderen gegenüber – ihr gegenüber aber mit besonders triftigen Gründen – verleugnet hat.

Frau Jung also erzählte, sie sei einmal mit Hesse in einem Lokal gesessen, als unvermutet Gusto Gräser den Saal betrat. Hesse habe daraufhin sogleich zum Aufbruch gedrängt mit der Bemerkung, sonst müsse er ja doch dessen Zeche bezahlen.

Die Anekdote belegt nebenbei einmal mehr, dass Hesse Gräser kannte und wahrscheinlich mehr als einmal die Zeche für ihn beglichen hatte. Warum aber räumte er das Feld? Wegen der paar Fränkli, die er hätte berappen müssen? Oder nicht vielmehr deshalb, weil eine Begrüßung mit Gräser seiner Gastgeberin ad oculos demonstriert hätte, wie intensiv freundschaftlich in Wahrheit sein Verhältnis zu diesem angeblich Verachteten war?

Mit anderen Worten: Hilde Neugeboren ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, dass und warum Hesse über seinen „Freund und Führer“ sich ausschwieg: Sie hasste diesen Gräser wie fast die gesamte Umwelt ihn hasste oder verachtete. „Beliebt war er nicht“, sagt Hesse von Demian (GW V,28). Welchen Sinn  hätte es gehabt, sich diesen Verächtern gegenüber zu dem Freund zu bekennen?

Hesses Schweigen hatte gute, nur allzu gute Gründe. Die Dichtung war sein einziger Ausweg.      H. M.

Hilde Neugeboren und der Maler Gustav Gamper begleiten Hesse im Herbst 1916
in das von Menschen weitgehend verlassene Dörfchen Arcegno über Ascona


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Beatrice

Eine Liebe in Locarno











Die Kirche Madonna del Sasso sopra Locarno, die dem Ortsteil
 Monti della Trinità den Namen gab.


Sie war groß und schlank und hatte ein kluges Knabengesicht. Sie gefiel mir sofort, sie gehörte dem Typ an, den ich liebte …
Es war mir nie geglückt, mich einem Mädchen zu nähern, in das ich verliebt war …
Ich gab ihr den Namen Beatrice.
Sie öffnete mir ein Heiligtum, sie machte mich zum Beter in einem Tempel. …
Ich begann zu malen.  …
Die Gestalt der Beatrice sank nun allmählich unter, näherte sich mehr und mehr dem Horizont …
Hesse: Demian                 

Hesses Werk, das ist zur Genüge bekannt, ist durch und durch autobiographisch, der ‚Demian’ macht darin keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil: kaum eine seiner Schriften bleibt dichter an der Lebenswirklichkeit als diese.

Für das erste Drittel des Buches, nämlich bis zum Auftritt der Beatrice, ist der Lebenshintergrund offensichtlich. Hesse erzählt die Geschichte seiner Kindheit und Jugend etwa bis zum Jahre 1893. Aber was folgt dann? Wer ist Beatrice? Die Parallele von Biographie und Roman scheint hier abzubrechen.

Sie bricht in der Tat, aber es handelt sich lediglich um eine Unterbrechung. Der Autor überspringt einen Zeitraum von zweiundzwanzig Jahren, um dann wieder einzusetzen mit dem Hesse des Jahres 1915, der seiner „Beatrice“ begegnet.

Sein Motiv ist klar. Hesse war sich wohl bewusst, dass seine persönliche Problematik, die er im Roman behandeln wollte, eigentlich die eines Pubertierenden war. Als Leiden eines Vierzigjährigen hätte sie peinlich und sogar leicht komisch gewirkt. Er reduziert daher seine Lebensspanne um die Hälfte, lässt zwanzig Jahre unter den Tisch fallen, um seine Geschichte als die eines knapp Zwanzigjährigen präsentieren zu können. Was unter anderem zur Folge hat, dass auch sein Freund und Führer Gräser auf Gymnasiastengröße zurückgestutzt werden muss.

Die mannigfachen Unglaubwürdigkeiten und Diskrepanzen, die sich daraus ergeben, sind schon oft bemängelt worden: Demian wirkt wie ein als Knabe verkleideter Erwachsener – was er ja auch ist.

Hesse macht also nach seinem sechzehnten Lebensjahr einen Schnitt und fügt dann die eben durchlebten zweieinhalb Jahre seit 1915 an. Die Verbindung der beiden Teilstücke fällt ihm umso leichter, als (biographisch!) eine unerfüllte und unerfüllbare Liebe am Ende der einen wie am Anfang der anderen Periode steht. Im einen Falle ist er zu jung, im andern schon zu alt für das angebetete Mädchen. Zu jung war er einst für Eugenie Kolb, zu alt ist er jetzt – für wen?

Seine „Beatrice“ ist eine junge Frau, man muss hier wohl sagen: Jungfrau von dreiundzwanzig Jahren, verlobt mit einem Arzt, der als Soldat im Felde steht, und schon deshalb für Hesse unerreichbar. Sie lebt einsam auf einem herrschaftlichen Anwesen hoch über Locarno, in Monti della Trinità, schwärmt für Natur und alles Natürliche, findet Gott im All, sitzt bei Mondschein in Bäumen, liegt tags mit ihrem Wolfshund im Grase und sieht den weißen Wolken nach. Denn sie hat ‚Camenzind’ gelesen und lebt in den Gefühlen seines Dichters. Sie gehört natürlich den „Wandervögeln“ an, nicht irgendwelchen, sondern den Reinsten der Reinen, den „abstinenten“. Sie denkt, lebt und atmet in der Atmosphäre von Reinheit und Adel, die dazugehört. Ihre Mutter ist eine ergebene Verehrerin von Gusto Gräser, dessen geistige Atmosphäre, bürgerlich-jugendbewegt-lebens-reformerisch gemildert, das Haus erfüllt. Die Gräserschen Naturmöbel stehen in ihrem Gartenhäuschen, in das nun die Tochter den verehrten, ihr persönlich noch unbekannten Camenzind-Dichter einlädt. Diese kecke Einladung – sie bietet brieflich dem Verehrten ihr Gartenhäuschen als Wohnung an [1] – entspricht der jungenhaften Frische dieses echtdeutschen Mädels. In ihrer Person tritt Hesse so etwas wie die leibhafte Verkörperung seiner Dichtung entgegen, im besonderen seines bevorzugten Frauentyps, der heiligen, der reinen, der unerreichbaren „Elisabeth“.

Hesses Ehe ist zu dieser Zeit schon am Ende, seit Jahren gestört. Es bedarf keiner Phantasie sich auszumalen, was der erotisch ausgehungerte Dichter der jungen Frau gegenüber empfindet. Zumal das Mädel mit jenem Schuss Übermut und Jungenhaftigkeit auftritt, den dieser Schüchterne so überaus gern hat. Aber: „Es war mir nie geglückt, mich einem Mädchen zu nähern, in das ich verliebt war“ (GW V,79) – und es glückt ihm, in einem ernsthaften Sinne, auch bei diesem nicht.

              

„Sie hatte ein kluges Knabengesicht … gehörte dem Typ an, den ich liebte“

Und wie sein Hilde Neugeboren-Erlebnis – denn das ist der Name der romantischen Jung-Frau – in etwa seinem Eugenie Kolb-Erlebnis von einst entspricht, so entsprachen der wüsten Zeit seiner Cannstatter Trinkerphase in etwa jene neun Jahre, in denen er nach seinem gescheiterten Versuch mit „Reinheit“ und „Abstinenz“ – nämlich in Ascona 1907 – wieder zu Wein, Kotelett und Zigarre zurückgekehrt war. Diese Zeit empfindet er inzwischen als eine schmachvolle Epoche feiger Anpassung und schmutziger Kompromisse [2]. Gemessen am Ethos der abstinenten, dem reformerischen Lichtmenschen-Ideal nachstrebenden „Beatrice“, war das ein Versinken in „Schmutz und Klebrigkeit“ gewesen, ein hässlicher und unsauberer Weg (GW V,76f.). „Es gibt solche Träume, in denen man, auf dem Weg zur Prinzessin, in Kotlachen, in Hintergassen voll Gestank und Unrat stecken bleibt. So ging es mir“ (ebd. 77). Beides aber, allzu verklärtes Frauenideal wie dumpf herabziehende Sinnlichkeit, abgehobene Wirklichkeitsferne wie Widerstandslosigkeit gegen das Gemeine, waren Symptome eines ungelösten Problems, das Hesse jetzt, zur Zeit des Ersten Weltkriegs, zu lösen oder wenigstens anzupacken gedenkt.

Er folgt jedoch der freundlichen Einladung zunächst nicht, begnügt sich mit hinhaltenden Briefen. Erst ein Jahr später, im Frühjahr 1916, ist er zum Sprung ins Unbekannte, zu der Unbekannten, bereit. Er reist nach Locarno. Er wird Gast von Hilde Neugeboren in Monti della Trinità. Gast eines Mädchens (in damaliger Sicht), das mit den Gräsers aufgewachsen war, sie allerdings hasste, weil ihre Mutter sie in eine Lehre bei Karl Gräser gezwungen hatte. „Ich hasse die Gräsers!“ rief mir die fast Achtzigjährige bei meinem Besuch in Böblingen schon auf der Schwelle entgegen. Die Gräsers waren ihr unüberwundenes Lebenstrauma, eben weil ihre Jugend so stark unter dem Einfluss der beiden Brüder, vermittelt durch ihre Mutter, gestanden hatte. Als junges Mädchen hatte sie Kleider für die Gräserkinder genäht, nähen müssen, als Gusto 1909 mit seiner großen Familie im Haus ihrer Mutter aufgenommen worden war.

Als Kind konnte sie sich gegen diesen ihr aufgezwungenen Einfluss nicht wehren. Sie konnte auch am 7. September 1916 dem wiederkehrenden Gusto Gräser, der eben aus österreichischer Gefangenschaft nach Ascona zurückgekommen war, den Zutritt zu ihrem Hause nicht versagen. An diesem Tag trafen sich in ihrer Wohnung, nach den Aussagen von Heiner Hesse, Gusto Gräser und Hesse zum ersten Mal nach siebenjähriger Entfremdung.

Hesse mit Hilde Heugeboren auf dem Weg zur Pagangrott, September 1916.
Im Hintergrund die Felskuppe, in deren Höhlung Gräser und Hesse
 im Frühjahr 1907 als Einsiedler gelebt hatten.

Aufnahme von Gustav Gamper 


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Das Mädchen aus Monti

Hauptquelle zu Hildegard Jung-Neugeboren (1891-1979) sind ihre Briefe an Hermann Hesse. Sie befinden sich im Hesse-Archiv der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern. In Hildes Haus oder in erreichbarer Nähe zu diesem verbrachte der Dichter während der Jahre seiner großen Wandlung seine Urlaube. Sie war ihm Gesprächspartnerin während seiner Analyse bei Johannes Nohl; bei ihr suchte auch Mia Hesse Zuflucht, nachdem im Herbst 1918 ihre Psychose ausgebrochen war. Obwohl also Hilde vielleicht die intimste Vertraute dieser Jahre, seiner Demian-Zeit, war, sind ihre Briefe an Hesse bis heute nicht publiziert, die des Dichters an sie nur in kurzen Zitaten.

Hildegard Neugeboren ist die Tochter einer Gräser-Jüngerin. Ihre Mutter, Albine Neugeboren, geb. Capesius, war als Krebskranke von den Ärzten aufgegeben worden. Durch eine Diät, die Gusto Gräser ihr empfohlen hatte, wurde sie gerettet. Überzeugt von seinen Ideen und seiner Lebensweise begleitete sie ihn wochenlang auf seinen Wanderungen durch die Alpen, sie, die barfüßige Millionärsgattin, bei den Bauern um ein Nachtquartier im Heu bittend.

Als Gräser 1909 mit seiner Lebensgefährtin Elisabeth Dörr und fünf Kindern wieder nach Ascona kommt, nimmt sie die siebenköpfige Familie in ihrem Hause auf. Ihre Tochter Hilde näht Kleider für die Kinder. Nach der Abreise der Familie bleiben drei der Kinder noch für längere Zeit in der Obhut der Neugeborens zurück.

Postkarte der Villa Neugeboren. In dem weitläufigen Anwesen mit seinen drei stattlichen
 Häusern gab es für die Familie Gusto Gräsers genügend Platz. Der Blick ging
(Bild unten rechts) auf den See und den sanften Hügel des Monte Verità.

Die Begeisterung der Frau Neugeboren für die Gräserbrüder geht so weit, daß sie ihre Tochter gegen deren Willen zu Gräsers Bruder Karl in die Lehre steckt, damit sie, die verwöhnte Tochter eines Industriellen, das einfache und harte Naturmenschen-Dasein von der Pike auf erlerne. Für das damals etwa zwölfjährige Mädchen war dies eine traumatische Erfahrung, die Hilde Neugeboren zeit ihres Lebens nicht verwunden hat. Sie haßte die Gräsers.

Gleichwohl lebte sie zu der Zeit, als sie an Hesse schrieb, sowohl in der geistigen Atmosphäre der Gräsers (Naturkult, Vegetarismus, Abstinenz, Pazifismus, Zivilisationskritik) wie auch mit den knorrigen Naturholzmöbeln, die von Karl oder Gusto Gräser stammten. Zugleich aber in der Phantasiewelt von Hesses 'Camenzind' und 'Knulp', die ihrerseits von dessen Begegnung mit Gusto Gräser mit inspiriert waren. Zu Kriegsbeginn befindet sie sich allein in dem weitläufigen Anwesen in Locarno-Monti; ihre Mutter war nach Deutschland zurückgekehrt. Jungenhaft keck und schwärmerischer Sehnsucht voll, lädt sie kurzerhand den ihr nur von seinen Büchern her bekannten Schriftsteller Hesse ein, bei ihr zu wohnen. Ein romantisches Gartenhäuschen stehe ihm zu freier Verfügung.


 
In Hildes Winkelchen


O wie verfolgt aus aller Welt
Bis in den fernsten Frieden stiller Berge
Uns Drang und Unrast mit unnützer Arbeit Qual!

Doch sei du selbst, sei Herr im eignen Herzen,
So bist du frei, und Ruhe ist in dir,
Ob auch von draußen Lärm und Hast dich streift.

Mein lieber Ruhewinkel,
Mein liebes, stilles Nest am Berg!
Du schützest nicht – auch hierher reicht die Welt.

Doch so wie du zu sein, sollst du mich lehren,
Im Innern still, auch wenn es draußen stürmt,
Der eignen Götter froh
Und keinem fremden untertan.

Hab Dank, du Winkelchen! Du lehrst mich gut,
Und wieder weiß ich, was ich stets gewusst,
Und stets vergaß: Mein Feind ist nicht die Welt!
Mein Feind bin ich. Und wenn ich erst mir selbst
Aus eigner Tiefe Rast und Frieden bringe,
Wird jede Ecke dieser Welt
Mir Heim und Glück und stiller Garten sein.

In: HH in Augenzeugenberichten. S. 74f.
  


Das Gartenhäuschen der Villa Neugeboren
Hesses Domizil im September 1916
In Hildes Winkelchen
Tuschezeichnung von Hermann Hesse


 
 
 
 
Hilde Neugeboren (unten rechts)

mit Henri Oedenkoven (stehend)
in der Naturheilanstalt
auf dem Monte Verità


Hesse zögert zunächst, beläßt es bei einem brieflichen Verkehr. Nachdem aber im Herbst 1916 Gusto Gräser nach Ascona zurückgekehrt ist, ergreift er die gebotene Gelegenheit und quartiert sich im Hause Neugeboren ein. Schon in den ersten Tagen nach Gräsers Ankunft kommt es in eben diesem Hause zur Wiederbegegnung und Wiederversöhnung mit dem Freund, dem er sich jahrelang entfremdet hatte. Der Grund für die 'Demian'-Geschichte wird gelegt.

Aber auch eine zarte Liebesgeschichte hatte sich angesponnen. Der frustierte Ehemann Hesse konnte von dem Reiz der in Reinheit und Schönheit erblühenden Jung-Frau - sie gehörte den abstinenten Wandervögeln an - nicht unberührt bleiben. Und doch blieb sie für ihn unerreichbar. Nicht nur deshalb, weil sie mit einem im Felde stehenden Soldaten verlobt war. Sondern eben ihre von ihm selbst wie von den Gräsers genährte Gesinnung der Wahrhaftigkeit, der Reinheit, der Selbstheiligung und Naturfrömmigkeit machte dieses Mädchen für ihn unantastbar. Sie konnte ihm eine "Beatrice" werden, Führerin und Freundin, Heiligtum im Tempel, nicht aber eine Geliebte.

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Erotisches Eldorado

12. August 1918. Johannes Nohl schreibt aus Ascona an Hermann Hesse in Bern: "Mit Frau Jung und Herrn Soffel trafen wir uns einmal mittags bei Quattrini. Es kam kein rechtes Gespräch in Gang, doch hat mich Herr Soffel, namentlich auch psychoanalytisch, sehr interessiert. Vielleicht geh ich einmal für einen Tag in die Villa Neugeboren. Frau Jung sprach von einem Artikel 'Psychoanalyse und Kunst', den Sie in der Frankfurter veröffentlichten. Warum haben Sie mir ihn vorenthalten?"

Sehen wir uns zunächst die Runde an, die im Café Quattrini in Ascona beisammen sitzt. Auf der einen Seite Nohl mit seiner Frau, der russischen Ärztin Iza Prussak, auf der andern die beiden Gäste aus der Villa Neugeboren in Monti della Trinità über Locarno: der Zoologe Karl Soffel und die Tochter der Hausbesitzerin, Hilde Jung-Neugeboren. Hesse kennt Hilde seit 1915, ist mehrfach Gast in ihrem Gartenhäuschen gewesen, hat sich von ihr zur Gestalt der "Beatrice" in seinem Roman 'Demian' inspirieren lassen. Offenbar war es sein Wunsch gewesen, dass diese beiden Parteien zusammenfinden. Warum?

In seinem Traumleben und damit auch in seinem Traumtagebuch tauchen diese Personen mehrfach auf: Hilde, Soffel, Köbi, Kreidolf, Gamper, Schoeck. "Köbi" steht für den jungen Maler Jakob Flach, mit dem er im Frühjahr 18 im Gartenhäuschen der Villa Neugeboren zusammengelebt hatte. Es sind seine Freunde im Tessin, die in seinen Träumen eine Rolle spielen, und Nohl soll sie kennenlernen, um ihre symbolische Bedeutung besser zu verstehen.

Hilde steht ihm näher als Nohl, ihr hat er seinen Artikel über Psychoanalyse geschickt. Auf sie, eine junge Frau von 27 Jahren, verheiratet zwar, aber ihr Mann steht im Feld, hat er ein begehrliches Auge geworfen, wie aus seinen Träumen hervorgeht. Nicht ohne Eifersucht hört er, im Traum jedenfalls, der junge stramme Köbi gehe oft bei ihr "hinein" (Traumgeschenk 197).

Das Tessin, auch das lässt sich aus seinem Traumtagebuch ablesen, ist sein erotisches Eldorado. Er erinnert sich an sein Zimmermädchen in Locarno, eine Sechzehnjährige, die er so gern gestreichelt hätte, und er assoziiert Locarno mit "Licorno", was sehr süffig und genüsslich klingt, die Zunge kitzelt wie „Likör“. Die Lasker-Schüler soll immer Licorno statt Locarno gesagt haben. Kein Wunder: an diesem schönen Ort hatte sie einen feurigen Liebhaber. Hesse hatte davon gehört, hatte sie vielleicht auch kennengelernt. Die Künstler-Emigranten in Ascona und Locarno sind sein Milieu. Auch ihretwegen kommt er so gern in diese Gegend. Frau von Werefkin lässt er ein Geschenk zukommen, vermutlich seine Gedichte. In Monti hat er zu malen begonnen, er fühlt sich jetzt halb als Kollege der Maler, illustriert von nun an öfters seine Briefe und Verse.

"Ich habe begonnen, meine neueren Gedichte in einer illustrierten Abschrift herzustellen, wobei jedes Blatt oben eine kleine Federzeichnung trägt, zum Teil farbig. Dabei fällt mir wieder auf, wie fast alle meine neuern Gedichte, seit etwa zwei Jahren, in Locarno entstanden sind. Kaum bin ich dort unten, so ist ein eingeschlafener Sinn wieder da, wenigstens ein Rest davon, und eine gewisse Produktionslust stellt sich ein. Mit dem Malen dort war es ebenso." (59)

Das schreibt er am 22. Juli 1917 in sein Traumtagebuch. Der eingeschlafene und wiedererweckte Sinn  war der erotische, wie aus anderen Träumen hervorgeht. Locarno ist ihm ein Ort der Inspiration – in jeder Hinsicht. Die Frauen, das Klima, die Landschaft. Vor allem aber die Gespräche mit Gleichgesinnten, mit den "Anti-Wilhelm-Deutschen" (Bloch) im Exil, machen ihm das Tessin auch zu einem politischen und geistigen Eldorado, zu seiner "Trauminsel". Zu diesen Gesinnungsfreunden gehört Hilde Jung, die ihr Haus kriegsgegnerischen Deutschen zur Verfügung stellt wie Klabund und Bloch und eben auch Hesse, zu ihnen gehören Künstler wie die Werefkin, Jawlensky, die Lasker-Schüler, Lou Albert-Lasard, Emmy Hennings, Hugo Ball, Hans Arp, Claire Studer-Goll, Ivan Goll und andere, nicht zuletzt Johannes Nohl und vor allem Gusto Gräser. All das ist eingewebt in seine "Träume vom Süden. Locarno ist ja mein alter Lieblingsort". So am 14. August im Traumtagebuch (S. 73).

"Es hat sich draußen grau und kalt um uns gezogen", schreibt Bloch in seinem Buch 'Geist der Utopie', das er 1917 in Locarno abschloss (GA XVI, 345). "Man ist abgetrennt und findet sich allein zusammen. Es ist nicht sehr leicht, hier zu leben, in dieser übermäßig frostig gewordenen Luft. Noch schlimmer, daß es uns im Ausland wieder schwer gemacht wird deutsch zu sprechen, sofern man sich damit falsch zu bekennen scheint" (ebd., 295). Wer deutsch spricht, wird zunächst einmal für ein Verfechter der deutschen Politik gehalten.

Umso enger schließt man sich zusammen. Umso befreiender ist es für Hesse, hier Menschen zu finden, denen er sich anvertrauen kann. Wenn ihm dann auch noch, wie von der Familie Gräser, eine völlig andere Lebensweise vorgeführt wird, fern von jeder Anpassung an die Rituale der übergroßen Mehrheit, dann fühlt er sich geradezu in eine andere Welt versetzt. Zu dieser Traumwelt gehört aber auch, in einem etwas anderen Sinn, Hilde Neugeboren.

Seit 1917 war sie mit dem Neurologen und Psychiater Dr. Felix Jung verheiratet. Am 16. August 1918 berichtet Hesse seinem Analytiker Johannes Nohl von einem Traum, in dem er in eine andere Gegend gekommen sei, „ich glaube ins Tessin, manches klang dorthin an, auch an Frau Jung“. Er hat es dort mit einem Ofen zu tun. „Beim Öffnen oder Verschieben einer Tür oder eines Ventils am Ofen strömte mit starkem Zug Feuer heraus“. Er hat „Bedenken, dahinein mit den Händen zu greifen, um das Ventil wieder zu schließen. Ich tat es doch, und dabei kam meine rechte Hand in die Feuerzone … wobei sie entstellt wurde. Sie schrumpfte teils, teils verbog sie sich … die Hand war gefühllos wie abgestorben … Allmählich (während die andern Traumerlebnisse undeutlich weitergingen, Steigen einer Treppe hinab in einen Hof, wie ein Burghof, hübsches Mädchen dabei) wurde die Hand wieder, wie ein ‚eingeschlafenes’ Glied, lebendiger, wärmer und begann wieder beweglich zu werden“ (S.205f.).

Gleich anschließend erzählt er von einer nachfolgenden Szene. Er hat ein Tuch überm Kopf; es führt ihn ein Mädchen. Dazu die Bemerkung: „Anklang an Frau Dr. Jung“ (206).

Schon am 29. Juli hatte Hesse von einem anderen Traum berichtet: „Ich erfuhr, Köbi ‚gehe oft hinein’ oder ähnlich, ich bezog es auf Hilde und deutete es als Erotik oder Sehnsucht“ (S. 197).


    Quellen:

Fussnoten:

[1] Siehe ihren Brief an Hesse vom 20. April 1915.

[2] Siehe seinen ‚Brief an einen Philister’ von 1915 (GW X, S. 20ff.) – offensichtlich ein Versuch, seine verlorene Reinheit wiederzugewinnen.

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Herberge der Kriegsgegner, Haus des Tao

Besitzerin der Villa war die Gräser-Jüngerin Albine Neugeboren. Ihr pazifistisch-reformerisch gesinntes Haus beherbergte während des Ersten Weltkriegs Gusto Gräser, Hermann Hesse, Ernst Bloch und Klabund. Hier schrieb Bloch Geist der Utopie zu Ende, es entstand seine Betrachtung über den „sittlichen Führer“. Von hier aus ging Klabunds Offener Brief von 1917 in die Welt, in dem er Kaiser Wilhelm zum Rücktritt auf-forderte. Klabund arbeitete an einer Nachdichtung des Tao Te King von Laotse, wie zur selben Zeit auch Gusto Gräser. Im Geist dieses Hauses entstanden Hesses Schriften gegen den Krieg und sein Roman Demian. Die Tochter Hilde von Albine Neugeboren wurde seine „Beatrice“.

Besuchende Gäste waren u. a. Emmy Ball-Hennings, Else Lasker-Schüler und Franziska zu Reventlow, der Komponist Othmar Schoeck, der Maler Gustav Gamper, der Puppenspieler Jakob Flach, die Rilkefreundin Lou Albert-Lasard und der Dramatiker Reinhard Goering. Von dieser alternativen Zelle eines anderen Deutschland im Exil gingen politische, künstlerische und spirituelle Strahlungen aus in die Dada-Szene, in die deutsche Revolution, in den Expressionismus. In noch zu erforschendem Maße auch in die Jugendbewegung

Dass Hermann Hesse die Flugschrift Worte an eine Schar des Gräserfreundes Georg Stammler, die zu einem Antrieb für den Zug der Neuen Schar von Muck-Lamberty wurde, wiederholt besprach, dass er Hilde Jung mit der Weiterleitung von Zarathustras Wiederkehr beauftragte, dass eben diese Schrift (sehr wahrscheinlich) auch durch Gusto Gräser vermittelt und in den Versammlungen der Neuen Schar vorgetragen wurde, dazu Hesses Beteiligung an der Zeitschrift Vivos voco, von Gräsers Auftritten nicht zu reden – all dies zeigt, dass von der monti-monteveritanischen Gruppierung (den „Neugeborenen“) versucht wurde, inspirierend auf die Jugendbewegung einzuwirken, dass die Exilanten des Kaiserreichs in diese Jugend ihre Hoffnungen setzten.

(Bild: Die Villa Neugeboren in Monti della Trinità sopra Locarno,Aufnahme von 2007


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Wandervögelchen zwischen Meissner,
Monti und Monte Verità

Im Aprilheft der Freideutschen Jugend wurden von Hilde Jung erstellte Auszüge aus Zararathustras Wiederkehr abgedruckt.

Hilde Jung-Neugeboren war einerseits von den Gräserbrüdern, andererseits von Jugend- und Reformbewegung geprägt. So wurde sie zur Mittlerin zwischen Monte Verità und Meissner. Ihr Haus wurde ein Wanderziel deutscher Wandervögel und Herberge für Kriegsgegner und Künstler. In ihrem Haus kam es im September 1916 zur Wiederbegegnung von Hesse und Gräser nach jahrelanger Entfremdung. Im Frühjahr 1919 übermittelte sie die anonyme Flugschrift Zarathustras Wiederkehr an die deutsche Jugendbewegung, noch ehe die Verfasserschaft von Hesse bekannt geworden war. Die Freideutsche Jugend druckte Auszüge daraus ab. Hilde, in Deutschland aufgewachsen, kehrte nach dem Krieg dorthin zurück. Mit Hermann Hesse blieb sie, wie ihre Mutter, lebenslang freundschaftlich verbunden.

Postkarte des Haupthauses in Monti

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