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Zum Andenken an Harald Szeemann, den Wiederentdecker und Ausgräber des Monte Verità


Harald Szeemann 1933 - 2005

Harald Szeemann 1933 - 2005

Aus der Gedenkrede von Albrecht Götz von Olenhusen beim 3. Internationalen Otto Gross Kongress in Zürich 2005, der Harald Szeemann gewidmet war.

… bei mir dieser obskure Wunsch „Besitz durch freie Aktionen zu ersetzen“, indem man ein öffentliches Haus durch Innovationen bespielt, ein gewisses Publikum in Atem hält und hofft, daß die stete Schändung, die nachträglich immer als Kunst sanktioniert wird, auf die Dauer in den Köpfen zu einer Veränderung führt. Letzteres glaube ich heute noch.

Harald Szeemann, 1974



"Auf dem Berg der Wahrheiten"
Über Harald Szeemanns zerschlagene Pläne, auf dem Monte Verità eine Kunsthalle für Gegenwartskunst errichten,
aus  11/2009

Inhalt

Einführung Harald Szeemann über den "Berg der Wahrheit" Harald Szeemann zu Gusto Gräser und Monte Verità 1976 - 2000


Einführung

Szeemanns vielgerühmte, fantastische, fantasievolle Agentur für geistige Gastarbeit, sein Museum der Obsessionen, sein geniales Lebenswerk, das uns wie ein grandioses, zauberhaftes Gesamtkunstwerk erscheinen muss, auch wenn es in erster Linie den außerordentlichen Künstlern, der jungen Kunst, der künstlerischen Grenzüberschreitung und ästhetischen Entschiedenheit gewidmet war, markiert viele hochbedeutende Ausstellungen der letzten Jahrzehnte.

Mit seinen Werken ‚Visionäre Schweiz’ (1991), ‚Austria im Rosennetz’, ‚Einleuchten’, mit den Biennalen von Venedig (1999, 2001), zuletzt mit 'The Beauty of Failure - The Failure of Beauty (Barcelona 2004) und 'Visionäres Belgien’ (2005) gehörte er zu den bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste, Ausstellungsmachern, Animateuren im besten und ursprünglichsten Sinne, oder, wie man heute sagt: Kuratoren der Gegenwart.

Die ‚documenta 5’ in Kassel ist heute schon so legendär, wie es seine ‚Individuellen Mythologien’ sind. Sein Credo über Grundlagen und Grenzen künstlerischer Freiheit:

Zu den unausgesprochenen Voraussetzungen rechne ich … immer die Ehrlichkeit, die zu anderen Begriffen von Macht im kulturellen Kontext führen müsste, nämlich die Macht, die durch das neue (thematische) Abenteuer immer wieder aufs Spiel gesetzt wird, indem sie dazu dient, die Grenzen weiter nach außen zu schieben. (In: 10 Jahre steirischer Herbst, Graz 1977)

When Attitude Becomes Form – so hieß der Titel einer berühmten Ausstellung (1969) – Live in Your Head: (Works, Concepts, Processes, Situations, Information). Das war auch die Grundstruktur der epochemachenden Ausstellung Monte Verità in Ascona.

(In Gottfried Heuer (Hg.): Utopie und Eros. Der Traum von der Moderne. Marburg 2006, S.45f.)



Harald Szeemann über den "Berg der Wahrheit"

Mit seiner Ausstellung von 1978, Die Brüste der Wahrheit. Monte Verità Ascona, hat Szeemann ein lange vergessenes und verkanntes Gemeinschaftsexperiment des Jahrhundertanfangs wiederentdeckt, uns vor Augen gestellt. Weitere Ausstellungen in Zürich, Berlin, München und Wien folgten, drei ständige kleine Museen wurden auf dem Berg eingerichtet. Bis zu seinem Lebensende kämpfte er dafür, dieses "Herzstück" und Grund-Stück einer mythischen Geisteslandschaft als kulturelles Zentrum zu erhalten und auszubauen. Seinem 1994 in Regensburg erschienenen Buche Zeitlos auf Zeit. Das Museum der Obsessionen sind die folgenden Auszüge entnommen.

Unser postindustrielles Zeitalter hat keine verpflichtende Ikonographie mehr - die heutige Kirche, Staat, Industrie, Banken, Multis, die Dienstleistungsgesellschaft: Sie haben die noch ikonographieschöpfenden Religionen, Nationalismen, Ideologien, Weltkriege, humanitären Impulse überwunden oder wenigstens verdrängt, aber haben sie dafür neue Phantasien freigelegt?

Umweltschutz, Lebensqualität, Planung, sie haben ebensowenig tragende Bilder erzeugt wie Geschwindigkeit, Mobilität, "Überfremdung", Europäischer Wirtschaftsraum und was dergleichen komplexe Angelegenheiten mehr sind. ...

Aber gehen wir nun einen Schritt zurück zu Versuchen, die den Anspruch erheben können, Kunst ins Leben integriert zu haben, also in nuce versucht zu haben, ein Gesamtkunstwerk in der Gemeinschaft zu entwickeln.

Durch Absonderung zum Modellfall zu werden war eine Möglichkeit, und sie hat in der Schweiz ein Musterbeispiel: Den ... Monte Verità. Der zum Berg erhöhte Hügel als Summe von Ideologien in einer mütterlichen Landschaft. (382)

Ohne Mythos kein Überleben und keine spirituelle Verwandlung von Macht in Verzicht auf Macht ... Nur der einzelne Schöpferische kann, da kompromißlos, wenn auch für die Zeitgenossen noch unverständlich, die Symbole der Zukunft schaffen und damit vorerst für wenige andeuten. ... Die Gesellschaft akzeptiert ungern einen einzelnen als Propheten, politisch schon eher ... aber den Symbolschaffer verschmäht sie meist zu Lebzeiten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Er ist außerhalb der Norm, es gab Zeiten, da nannte man ihn entartet. Weil seine Werke Schöpfungen sind. (31)

Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden in der ahistorischen, pädagogischen Landschaft des oberen Lago Maggiore ein ungeheures Potential an Utopien und neuen Lebensentwürfen proklamiert, erprobt, durchlebt und durchlitten ... Alle diese Modelle zwischen den Polen des sozialen Engagements für die klassenlose Gesellschaft und der beispielhaften Ichverwirklichung und Ichverjüngung stehen hier unter dem Leitstern des Glaubens, daß nur über die Absonderung und dadurch das erneute Trittfassen mit der Natur "Gemeinschaft" wieder möglich sein könnte. Die Summe dieser intendierten, gelungenen und mißlungenen Sprünge vom Ich zum Wir schwebt wie eine unsichtbare Wolke über dem Berg der Wahrheit, einem landschaftlichen und klimatischen Mikroparadies, das Teil einer umfassenden Reformkulturlandschaft ist. ... Neben Capri und Taormina in Italien ist Ascona zu einer Stätte geworden für die wiederentdeckten Kulte des Jünglings, der Frau und Großen Mutter, des weisen alten Mannes, der Elemente und Gestirne. (382f.)

Das Leben auf dem Monte Verità war vom Gebot der Selbstversorgung bestimmt. Der Hügel ist zwar landschaftlich wunderschön, aber er war damals auch furchtbar steinig und fast kahl. Die Bewohner der Luft-und-Licht-Hütten waren ganz vom Klima abhängig. In einem Polizeirapport - sie wurden verdächtigt, eine neue Religion zu gründen - wurden sie als Idealisten mit Kältebeulen dargestellt. Den Alltag haben wir uns ähnlich wie in sozialutopischen Kommunen vorzustellen: sehr frühe Tagwache, stundenlange Garten- und Küchenarbeiten, Hüttenbau, auch Kleiderherstellung, Körperertüchtigung, jedoch eher in der Weise der Eurythmie.Daraus entstand später die Schule für Kunst mit Rudolf von Laban auf dem Monte Verità. Suzanne Perrottet hat erzählt, wie sie die Rhythmen von Emil Jaques-Dalcroze zum Bohnenschälen sang. Beim Auf- und Untergehen der Sonne wurden Tanzübungen vollführt. Am Abend versammelte man sich in der Casa Anatta bei Ida Hofmann, um ihr Klavierspiel oder den Vortrag etwa eines Sozialistenführers zu hören. Der Arbeitstag ... war sehr hart. (183f.)

Die Tätigkeit gipfelt in den Sommerfestspielen. Das berühmteste ist "Sang an die Sonne" (1917), das bei Sonnenuntergang beginnt ("Der Tanz der sinkenden Sonne"), kurz vor Mitternacht fortgesetzt wird ("Dämonen der Nacht"), um morgens um sechs mit dem "Morgentanz" zu enden: "Am Horizont erschien die aufsteigende Sonnenscheibe und durchglühte die Gewänder der Tänzerinnen. Im Reigen des erwachenden Tages löste sich der dunkle Spuk zu freudig schwingenden, stets erneut anstürmenden Menschenwellen als Sinnbild der ewigen Wiederkehr des Tagesgestirns". (220)

Monte Verità leistete Beiträge zu heute hochaktuellen, teilweise brisanten Themen ... Aber Monte Verità zeigt selbstverständlich auch, daß die ideale Gesellschaft eine Utopie ist, daß aber von der Zusammensetzung her die Gesellschaft vom Monte Verità eine ideale Gesellschaft hätte sein können, wäre da nicht die stets virulente Selbstzerfleischung unter Minoritäten ....

Mir persönlich erlaubte die Beschäftigung mit diesem Hügel die Neuinterpretation Mitteleuropas über die, die in den Augen der Fortschrittsgläubigen gescheitert sind, aber eben den Mut hatten, zu ihrer individuellen Mythologie zu stehen, also zu einem geistigen Raum, in dem der einzelne jene Zeichen und Signale setzt, die ihm eine Welt bedeuten. (385)

Das Recht haben wir uns nun doch endlich erworben, daß jeder sich seinen individuellen Mythos kreieren kann. (119)

Natürlich wurden alle diese wunderbaren Formulierungen wie Identität von Kunst und Leben oder authentische Selbstverwirklichung so oft gebraucht, daß man sie nicht mehr hören mag. Aber das besagt ja nichts über die Art, ob und wie sie mit Leben angereichert werden. ... Hinter diesen Begriffen steht als Erzeugerin die große Utopie der idealen Gesellschaft, die Kunst im engeren Sinne nicht mehr nötig hat, weil jeder Mensch in ihr schöpferisch wäre. (119)

Die Künstler lieben die Geschichte des Monte Verità wegen der gelebten Ethik. ... Wenn ein Mario Merz sagt, heute bin ich ein Säufer, morgen bin ich Asket, übermorgen bin ich Theosoph, dann bin ich Vegetarier, dann bin ich wieder mehr Anarchist, und alles zusammen nährt die Kunst, die ich hervorbringe - dann ist das die Geschichte des Monte Verità im Kopfe eines einzelnen. (189)

Das ist künstlerisches Leben, Lust ohne Machtgelüste irdischen Zuschnitts, dem Vergehen so überlegen, weil es Tun aus "innerer Notwendigkeit" ist. (31)

Viele werden sagen: halt mal. ... Das ist doch alles ein alter Hut, der einsame, visionäre, aus dem Chaos schöpfende, den großen Maßstab der "inneren Notwendigkeit" setzende Künstler, der über seine Kunst und mit seiner Kunst sich eine neue, andere schöpferische Gesellschaft vorstellt. Eine Kunst, die letztlich einmündet in den großen Strom humanistischer Ethik und den Ozean all der Utopien, die universal sind. Ich muß leider passen, wenn es um die Einwände geht. Transavantgarde, Postmoderne. Was sind das alles für hohle Gebilde angesichts der Blümlein des Hl. Franziskus und der Kunst, die sich nach seinem Namen konstituierte - il poverello - , sich "arte povera" nannte und unter schäbiger Kutte ein Sonnen- und Naturreich barg. (293)

Monte Verità: das sind 75 000 qm Naturpark mit einer einmaligen Mischung aus nordischer und subtropischer Vegetation, mit Gebäuden, die in nuce die Architekturgeschichte der Menschheit von den "Hütten Adams", den Licht-Luft-Hütten der Naturmenschen, über die "theosophische" Holzarchitektur der Casa Anatta, den piemontesischen Landsitzstil der Casa Semiramis bis hin zum Hotel im Stil des Bauhauses repräsentieren, und zwar in einer im Sinne des Wagnerschen "Gesamtkunstwerkes" interpretierten Landschaft. Ein Juwel, das trotz vieler Pläne, es einer fester umschriebenen Nutzung zuzuführen, rein geblieben ist. Ein Solitär mit der Poesie der Nichtrentabilität. Eine Oase abseits vom Boom. (46)

Wenn es einen Ort gibt, ... an dem nach dem Zusammenbruch der Ideologien und dem Wiederaufblühen des Rassismus und der Nationalismen mit der üblichen Grausamkeit und Brutalität im Gefolge wieder an übergeordnete Ideen und Idealismen erinnert und heute gedacht werden kann, dann ist es dieser Hügel, dieses Herzstück in einer neuzeitlichen sakralen Topographie. (180)

Man sollte deshalb heute eine neue Tradition begründen, wenn auch nicht mehr als Existenzabenteuer, sondern als künstlerisches Abenteuer, damit in Jahrzehnten auf etwas, das die Geschichte des Monte Verità perpetuiert, zurückgeblickt werden kann. (190)

(Aus Harald Szeemann: Zeitlos auf Zeit. Das Museum der Obessionen. Regensburg 1994)

 



Harald Szeemann zu Gusto Gräser und Monte Verità

 Kurze Chronik einer Ausgrabung

Besten Dank für Ihren freundlichen Brief und vor allem das wertvolle Material über Gusto Gräser. Ich war Ihnen schon auf der Spur ... aber nun haben Sie erfreulicherweise die Initiative ergriffen. ...

Sie können gar nicht wissen, wie erfreut ich war, von Gusto Gräser mehr zu erfahren. Ich wusste, dass Hesse bei ihm war ... aber hier konnte oder wollte niemand mehr richtig etwas über ihn wissen. Die Zusammenhänge, die Sie aufzeigen, sind erstaunlich und überzeugend und erschliessen für Ausstellung und Publikation neue Perspektiven. ... Kurz: es ist eine wahre Fundgrube für Richtigstellungen und eine faszinierende Aufgabe.   

Harald Szeemann an Hermann Müller, 21. 12. 1976

 


Aus dem von Harald Szeemann herausgegebenen Katalog zur MV-Ausstellung von 1978:

GUSTO GRAESER (1879-1958). Mitgründer der Kolonie, Poet, Wanderprediger, Weltverbesserer, Prophet bis zu seinem Tode.     H. S.: Monte Verità, Mailand 1978, S. 74

 


Der Treibsatz, der die Gruppe [der Siedler] auseinandersprengt ... heißt ... Gusto Gräser. ... Idas und Henris [Oedenkovens] Widerstand gegen Gusto schafft eine Polarisierung. ... Idas Ausfälle gegen Gusto zeigen allerdings eine Idiosynkrasie, die Angst verrät. Angst davor, sie selbst könnte bei einem Nachlassen der Kontrolle aus den Normen ausbrechen - wie es dann ihre Schwester tun wird, als sie sich Karl Gräser anschließt. (58)

Der ursprüngliche Plan, aus dem Berg der Wahrheit eine Keimzelle eines ökonomisch wie kulturell autarken, auf Vernunft, Ethik und Humanität gegründeten Gemeinwesens als einem der ganzen Menschheit voranleuchtenden Beispiel zu machen, (war) ... untergegangen. Die einen, wie Henri [Oedenkoven] und Ida [Hofmann], konnten sich die Durchsetzung des einen Teils des Vorhabens - die Errichtung einer Naturheilanstalt - mittels ihrer materiellen Möglichkeiten leisten. Die anderen, wie die Gräsers, Jenny [Hofmann] und Lotte [Hattemer], blieben ihrem Willen zum bedingungslosen Austritt aus der normierten Kultur treu. (59)

Unter den vielen Wanderpredigern zwischen 1900 und 1950 ... scheint Gusto Gräser der konsequenteste, der ehrlichste, der schöpferischste zu sein. Ob er zwischen Ascona, München und Berlin in den einschlägigen Kreisen aus Bohemiens, Anarchisten und Sektierern auftaucht, in den Bann der Jugendbewegung gerät oder als alter Mann ... und Urhippie seine Gedichte aus dem Leinenbeutel zieht und sie den verlegen lächelnden Umstehenden vorliest: er bleibt außerhalb der Konvention, die aufzugeben er sich einmal entschlossen hatte. Er stirbt 1958 in Freimann bei München, aber durch seinen Jünger Hermann Hesse wirkt er mittelbar in die heutige Auseinandersetzung um die Überwindung der Gehirnlichkeit hinein. (61)

Janos Frecot in Szeemann: Monte Verità. Mailand 1978

 


Ascona war also um die Jahrhundertwende der zentrale Kultort der "Mutter Erde" in ihrer ursprünglichen agrarischen Bedeutung. Hier war der Ort der "tellurischen Theophanie" ... Ascona ist somit eine der frühen Stätten der Resakralisierung von Zeit und Natur durch die Verehrung des primitiven Ackerbaus als Form anti-industrieller Religiosität. ... In Ascona erlebte auch Hermann Hesse seine Bekehrung im 'Ashram' des 'Guru' Gustav Gräser; hier liegen die Wurzeln seines Indien-Mythos! (30)

Es ist bekannt, daß Hermann Hesse wiederum in Frau Elisabeth, Gusto Gräsers Gefährtin, den Urtyp der Großen Mutter in Ascona erlebte. (29) 

Ulrich Linse in Szeemann: Monte Verità, 1978



Gusto Gräser, "der Pan-Idealist", der sich nicht nur in eine Toga hüllte, sondern auch große Bilder "über das Neuland der Menschheit" gemalt haben soll, entwarf einen ellipsoiden Wahrheitstempel, der aber nie zur Ausführung gelangte.                       Antje von Graevenitz in Szeemann: Monte Verità, S. 91


Das Geländer der Freitreppe [des Hauptgebäudes auf MV], die Fenster und Decken waren mit Fischblasenmustern dekoriert, einem theosophischen Symbol, welches Gusto Gräser als "Ringruh" bezeichnete, Sinnbild von Bewegung und Ruhe, einer besonderen Harmonie im geschlossenen Kreis.

                                   Nicoletta Birkner-Gossen in Szeemann: Monte Verità, S. 122


(Ernst Bloch) schrieb im Tessin sein erstes Utopiebuch Geist der Utopie. Natürlich gehört er, zumindest mit diesem Buch, in die Ascona-Geschichte.

Harald Szeemann. In: Kunstforum, Bd. 147, Sept.-Nov. 1999, S. 327


Unser postindustrielles Zeitalter hat keine verpflichtende Ikonographie mehr - die heutige Kirche, Staat, Industrie, Banken, Multis, die Dienstleistungsgesellschaft: Sie haben die noch ikonographieschöpfenden Religionen, Nationalismen, Ideologien, Weltkriege, humanitären Impulse überwunden oder wenigstens verdrängt, aber haben sie dafür neue Phantasien freigelegt? ... Umweltschutz, Lebensqualität, Planung, sie haben ebensowenig tragende Bilder erzeugt wie Geschwindigkeit, Mobilität, "Überfremdung", Europäischer Wirtschaftsraum und was dergleichen komplexe Angelegenheiten mehr sind. 

Aber gehen wir nun einen Schritt zurück zu Versuchen, die den Anspruch erheben können, Kunst ins Leben integriert zu haben, also in nuce versucht zu haben, ein Gesamtkunstwerk in der Gemeinschaft zu entwickeln. Durch Absonderung zum Modellfall zu werden war eine Möglichkeit, und sie hat in der Schweiz ein Musterbeispiel: den Monte Verità. Der zum Berg erhöhte Hügel als Summe von Ideologien in einer mütterlichen Landschaft.

Ohne Mythos kein Überleben und keine spirituelle Verwandlung von Macht in Verzicht auf Macht. Nur der einzelne Schöpferische kann, da kompromißlos, wenn auch für die Zeitgenossen noch unverständlich, die Symbole der Zukunft schaffen und damit vorerst für wenige andeuten. Die Gesellschaft akzeptiert ungern einen einzelnen als Propheten, politisch schon eher; aber den Symbolschaffer verschmäht sie meist zu Lebzeiten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Er ist außerhalb der Norm, es gab Zeiten, da nannte man ihn entartet. Weil seine Werke Schöpfungen sind.

Mir persönlich erlaubte die Beschäftigung mit diesem Hügel die Neuinterpretation Mitteleuropas über die, die in den Augen der Fortschrittsgläubigen gescheitert sind, aber eben den Mut hatten, zu ihrer individuellen Mythologie zu stehen, also zu einem geistigen Raum, in dem der einzelne jene Zeichen und Signale setzt, die ihm eine Welt bedeuten.

Das Recht haben wir uns nun doch endlich erworben, daß jeder sich seinen individuellen Mythos kreieren kann.

Wenn es einen Ort gibt, an dem nach dem Zusammenbruch der Ideologien und dem Wiederaufblühen des Rassismus und der Nationalismen mit der üblichen Grausamkeit und Brutalität im Gefolge wieder an übergeordnete Ideen und  Idealismen erinnert und heute gedacht werden kann, dann ist es dieser Hügel, dieses Herzstück in einer neuzeitlichen sakralen Topographie.

Man sollte deshalb heute eine neue Tradition begründen, wenn auch nicht mehr als Existenzabenteuer, sondern als künstlerisches Abenteuer, damit in Jahrzehnten auf etwas, das die Geschichte des Monte Verità perpetuiert, zurückgeblickt werden kann.

Auszüge aus Harald Szeemann: Zeitlos auf Zeit. Regensburg 1994



Harald Szeemann an Hermann Müller:

Besten Dank für Ihren Brief und die Kopie des "Göttlichen Antlitz" ['Das göttliche Gesicht' von Bruno Goetz] (wann ist dieses Buch erschienen). Goetz hat es 20 Jahre nach den Ereignissen schreiben müssen ...                                                    6. 8. 1977

 

Nach der Einrichtung des dritten Holzhauses mit Elisar von Kupffer hat Gusto nun fast ein Zimmer für sich in der [Casa] Anatta.                                                7. 9.1987



Ein Teil der Exponate von Gusto

 

Herzlichen Dank für die neue Publikation ['Gusto Gräser. Aus Leben und Werk']. Es ist ja wieder viel Neues an den Tag gekommen und im Anhang sehe ich, dass Sie unterdessen eine Reihe von "Gräsern & Blättern" herausgegeben haben. Wäre es Ihnen möglich, mir in Zukunft alles zu senden ...  

Vielleicht haben Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen, dass Gusto & Karl nun einen ganzen Raum für sich haben. ... Es wäre eigentlich schön, wenn das Bild noch von anderen Originalen begleitet würde, ev. Leihgaben aus Ihrem Archiv. Überlegen Sie sich’s.                                                                                                        27. 9. 1987                                                 

Wie versprochen haben wir an der letzten Sitzung der Kulturkommission des Monte Verità über ein Gräser-Archiv im Russenhaus gesprochen. Im Prinzip sieht alles sehr positiv aus, obwohl natürlich wie stets das leidige Geld fehlt ...                                          4. 1.1988

Nun sind wir gerade am Erneuern der Beschriftungen auf Monte Verità und wie Sie aus beiliegendem Ausschnitt entnehmen können, wurde das Gräser-Archiv auf Monte Verità schon eingehend diskutiert.

Ich bewundere Ihre Arbeit für Gräser und die davon ausgehenden Gedanken. Fourier steht natürlich am Beginn des hedonistischen Kommunegedankens. Ich habe ja in der Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ Fourier aufgenommen, aber auch Thoreau. Das Kennzeichen all dieser Schöpfer ist ja, dass sie mit jeder Geste das Ganze meinen, das Gesamtkunstwerk anvisieren.                                    19. 3. 1988

Es war ein heftiges Jahr und endet auch so, denn wir müssen schon wieder um den Monte Verità kämpfen. Ich bin deshalb auch nicht weiter auf Ihre Vorschläge eingegangen, da unterdessen, wie man so schön sagt, alles wieder in Fluss ist, aber hoffentlich im Sinne des Monte. Ich danke Ihnen für alle Ihre Anstrengungen und Vertiefungen. Bitte senden Sie mir weiterhin alles über GG zu. ...            18. 12. 1988

Da bei mir sich alles staut, bin ich erst jetzt zu „Feuertanz und Orgie“ vorgestossen. Es liest sich leicht & gut ...                                                                        24. 3. 2000

Ich wurde zwar gefragt, ob ich mir was einfallen lasse zum „Jubiläum“, aber der Elan fehlt angesichts der heutigen Nutzung.

Ich hoffe, Sie verstehen das. Umso mehr freut mich, dass der Gräsergeist durch Sie immer noch weiterwirkt.                                                                            21. 3. 2000