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Szeemanns vielgerühmte, fantastische, fantasievolle Agentur für geistige Gastarbeit, sein Museum der Obsessionen, sein geniales Lebenswerk, das uns wie ein grandioses, zauberhaftes Gesamtkunstwerk erscheinen muss, auch wenn es in erster Linie den außerordentlichen Künstlern, der jungen Kunst, der künstlerischen Grenzüberschreitung und ästhetischen Entschiedenheit gewidmet war, markiert viele hochbedeutende Ausstellungen der letzten Jahrzehnte. Mit seinen Werken ‚Visionäre Schweiz’ (1991), ‚Austria im Rosennetz’, ‚Einleuchten’, mit den Biennalen von Venedig (1999, 2001), zuletzt mit 'The Beauty of Failure - The Failure of Beauty (Barcelona 2004) und 'Visionäres Belgien’ (2005) gehörte er zu den bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste, Ausstellungsmachern, Animateuren im besten und ursprünglichsten Sinne, oder, wie man heute sagt: Kuratoren der Gegenwart. Die ‚documenta 5’ in Kassel ist heute schon so legendär, wie es seine ‚Individuellen Mythologien’ sind. Sein Credo über Grundlagen und Grenzen künstlerischer Freiheit: Zu den unausgesprochenen Voraussetzungen rechne ich … immer die Ehrlichkeit, die zu anderen Begriffen von Macht im kulturellen Kontext führen müsste, nämlich die Macht, die durch das neue (thematische) Abenteuer immer wieder aufs Spiel gesetzt wird, indem sie dazu dient, die Grenzen weiter nach außen zu schieben. (In: 10 Jahre steirischer Herbst, Graz 1977) When Attitude Becomes Form – so hieß der Titel einer berühmten Ausstellung (1969) – Live in Your Head: (Works, Concepts, Processes, Situations, Information). Das war auch die Grundstruktur der epochemachenden Ausstellung Monte Verità in Ascona. (In
Gottfried Heuer (Hg.): Utopie und Eros. Der Traum von der Moderne.
Marburg 2006, S.45f.) Harald Szeemann über den "Berg der Wahrheit" Mit seiner Ausstellung von 1978, Die Brüste der Wahrheit. Monte Verità Ascona, hat Szeemann ein lange vergessenes und verkanntes Gemeinschaftsexperiment des Jahrhundertanfangs wiederentdeckt, uns vor Augen gestellt. Weitere Ausstellungen in Zürich, Berlin, München und Wien folgten, drei ständige kleine Museen wurden auf dem Berg eingerichtet. Bis zu seinem Lebensende kämpfte er dafür, dieses "Herzstück" und Grund-Stück einer mythischen Geisteslandschaft als kulturelles Zentrum zu erhalten und auszubauen. Seinem 1994 in Regensburg erschienenen Buche Zeitlos auf Zeit. Das Museum der Obsessionen sind die folgenden Auszüge entnommen. Unser postindustrielles Zeitalter hat keine verpflichtende Ikonographie mehr - die heutige Kirche, Staat, Industrie, Banken, Multis, die Dienstleistungsgesellschaft: Sie haben die noch ikonographieschöpfenden Religionen, Nationalismen, Ideologien, Weltkriege, humanitären Impulse überwunden oder wenigstens verdrängt, aber haben sie dafür neue Phantasien freigelegt? Umweltschutz, Lebensqualität, Planung, sie haben ebensowenig tragende Bilder erzeugt wie Geschwindigkeit, Mobilität, "Überfremdung", Europäischer Wirtschaftsraum und was dergleichen komplexe Angelegenheiten mehr sind. ... Aber gehen wir nun einen Schritt zurück zu Versuchen, die den Anspruch erheben können, Kunst ins Leben integriert zu haben, also in nuce versucht zu haben, ein Gesamtkunstwerk in der Gemeinschaft zu entwickeln. Durch Absonderung zum Modellfall zu werden war eine Möglichkeit, und sie hat in der Schweiz ein Musterbeispiel: Den ... Monte Verità. Der zum Berg erhöhte Hügel als Summe von Ideologien in einer mütterlichen Landschaft. (382) Ohne Mythos kein Überleben und keine spirituelle Verwandlung von Macht in Verzicht auf Macht ... Nur der einzelne Schöpferische kann, da kompromißlos, wenn auch für die Zeitgenossen noch unverständlich, die Symbole der Zukunft schaffen und damit vorerst für wenige andeuten. ... Die Gesellschaft akzeptiert ungern einen einzelnen als Propheten, politisch schon eher ... aber den Symbolschaffer verschmäht sie meist zu Lebzeiten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Er ist außerhalb der Norm, es gab Zeiten, da nannte man ihn entartet. Weil seine Werke Schöpfungen sind. (31) Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden in der ahistorischen, pädagogischen Landschaft des oberen Lago Maggiore ein ungeheures Potential an Utopien und neuen Lebensentwürfen proklamiert, erprobt, durchlebt und durchlitten ... Alle diese Modelle zwischen den Polen des sozialen Engagements für die klassenlose Gesellschaft und der beispielhaften Ichverwirklichung und Ichverjüngung stehen hier unter dem Leitstern des Glaubens, daß nur über die Absonderung und dadurch das erneute Trittfassen mit der Natur "Gemeinschaft" wieder möglich sein könnte. Die Summe dieser intendierten, gelungenen und mißlungenen Sprünge vom Ich zum Wir schwebt wie eine unsichtbare Wolke über dem Berg der Wahrheit, einem landschaftlichen und klimatischen Mikroparadies, das Teil einer umfassenden Reformkulturlandschaft ist. ... Neben Capri und Taormina in Italien ist Ascona zu einer Stätte geworden für die wiederentdeckten Kulte des Jünglings, der Frau und Großen Mutter, des weisen alten Mannes, der Elemente und Gestirne. (382f.) Das Leben auf dem Monte Verità war vom Gebot der Selbstversorgung bestimmt. Der Hügel ist zwar landschaftlich wunderschön, aber er war damals auch furchtbar steinig und fast kahl. Die Bewohner der Luft-und-Licht-Hütten waren ganz vom Klima abhängig. In einem Polizeirapport - sie wurden verdächtigt, eine neue Religion zu gründen - wurden sie als Idealisten mit Kältebeulen dargestellt. Den Alltag haben wir uns ähnlich wie in sozialutopischen Kommunen vorzustellen: sehr frühe Tagwache, stundenlange Garten- und Küchenarbeiten, Hüttenbau, auch Kleiderherstellung, Körperertüchtigung, jedoch eher in der Weise der Eurythmie.Daraus entstand später die Schule für Kunst mit Rudolf von Laban auf dem Monte Verità. Suzanne Perrottet hat erzählt, wie sie die Rhythmen von Emil Jaques-Dalcroze zum Bohnenschälen sang. Beim Auf- und Untergehen der Sonne wurden Tanzübungen vollführt. Am Abend versammelte man sich in der Casa Anatta bei Ida Hofmann, um ihr Klavierspiel oder den Vortrag etwa eines Sozialistenführers zu hören. Der Arbeitstag ... war sehr hart. (183f.) Die Tätigkeit gipfelt in den Sommerfestspielen. Das berühmteste ist "Sang an die Sonne" (1917), das bei Sonnenuntergang beginnt ("Der Tanz der sinkenden Sonne"), kurz vor Mitternacht fortgesetzt wird ("Dämonen der Nacht"), um morgens um sechs mit dem "Morgentanz" zu enden: "Am Horizont erschien die aufsteigende Sonnenscheibe und durchglühte die Gewänder der Tänzerinnen. Im Reigen des erwachenden Tages löste sich der dunkle Spuk zu freudig schwingenden, stets erneut anstürmenden Menschenwellen als Sinnbild der ewigen Wiederkehr des Tagesgestirns". (220) Monte Verità leistete Beiträge zu heute hochaktuellen, teilweise brisanten Themen ... Aber Monte Verità zeigt selbstverständlich auch, daß die ideale Gesellschaft eine Utopie ist, daß aber von der Zusammensetzung her die Gesellschaft vom Monte Verità eine ideale Gesellschaft hätte sein können, wäre da nicht die stets virulente Selbstzerfleischung unter Minoritäten .... Mir persönlich erlaubte die Beschäftigung mit diesem Hügel die Neuinterpretation Mitteleuropas über die, die in den Augen der Fortschrittsgläubigen gescheitert sind, aber eben den Mut hatten, zu ihrer individuellen Mythologie zu stehen, also zu einem geistigen Raum, in dem der einzelne jene Zeichen und Signale setzt, die ihm eine Welt bedeuten. (385) Das Recht haben wir uns nun doch endlich erworben, daß jeder sich seinen individuellen Mythos kreieren kann. (119) Natürlich wurden alle diese wunderbaren Formulierungen wie Identität von Kunst und Leben oder authentische Selbstverwirklichung so oft gebraucht, daß man sie nicht mehr hören mag. Aber das besagt ja nichts über die Art, ob und wie sie mit Leben angereichert werden. ... Hinter diesen Begriffen steht als Erzeugerin die große Utopie der idealen Gesellschaft, die Kunst im engeren Sinne nicht mehr nötig hat, weil jeder Mensch in ihr schöpferisch wäre. (119) Die Künstler lieben die Geschichte des Monte Verità wegen der gelebten Ethik. ... Wenn ein Mario Merz sagt, heute bin ich ein Säufer, morgen bin ich Asket, übermorgen bin ich Theosoph, dann bin ich Vegetarier, dann bin ich wieder mehr Anarchist, und alles zusammen nährt die Kunst, die ich hervorbringe - dann ist das die Geschichte des Monte Verità im Kopfe eines einzelnen. (189) Das ist künstlerisches Leben, Lust ohne Machtgelüste irdischen Zuschnitts, dem Vergehen so überlegen, weil es Tun aus "innerer Notwendigkeit" ist. (31) Viele werden sagen: halt mal. ... Das ist doch alles ein alter Hut, der einsame, visionäre, aus dem Chaos schöpfende, den großen Maßstab der "inneren Notwendigkeit" setzende Künstler, der über seine Kunst und mit seiner Kunst sich eine neue, andere schöpferische Gesellschaft vorstellt. Eine Kunst, die letztlich einmündet in den großen Strom humanistischer Ethik und den Ozean all der Utopien, die universal sind. Ich muß leider passen, wenn es um die Einwände geht. Transavantgarde, Postmoderne. Was sind das alles für hohle Gebilde angesichts der Blümlein des Hl. Franziskus und der Kunst, die sich nach seinem Namen konstituierte - il poverello - , sich "arte povera" nannte und unter schäbiger Kutte ein Sonnen- und Naturreich barg. (293) Monte Verità: das sind 75 000 qm Naturpark mit einer einmaligen Mischung aus nordischer und subtropischer Vegetation, mit Gebäuden, die in nuce die Architekturgeschichte der Menschheit von den "Hütten Adams", den Licht-Luft-Hütten der Naturmenschen, über die "theosophische" Holzarchitektur der Casa Anatta, den piemontesischen Landsitzstil der Casa Semiramis bis hin zum Hotel im Stil des Bauhauses repräsentieren, und zwar in einer im Sinne des Wagnerschen "Gesamtkunstwerkes" interpretierten Landschaft. Ein Juwel, das trotz vieler Pläne, es einer fester umschriebenen Nutzung zuzuführen, rein geblieben ist. Ein Solitär mit der Poesie der Nichtrentabilität. Eine Oase abseits vom Boom. (46) Wenn es einen Ort gibt, ... an dem nach dem Zusammenbruch der Ideologien und dem Wiederaufblühen des Rassismus und der Nationalismen mit der üblichen Grausamkeit und Brutalität im Gefolge wieder an übergeordnete Ideen und Idealismen erinnert und heute gedacht werden kann, dann ist es dieser Hügel, dieses Herzstück in einer neuzeitlichen sakralen Topographie. (180) Man sollte deshalb heute eine neue Tradition begründen, wenn auch nicht mehr als Existenzabenteuer, sondern als künstlerisches Abenteuer, damit in Jahrzehnten auf etwas, das die Geschichte des Monte Verità perpetuiert, zurückgeblickt werden kann. (190) (Aus
Harald Szeemann: Zeitlos auf Zeit. Das Museum der Obessionen.
Regensburg 1994) Harald
Szeemann zu Gusto Gräser und Monte
Verità Kurze
Chronik einer Ausgrabung Besten Dank für
Ihren freundlichen Brief und vor allem das wertvolle
Material über Gusto Gräser. Ich war Ihnen schon auf der Spur ... aber
nun haben
Sie erfreulicherweise die Initiative ergriffen. ... Sie können gar
nicht wissen, wie erfreut ich war, von Gusto Gräser mehr
zu erfahren. Ich wusste, dass Hesse bei ihm war ... aber hier konnte
oder
wollte niemand mehr richtig etwas über ihn wissen. Die Zusammenhänge,
die Sie
aufzeigen, sind erstaunlich und überzeugend und erschliessen für
Ausstellung
und Publikation neue Perspektiven. ... Kurz: es ist eine wahre
Fundgrube für
Richtigstellungen und eine faszinierende Aufgabe.
Harald
Szeemann an Hermann Müller, 21. 12. 1976 Aus dem von Harald
Szeemann herausgegebenen
Katalog zur MV-Ausstellung von 1978: GUSTO GRAESER
(1879-1958). Mitgründer der Kolonie, Poet,
Wanderprediger, Weltverbesserer, Prophet bis zu seinem Tode. H.
S.: Monte Verità, Mailand 1978, S.
74 Der Treibsatz, der
die Gruppe [der Siedler]
auseinandersprengt ... heißt ... Gusto Gräser. ... Idas und Henris
[Oedenkovens] Widerstand gegen Gusto schafft eine Polarisierung. ...
Idas
Ausfälle gegen Gusto zeigen allerdings eine Idiosynkrasie, die Angst
verrät.
Angst davor, sie selbst könnte bei einem Nachlassen der Kontrolle aus
den
Normen ausbrechen - wie es dann ihre Schwester tun wird, als sie sich
Karl
Gräser anschließt. (58) Der ursprüngliche
Plan, aus dem Berg der
Wahrheit eine Keimzelle eines ökonomisch wie kulturell autarken, auf
Vernunft,
Ethik und Humanität gegründeten Gemeinwesens als einem der ganzen
Menschheit
voranleuchtenden Beispiel zu machen, (war) ... untergegangen. Die
einen, wie
Henri [Oedenkoven] und Ida [Hofmann], konnten sich die Durchsetzung des
einen
Teils des Vorhabens - die Errichtung einer Naturheilanstalt - mittels
ihrer
materiellen Möglichkeiten leisten. Die anderen, wie die Gräsers, Jenny
[Hofmann] und Lotte [Hattemer], blieben ihrem Willen zum
bedingungslosen
Austritt aus der normierten Kultur treu. (59) Unter den vielen
Wanderpredigern zwischen 1900 und 1950 ... scheint
Gusto Gräser der konsequenteste, der ehrlichste, der schöpferischste zu
sein.
Ob er zwischen Ascona, München und Berlin in den einschlägigen Kreisen
aus
Bohemiens, Anarchisten und Sektierern auftaucht, in den Bann der
Jugendbewegung
gerät oder als alter Mann ... und Urhippie seine Gedichte aus dem
Leinenbeutel
zieht und sie den verlegen lächelnden Umstehenden vorliest: er bleibt
außerhalb
der Konvention, die aufzugeben er sich einmal entschlossen hatte. Er
stirbt
1958 in Freimann bei München, aber durch seinen Jünger Hermann Hesse
wirkt er
mittelbar in die heutige Auseinandersetzung um die Überwindung der
Gehirnlichkeit hinein. (61) Janos Frecot in Szeemann: Monte Verità. Mailand
1978 Ascona war also um
die Jahrhundertwende der zentrale Kultort der
"Mutter Erde" in ihrer ursprünglichen agrarischen Bedeutung. Hier war
der Ort der "tellurischen Theophanie" ... Ascona ist somit eine der
frühen Stätten der Resakralisierung von Zeit und Natur durch die
Verehrung des
primitiven Ackerbaus als Form anti-industrieller Religiosität. ... In
Ascona
erlebte auch Hermann Hesse seine Bekehrung im 'Ashram' des 'Guru'
Gustav
Gräser; hier liegen die Wurzeln seines Indien-Mythos! (30) Es ist bekannt,
daß Hermann Hesse wiederum in Frau Elisabeth, Gusto
Gräsers Gefährtin, den Urtyp der Großen Mutter in Ascona erlebte. (29) Ulrich
Linse in Szeemann: Monte Verità, 1978
Das Geländer der
Freitreppe [des Hauptgebäudes auf MV], die Fenster und
Decken waren mit Fischblasenmustern dekoriert, einem theosophischen
Symbol,
welches Gusto Gräser als "Ringruh" bezeichnete, Sinnbild von Bewegung
und Ruhe, einer besonderen Harmonie im geschlossenen Kreis.
Nicoletta
Birkner-Gossen in Szeemann: Monte Verità, S. 122 (Ernst Bloch)
schrieb im Tessin sein erstes Utopiebuch
Geist der Utopie. Natürlich gehört er,
zumindest mit diesem Buch, in die
Ascona-Geschichte. Harald Szeemann. In: Kunstforum, Bd. 147,
Sept.-Nov.
1999, S. 327 Unser
postindustrielles Zeitalter hat keine
verpflichtende Ikonographie mehr - die heutige Kirche, Staat,
Industrie,
Banken, Multis, die Dienstleistungsgesellschaft: Sie haben die noch
ikonographieschöpfenden Religionen, Nationalismen, Ideologien,
Weltkriege,
humanitären Impulse überwunden oder wenigstens verdrängt, aber haben
sie dafür
neue Phantasien freigelegt? ... Umweltschutz, Lebensqualität, Planung,
sie
haben ebensowenig tragende Bilder erzeugt wie Geschwindigkeit,
Mobilität,
"Überfremdung", Europäischer Wirtschaftsraum und was dergleichen
komplexe Angelegenheiten mehr sind.
Aber gehen wir nun
einen Schritt zurück zu
Versuchen, die den Anspruch erheben können, Kunst ins Leben integriert
zu
haben, also in nuce versucht zu haben, ein Gesamtkunstwerk in der
Gemeinschaft
zu entwickeln. Durch Absonderung zum Modellfall zu werden war eine
Möglichkeit,
und sie hat in der Schweiz ein Musterbeispiel: den Monte Verità. Der
zum Berg
erhöhte Hügel als Summe von Ideologien in einer mütterlichen
Landschaft. Ohne Mythos kein
Überleben und keine
spirituelle Verwandlung von Macht in Verzicht auf Macht. Nur der
einzelne
Schöpferische kann, da kompromißlos, wenn auch für die Zeitgenossen
noch
unverständlich, die Symbole der Zukunft schaffen und damit vorerst für
wenige
andeuten. Die Gesellschaft akzeptiert ungern einen einzelnen als
Propheten,
politisch schon eher; aber den Symbolschaffer verschmäht sie meist zu
Lebzeiten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Er ist außerhalb der
Norm, es
gab Zeiten, da nannte man ihn entartet. Weil seine Werke Schöpfungen
sind. Mir persönlich
erlaubte die Beschäftigung mit
diesem Hügel die Neuinterpretation Mitteleuropas über die, die in den
Augen der
Fortschrittsgläubigen gescheitert sind, aber eben den Mut hatten, zu
ihrer
individuellen Mythologie zu stehen, also zu einem geistigen Raum, in
dem der
einzelne jene Zeichen und Signale setzt, die ihm eine Welt bedeuten. Das Recht haben
wir uns nun doch endlich
erworben, daß jeder sich seinen individuellen Mythos kreieren kann. Wenn es einen Ort
gibt, an dem nach dem
Zusammenbruch der Ideologien und dem Wiederaufblühen des Rassismus und
der
Nationalismen mit der üblichen Grausamkeit und Brutalität im Gefolge
wieder an
übergeordnete Ideen und Idealismen
erinnert und heute gedacht werden kann, dann ist es dieser Hügel,
dieses
Herzstück in einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Man sollte deshalb
heute eine neue Tradition
begründen, wenn auch nicht mehr als Existenzabenteuer, sondern als
künstlerisches Abenteuer, damit in Jahrzehnten auf etwas, das die
Geschichte
des Monte Verità perpetuiert, zurückgeblickt werden kann. Auszüge
aus Harald Szeemann: Zeitlos auf Zeit. Regensburg 1994 Harald Szeemann an
Hermann Müller: Besten Dank für
Ihren Brief und die Kopie des "Göttlichen
Antlitz" ['Das göttliche Gesicht' von Bruno Goetz] (wann ist dieses
Buch
erschienen). Goetz hat es 20 Jahre nach den Ereignissen schreiben
müssen ... 6. 8. 1977 Nach der Einrichtung des dritten Holzhauses mit Elisar von Kupffer hat Gusto nun fast ein Zimmer für sich in der [Casa] Anatta. 7. 9.1987 Ein Teil der Exponate von Gusto Herzlichen Dank
für die neue Publikation ['Gusto Gräser. Aus Leben und
Werk']. Es ist ja wieder viel Neues an den Tag gekommen und im Anhang
sehe ich,
dass Sie unterdessen eine Reihe von "Gräsern & Blättern"
herausgegeben haben. Wäre es Ihnen möglich, mir in Zukunft alles zu
senden ... Vielleicht haben
Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen, dass Gusto &
Karl nun einen ganzen Raum für sich haben. ... Es wäre eigentlich
schön, wenn
das Bild noch von anderen Originalen begleitet würde, ev. Leihgaben aus
Ihrem
Archiv. Überlegen Sie sich’s.
27. 9. 1987 Wie versprochen
haben wir an der letzten Sitzung der
Kulturkommission des Monte Verità über ein Gräser-Archiv im Russenhaus
gesprochen. Im Prinzip sieht alles sehr positiv aus, obwohl natürlich
wie stets
das leidige Geld fehlt ... 4. 1.1988 Nun sind wir
gerade am Erneuern der Beschriftungen auf Monte Verità und
wie Sie aus beiliegendem Ausschnitt entnehmen können, wurde das
Gräser-Archiv
auf Monte Verità schon eingehend diskutiert. Ich bewundere Ihre
Arbeit für Gräser und die davon ausgehenden
Gedanken. Fourier steht natürlich am Beginn des hedonistischen
Kommunegedankens. Ich habe ja in der Ausstellung „Der Hang zum
Gesamtkunstwerk“
Fourier aufgenommen, aber auch Thoreau. Das Kennzeichen all dieser
Schöpfer ist
ja, dass sie mit jeder Geste das Ganze meinen, das Gesamtkunstwerk
anvisieren.
19. 3. 1988 Es war ein
heftiges Jahr und endet auch so, denn wir müssen schon
wieder um den Monte Verità kämpfen. Ich bin deshalb auch nicht weiter
auf Ihre
Vorschläge eingegangen, da unterdessen, wie man so schön sagt, alles
wieder in
Fluss ist, aber hoffentlich im Sinne des Monte. Ich danke Ihnen für
alle Ihre
Anstrengungen und Vertiefungen. Bitte senden Sie mir weiterhin alles
über GG
zu. ...
18. 12. 1988 Da bei mir sich
alles staut, bin ich erst jetzt zu „Feuertanz und
Orgie“ vorgestossen. Es liest sich leicht & gut ...
24. 3. 2000 Ich wurde zwar
gefragt, ob ich mir was einfallen lasse zum „Jubiläum“,
aber der Elan fehlt angesichts der heutigen Nutzung. Ich hoffe, Sie
verstehen das. Umso mehr freut mich, dass der
Gräsergeist durch Sie immer noch weiterwirkt.
21. 3. 2000 |