Zurück | Hinweis:
Razón Cínica LAS AFINIDADES AFECTIVAS DE LA MELANCOLÍA Y LA MODERNIDAD de Jorge Márquez Muñoz (Max Weber en Ascona, Spanisch / Español) PDF |
Hinweis:
Monte
Verità, Erotik und Spiritualität: Die Soziologen Max Weber und Winfried Gebhardt über die Anachoreten von Ascona, 1994 und 2005 |
||||
Max Weber und der Monte Verità Eine Darstellung auf dem Kenntnisstand von 2010 Eine andere Betrachtungsweise, die den Stand 1997 wiedergibt, findet sich hier |
||||||
Gusto
Gräser um
1911 Ein
Außeralltäglicher in
Heidelberg Ende
Februar und Anfang März 1913 geht in Heidelberg ein Außeralltäglicher
von Haus
zu Haus. Besser gesagt: ein charismatischer Außeralltäglicher. Gusto Gräser ist unterwegs. Am
25. Februar hatte er noch in Karlsruhe über „Blütezeit“ gesprochen und
damit,
wie es in einer Besprechung heißt, „manchen in seinem Heiligsten
berührt“. Weiter
schreibt das ‚Karlsruher Tagblatt’: Brachte
Gräser nicht einen Hauch jener Zeit,
in der Freundschaft ein Wort voll Blut und Leben war? Dann stammelte er
das
höhere Wort Liebe. Ja – er stammelte. So hatte ihn das Wesenstiefste
des Wortes
ergriffen, daß er stammeln konnte. … In
ihm, dem
gereiften Manne, sehen wir unsres Ichs reinsten Blütenfrühling wieder.
…
Geläuterte Art klang aus seinen tiefdeutschen Versen, deren wundervolle
Wortprägung in Herzens-sprache redete, sang und jubilierte. Am
7. März dann spricht er im Theosophischen Verein in Heidelberg über
‚Das hohe
Genießen“ (Heidelberger Stadtchronik für 1913, S. 207). Der volle Titel
lautet,
wie anderwärts vorgetragen: „Das hohe Genießen als Rettung aus niederem
Genusse“. Gräser konnte,
wenn er irgendwo reden wollte,
nicht auf eine
hilfreiche Organisation oder aufwendige Werbung zurückgreifen. Er
musste auf
sich aufmerksam machen, Menschen ansprechen, Freunde und Förderer
gewinnen, die
ihn zu sich einluden oder einen Saal für ihn mieteten. Das war meist
eine Sache
von Tagen und Wochen. Dafür zeigte er sich nicht nur auf den Straßen
und
Plätzen, er ging auch in die Häuser und namentlich in solche von
bekannten und
einflußreichen Personen. Noch eher zu solchen, von denen er aufgrund
ihrer
Bildung ein wenigstens ahnungsweises Verständnis für die Hintergründe
seines
Tuns erhoffen konnte. Er ging also zu Künstlern, Reformern, Geistlichen
und
Philosophen, mithin oft und vorzugsweise zu Professoren. In
Vagabunden-kreisen
war man der Meinung, dass er nicht zu ihrer Zunft gehöre, da er nur bei
Professoren die Klinken putze. Tatsächlich gibt es eine lange Liste von
Universitätslehrern, die er nicht nur besucht hatte, die ihm auch mit
Sympathie
entgegenkamen. Im Sommer 1932 z. B. trug er bei drei Heidelberger
Professoren
aus seinem ‚Wortfeuerzeug’ vor und erhielt von allen dreien lobende und
ermutigende Empfehlungsschreiben. „Es ist ein seltenes Erlebnis, einem Menschen zu
begegnen“, unterzeichnet etwa der Germanist Friedrich
Panzer „in aufrichtiger Verehrung“ (W 8). So
hatte er auch in Berlin einen guten
Bekannten von Max Weber, den Philosophen Alois Riehl, besucht. Gräser
also, der
bei Riehl und Friedrich Naumann vorgesprochen hatte, der bei Richard
Dehmel,
Arno Holz oder Hans Thoma vortrug, der bei Gerhart Hauptmann und
Hermann Hesse
zu Gast war, der mit Michael Georg Conrad auf Duzfuß stand und von
Johannes
Schlaf geradezu enthusiastisch gefeiert wurde, dieser Menschensucher,
der mit
den führenden Köpfen seiner Zeit ins Gespräch kommen wollte und von
vielen mit Respekt
empfangen wurde – er konnte an einem Max Weber nicht vorbeigehen.
Selbst wenn
die Webers ihn abgewiesen haben sollten, so wären sie doch auf ihn
aufmerksam
geworden. Und wenn er selbst Webern übersehen hätte, was ganz
unwahrscheinlich
ist, so wäre er von seinen Heidelberger Freunden zu ihm hingeschickt
worden. Er
war nämlich keineswegs zum ersten Mal in Heidelberg. Einer
schwärme-rischen
Vortragsankündigung der ‚Heidelberger Neuesten Nachrichten’ ist zu
entnehmen,
dass er „nach mehrjähriger Pause wiederum hier eingekehrt“ sei. Er war
also
bereits bekannt am Ort und hatte dort Freunde und Bewunderer. Er wird
1909 in
die Stadt gekommen sein, als er bei Prominenten Geld für einen Hausbau
in
Siebenbürgen sammelte. Man darf sich aber nicht vorstellen, dass er als
Bettler
aufgetreten wäre, der um Almosen bat. Vielmehr trat er auf als einer,
der zu
geben hat. Stellte sich etwa als „Reformator der Gesellschaft“ vor, wie
schon
im Jahr 1900 aus Zürich berichtet wird. Da er außerdem von der
vielbeschrieenen
Siedlung Monte Verità berichten konnte, durfte er mit lebhaftem
Interesse bei
einer aufgeklärten und reformwilligen Intelligenz rechnen. Gräser
wird auch 1904 durch die Stadt gekommen sein, als er von Karlsruhe nach
Mainberg unterwegs war. Mindestens einen seiner
Bekannten können wir namhaft machen: den Lyriker, Gräzisten und
Theosophen Carlo
Philips (1854-1937). Weber erwähnt ihn in einem seiner Briefe als
Kenner der
asconesischen Szene (Briefe 1913-14; 222). Philips hieß eigentlich Karl
mit
Vornamen, aber da er seit etwa 1905 wechselweise auf dem Monte Verità
lebte,
hatte er – wie Gusto und Carlo Gräser – seinen Namen italianisiert.
Wohl
möglich, dass er von Gusto nach Ascona gelockt worden war. Philips war
mit dem
Privatdozenten Hans Ehrenberg befreundet, einem guten Bekannten der
Webers.
Beide, Philips und Ehrenberg, hielten sich im April 1913 gleichzeitig
mit Weber
in Ascona auf. Ob wir in dem manchmal als „Neobuddhist“ bezeichneten,
jedenfalls theosophisch interessierten Philips den Verfasser jener
enthusiastischen Vortragsankündigung zu vermuten haben? Möglicherweise
war er
es, der den Vortrag im Theosophischen Verein organisierte. Aus seiner
Begeisterung für Gräser heraus könnte er anschließend mit seinem Freund
Ehrenberg zum Monte Verità gezogen sein. Ein
anderer Monteveritaner war um diese Zeit ebenfalls in Heidelberg
aufgekreuzt:
der deutschrussische Philosoph, Pazifist und Anarchosyndikalist Otto
Buek (1873-1966).
Er war ein Schüler von Hermann Cohen in Marburg, wo er sich mit einem
anderen
Deutschrussen befreundete, dem später als „der Weise von Heidelberg“
legendär
gewordenen Kurt Wildhagen (1871-1949). Buek, ein Gesinnungsgenosse des
mit
Weber befreundeten Robert Michels, besuchte Wildhagen und führte auch
ihn nach
Ascona, wo Wildhagen ein Mitarbeiter von Emil Ludwig wurde. Wildhagens
Lebensstil als Bohemien, Caféhausgelehrter und Menschenfreund hat viel
Gemeinsames mit der Lebensweise Gusto Gräsers. Wie Wildhagen in
Heidelberg, so
verbrachte Gräser in München die Nachmittage regelmäßig in einem Café
bei der
Technischen Hochschule, wo Studenten und Professoren ihn besuchten und
befragten. Ein
anderer Botschafter vom Monte Verità war Bueks Leitbild, der Psychiater
und
Psychoanalytiker Otto Gross (1877-1920), der mit seinen exzentrischen
Theorien
die Heidelberger Intelligenz in helle Erregung versetzte, nicht zuletzt
das
Ehepaar Weber. Auch durch die Liebschaft von Emil Lask mit Frieda Gross
gab es
Beziehungen zum Lago Maggiore. Vertreten durch den „Asketen“ Gräser,
den
Theosophen Philips, den Philosophen Buek und den „Orgiasten“ Gross war
die
ganze spannungsvolle Bandbreite der asconesischen Ideen ahnungs- oder
gerüchtweise schon präsent. Das Terrain war also vorbereitet für den
Auftritt
des „Gesellschaftsreformers“. Kurzum: Nach den genannten
Gegebenheiten und der üblichen
Vorgehensweise von Gräser ist anzunehmen,
dass er auch
das Haus des allseits gerühmten Max Weber mit seinem Besuche beehrt hat. Flugschriften und Sprüche von Gusto Gräser In
den ersten Tagen des März also dürfte er bei Weber vorgesprochen haben.
Drei
Wochen später, am 26. März, schreibt dieser seine erste Karte aus
Ascona. Was
bewegte ihn, an diesen eher berüchtigten Ort zu gehen? Gewiss, eine Kur
im
Frühjahr gehörte zu seiner Routine, aber dafür gab es wahrhaftig
angenehmere
und standesgemäßere Orte. Dieses armselige Fischerdorf am Lago Maggiore
hatte
nicht einmal ein Hotel zu bieten oder ein anspruchsvolleres Restaurant.
Weber
selbst spricht geringschätzig von einem „richtige(n) dreckige(n)
Italienernestchen“
(MW in R 594). Die äußeren Gegebenheiten waren wenig komfortabel und
einem Mann
seines Ranges und Standes eigentlich nicht angemessen. Was
also trieb ihn in dieses „Italienernestchen“? Was
trieb ihn zu den „Naturmenschen“, diesen „neuen
Wilden“ (R 589)? Und
warum fühlt er sich bei ihnen „seltsam jung“ (MW in R 589)? Sollte es,
wie
Radkau und viele andere ihm unterstellen, allein an der Anziehungskraft
der
„Zauberweiber“ gelegen haben? Oder an seinem Wunsch, der in iuristischen
Nöten befindlichen Frieda Gross zu helfen? Wenn dem so gewesen wäre, wenn
Frieda Gross Motiv und Ziel seiner Reise gewesen wäre, dann hätte er mindestens
ihre Adresse gewusst. Er schreibt aber am 28. März an seine Frau: „die Frieda
wohnt, denke ich, oben am Berger, ich hier unten am See“. Und einen Tag später
stellt er erstaunt fest: „als ich gestern von der Post kam, […] kam mir von der
Thür meines Hauses her eine blonde Frau entgegen mit einem blonden, einem
schwarzen Kind, – natürlich Fr[ieda]. […] Sie wohnt weiß Gott in meinem
Hause, die Kinder mit dem Mädchen schräg gegenüber am Hafen. Aber man
sieht sich nicht, wie das ja allein schon zeigt. Sie war etwas befangen, ist
etwas in der Erscheinung ‚proletarisiert‘, aber sonst wie immer.“
Er hat also keine Ahnung, ist völlig unvorbereitet, findet sich zu seiner Überraschung im selben Hause wohnend wie Frieda und sogar im Zimmer ihres Liebhabers Ernst Frick untergebracht, der derzeit im Gefängnis sitzt. Zu Recht fragt Joachim Radkau: „Wieso verbringt Weber zweimal im Frühling ohne Marianne einen ganzen Monat in Ascona? Ging es ihm wirklich, wie Sam Whimster meint‚ am Anfang ‚offensichtlich in erster Linie um Ruhe und Erholung‘? Für Weber war Ascona jedoch kein Urlaubsort wie jeder andere. […] Über die Sub- und Gegenkulturen auf dem Monte Verità muß er, schon bevor er dorthin fuhr, bestens Bescheid gewußt haben“ (Radkau 590). Von wem wohl? „Mit diesem Naturmenschentum kann sich ein Teil von ihm identifizieren“, schreibt Radkau. „Auf seine Art ist ja auch er ein Aussteiger; und zunehmend fesseln ihn andere Menschen, die sich der Alltagswelt entziehen. Das ‚Außeralltägliche’ wird zum Weberschen Reizwort“ (R 589). Aber auch „Charisma“ wird seit dieser Zeit für ihn ein Leitwort, „als einer besonderen Kraft der ‚Propheten, Asketen und Exorzisten’“ (R 599). Seine Lehre vom Charisma taucht nach Radkau „im Unterschied zu anderen Konzeptionen Webers ‚plötzlich’, ‚ohne erkennbare Vorstufe’ auf (WuZ 362), etwa ab 1913“ (R 601). Mit seinem Aufenthalt in Ascona beginnt eine neue Epoche seines Denkens, im besonderen sein Interesse für einen religiösen Idealtypus, den Charismatiker. „Die Charismatiker par excellence waren die Religionsstifter, die Apostel, die Propheten“ (R 602). War
ihm ein solcher im März 1913 auf den Straßen Heidelbergs oder im
eigenen Hause
begegnet? Das ist anzunehmen. Musste ihn eine solche Erscheinung – bei
seinem
bekannten Hintergrund von frommer Erziehung und „dämonischer“ Krankheit
– nicht zutiefst ergreifen, zumindest aber
neugierig machen? „Charisma“,
„heroische Frömmigkeit“, „Liebeskommunismus“, „Brüderlich-keitsethik“,
„Weltabgewandtheit“, „Außeralltäglichkeit“, „Ekstatik“ und
„Gesinnungsethik“
gehören von nun an zu den Stereotypen seines Denkens und Schreibens.
Ja, er
spricht seit dieser Zeit sogar von einem „unbefangenen naturwüchsigen
Heldentum“ (MW in R 606), hat „die neue Vision einer naturhaften
Kultur“ (R
594). Auf
wen würden solche Kennzeichnungen eher zutreffen als auf Gusto Gräser? Webern ist klar geworden: „Es ist dieses
Außeralltägliche, Ekstatische, an keine ängstlichen Rücksichtnahmen
Gebundene,
das in der Geschichte die Macht der Gewohnheit durchbricht und das Neue
schafft“ (R 603). Es ist die Kraft der Individualität, die strukturelle
Zwänge
durchbricht (R ebd.) Nun
sucht Radkau fast verzweifelt nach Menschen, die Vorbild für Webers
Idealtypus
des Charismatikers gewesen sein könnten. Er denkt erst an Bismarck,
zieht sogar
Wilhelm II. in Erwägung, geht weiter zu Friedrich Naumann und Stefan
George,
kommt schließlich unvermeidlich zu Tolstoi - aber jeweils mit negativem
Ergebnis. Sein Suchen bleibt erfolglos. Kein Wunder: Er kennt diesen
Gusto
Gräser nicht. Max
Weber, gefangen im stählernen Käfig der Rationalität, wurde von der
Frage
umgetrieben: „Wie entstehen in dieser Welt der Eingestelltheit auf das
‚Regelmäßige’ … irgendwelche ‚Neuerungen?“ (MW in R 606). Seine
Antwort: „nach
allen Erfahrungen der Ethnologie scheint die wichtigste Quelle der
Einfluß von
Individuen zu sein, welche bestimmt gearteter ‚abnormer’ (vom
Standpunkt der
heutigen Therapie … als ‚pathologisch gewerteter’) Erlebnisse und durch
dieser
bedingter Einflüsse auf andere fähig sind“ (MW in R ebd.). Die „Narren“
bringen
die Welt voran. Ein
solches Individuum dürfte in Heidelberg vor seiner Tür gestanden haben.
Gräsers
Auftreten in Gewandung, Sprache und Tun war so sehr jenseits aller
Regelmäßigkeit, dass er regelmäßig als „verrückt“ betrachtet wurde.
„Der
spinnt“, meinte nicht nur der Mann von der Straße. Auch die amtlich
bestellten
Psychiater bescheinigten ihm „Paranoia“. Paranoia heißt Andersdenken,
ein unbegreifliches
Andersdenken. Dass ein solcher radikal Andersdenkender doch Menschen
anziehen
und sogar für sich begeistern konnte, hatte Weber in Heidelberg vor
Augen. Die
Biografie Gusto Gräsers zeigt es immer wieder: Wohin er auch kam, er
hatte im
Handumdrehen Menschen für sich gewonnen, Freunde gewonnen, die sich für
ihn
einsetzten. So muss es auch in Heidelberg gewesen sein. Denn Gräser war weit entfernt, zu den Theosophen zu gehören,
im
Gegenteil, er stand ihnen äußerst kritisch gegenüber. Es müssen also
die
Theosophen selbst gewesen sein, die ihn trotz seiner keineswegs
konformen
Ansichten zu sich einluden – weil der Mann sie beeindruckte, wohl als
Entsprechung
zu einem indischen Heiligen gedeutet wurde. Der Text einer
Vortragsanküdigung
in den ‚Heidelberger Neuesten Nachrichten’ vom 4. März 1913 bestätigt
das. In
geradezu schwärmerischen Tönen wird Gräser als „Dichter und Denker“ und
als
„Wegweiser“ vorgestellt, der der Menschheit „auf sonniger Bahn“
entgegenkomme,
ihr „den reinen Idealismus der Natur … zu offenbaren“. Das
Thema, das er dann behandelte - „Das heilige Genießen als Rettung aus
niederen
Genüssen“ – wirkt wie ein beziehungsvoller Wink an einen Max Weber, der
in den
niederen Genüssen des „Mastbürgers“ zu versumpfen drohte. Seine
zügellose
Esslust zu drosseln, war denn auch eines
der Motive für seine Kur in Ascona. Webern
muss es aber klar gewesen sein, dass der „Vegetarierfraß“ (MW in R 588)
allein
ihn nicht aus dem niederen Genusse würde retten können. In Ascona hat
er sicher
mehr gesucht als die Reize von Diätetik und Erotik. Die Regeln und
Forderungen
der Askese waren ihm ja nicht unbekannt. Was ihn an Gräser fesseln
musste, war
eben dieser andere Ausweg: nicht Askese - sondern Genießen, ein hohes,
heiliges
Genießen kann befreien, und ein solches ekstatisches Genießen ist trotz
Armut,
Not und ständiger Gefährdung möglich, ja, gerade, in ihr und durch sie
möglich:
durch die „Glücksmutter Not“ (Gräser). Dieser Gräser, das war das
Erstaunliche
und Ungewöhnliche, lebte zwar wie ein Asket, pries aber das Genießen,
die Lust
und in allem und jedem das erfüllte Leben im Diesseits. Darin eben
unterschied
er sich von christlichen und anderen Heilspredigern und Weltflüchtigen.
Spiritualität, so seine Lehre, steht nicht im Widerspruch zum Genuss,
sondern
gibt ihm erst die echte Erfüllung. Daraus musste sich für Weber die
Erkenntnis
ergeben: „Die
ursprüngliche Kraft der Religion
entspringt nicht der asketischen Lebensmethodik als solcher, sondern
nur jener
Askese, die ein Ausdruck des religiösen Enthusiasmus und
‚Liebeskommunismus’,
der spirituell-erotischen und ekstatischen Religiosität ist“ (R 588). Schriftblätter von Gusto Gräser Gräser wurde
oft als „Asket“ verstanden und
angesprochen. Er
hatte dafür nur ein Lachen übrig: „Nur Lust und Lieb kann retten!“ Im
Aufstand
gegen die lustfeindliche Tendenz des Christentums fand er ja zu seinem
eigenen
Weg, zu einer Mystik ekstatischer Leib- und Lebensbejahung, einer
solchen
freilich, die unbedingte
Leidensbereitschaft mit einschließt, ja voraussetzt. Gräser feiert die
„Allweltmutter
Not“ und den „heiligen Ineinanderschlang“ und bietet damit jenes
Ineinander von
Erotik und Spiritualität, nach dem Weber instinktiv auf der Suche war. Auf dem Monte Verità von 1913
und 1914, im Sanatorium von Henri
Oedenkoven etwa, konnte er diese ekstatische Religiosität nicht finden.
Es gibt
auch keinerlei Anzeichen dafür, dass er sie dort gefunden hätte. In
Frieda
Gross und Franziska zu Reventlow begegneten ihm lediglich sehr
randständige und
teils sehr zweifelhafte Ableger der monteveritanischen Ideologie. Etwas
näher
kam Weber dem Zentrum in seinen Begegnungen mit dem inhaftierten
Anarchisten
Ernst Frick. Und dennoch wird niemand auf den Gedanken kommen, Frick
könne das
Urbild für seine Denkfigur des charismatischen Propheten gewesen sein.
Der
immer etwas verzweifelt und hilflos wirkende Frick weckte zwar
mütterliche
Gefühle bei Frauen, eine Ausstrahlung von Kraft und Reinheit oder gar
eine
mitreißende Botschaft ging nicht von ihm aus. Überschriften von Gusto Gräser Kurzum:
Der Versuch von Joachim Radkau und anderer, Max Webers neue
Denkbewegungen und
Findungen, wie sie namentlich in den ‚Zwischenbe-trachtungen’ zum
Ausdruck
kommen, von seiner Begegnung mit den asconesischen „Zauberweibern“
abzuleiten,
kann nicht überzeugen. In dieser Argumentation gibt es, wie Radkau
selber
empfindet, ein „missing link“, ein fehlendes konkretes Vorbild für
seine neuen
Einsichten und namentlich für seinen Idealtypus. Dieses „missing link“
finden
wir überzeugend in der charismatischen Gestalt Gusto Gräsers und seiner
ebenso
ekstatischen wie naturwüchsigen Religiosität. Gewiss hat die heimliche
Sehnsucht
nach Else Jaffé zu Webers Wandlung wesentlich beigetragen. Aber wo denn
wäre in
dieser Person oder dieser Beziehung etwas von Außeralltäglichkeit,
Heroen-gemeinschaft,
Brüderlichkeitsethik, Weltabwendung, religiösem Orgiasmus, vom
Heldentum
askosmistischer Güte, von Liebeskommunismus und Charisma zu finden? Das hieße ja einen ganz gewöhnlichen
Ehebruch, Seitensprung, eine Liebesaffäre in religiöse Höhen zu
schwindeln.
Wohl aber konnte die gedankliche Annäherung an einen innerweltlichen
Ekstatiker
und seine lustbefreiende Lehre ihm als Legitimation dienen, seine
Beziehung zu
Else positiv zu deuten und damit zu rechtfertigen. Die erotische
Beziehung muß, von jeder
religiösen Brüderlichkeitsethik aus angesehen, je sublimierter sie ist
nur
desto mehr, der Brutalität in ganz spezifisch raffiniertem Maße
verhaftet
bleiben. … Im Einklang steht der erotische Rausch … nur mit der
orgiastischen,
außeralltäglichen, aber in einem besonderen Sinne innerweltlichen, Form
der
Religiosität (MW in R 598). Auf die Innerweltlichkeit, die
Diesseitigkeit, die Weltbejahung kam
es ihm an. Eine solche Art von Religiosität konnte er zwar auch in
entlegenen,
mehr oder weniger häretischen Lehren des Fernen Ostens finden. Aber
konnte er
sie übersehen, wenn sie ihm leibhaft in der Gestalt eines prophetischen
Barfußpredigers
vor Augen stand? Eines Predigers allumfassender Brüderlichkeit: „Das
Miteinander lebt, das Miteinander nur!“ Eines Mahners zu „Kommunismus
des
Herzens“ (Titel einer Rede während der Revolution von 1919), also zu
„Liebeskommunismus“. Eines Streiters wider die Zwänge von Schule,
Kirche und
Staat, eines Aufständischen gegen die gesamte westliche Kulturtradition
überhaupt. Ein jesuanisch lebender „Asket“ und „Apostel“, der mit Weib
und
sieben Kindern durch die Lande zieht – für einen Traditions-christen
eine fast
schon blasphemische Erscheinung. Für den um die Integration seiner
lange
verdrängten Sexualität kämpfenden Max Weber musste eine solche Gestalt
befreiende Wirkung haben. Seine nach 1913 entstehenden
‚Zwischen-betrachtungen’
schrieb er, nach eigener Aussage, in einer Art „Euphorie“ (MW in R 597). Übrigens: Nur wenige Tage nach
seinem Auftreten in Heidelberg wurde
Gräser in Mannheim wegen „unerlaubter Zettelverteilung“ festgenommen.
Weil er
wie üblich seine Schriften in den Straßen verteilte oder verkaufte.
Drei Tage
wurde er in Haft gehalten, dann aus Baden ausgewiesen und abgeschoben.
In den
‚Heidelberger Neuesten Nachrichten’ vom 13.März 1913 wurde berichtet: Heute
Harmoniesaal in Heidelberg, morgen Gefängniszelle in Mannheim. Heute
„Wegweiser
für die Menschheit“, morgen „Bettler“ und Abschiebehäftling. Max Weber
konnte den
Schluss ziehen: Die
„mystische Erlösungssuche … fiel auch
selbst der Weltherrschaft der Unbrüder-lichkeit anheim. Einerseits war
ja ihr
Charisma nicht jedermann zugänglich. Sie war also, dem Sinne nach,
Aristokratismus höchster Potenz: religiöser Heilsaristokratismus. Und
inmitten
einer rational zur Berufsarbeit organisierten Kultur blieb für die
Pflege der
akosmistischen Brüderlichkeit selbst – außerhalb der ökonomisch
sorgenfreien
Schichten – kaum noch Platz: das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu
führen,
scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler
Kultur rein
äußerlich zum Mißerfolg verurteilt“ (RuG 560). Im
Schicksal des „Wegweisers“ von Heidelberg wurde dem Kulturbürger Weber
eine
Einsicht ins Bewusstsein gedrückt, die
er in eigenen Worten so formuliert: Wer auch nur
einen Pfennig Rente bezieht, die
andere direkt oder indirekt zahlen müssen, wer irgendein Gebrauchsgut
besitzt
oder ein Verkehrsgut verbraucht, an dem der Schweiß fremder, nicht
eigener
Arbeit klebt, der speist seine Existenz aus dem Getriebe jenes
liebeleeren und
erbarmungsfremden ökonomischen Kampfes ums Dasein, den die bürgerliche
Phraseologie als „friedliche Kulturarbeit“ bezeichnet … Die Stellung
der
Evangelien dazu ist in den entscheidenden Punkten von absoluter
Eindeutigkeit.
Sie stehen im Gegensatz nicht etwa gerade zum Krieg – den sie gar nicht
besonders erwähnen – , sondern letztlich zu
allen und
jeden Gesetzlichkeiten der sozialen Welt (MW in Green 332). In
Gusto Gräser stand Weber ein Mensch vor Augen, der sich bewusst und
provokativ
außerhalb der Gesetzlichkeiten der sozialen Welt stellte. Der in Wort
und Tat
seine Mitmenschen herausrief aus der Gefangenschaft im eisernen Käfig: Dies
ist der Mörder:
Macht ist sein Stern - Unmacht, das ist sein Zeichen. König
ist er der
Knechtleherrn, der geschäftigen Leichen. Hochverehrt
braut er
ganz commod mit Kultur allem Menschsein
Tod. Bist
auch du sein
devoter untertänigster Toter? Winke
zur Genesung 13
Die
„charismatische Gesellschaft“ vom Monte Verità Ist
es Zufall oder sinnvolle und folgerichtige Ergänzung, dass ein heutiger
Soziologe, Winfried Gebhardt, zweifellos in geistiger Nachfolge Webers,
„die
Kerntruppe der ‚Monteveritani’ als Beispiel einer Gemeinschaft“ deutet,
„die
sich dem Prinzip des ‚Charisma als Lebensform’ verpflichtet weiß“ (G
151)? Hier
einige Auszüge aus seiner Untersuchung: Karl Gräser,
ein ehemaliger Oberlieutenant
der österreichischen Armee, und Ida Hofmann [richtig: Jenny Hofmann] …
bildeten
den ideologisch „harten Kern“, um den herum sich noch einige andere
Personen
gruppierten: „Gusto“ Gräser, der Bruder Karls, Jenny Hofmann, die
Schwester
Idas, Lotte Hattemer und Ferdinand Brune.“ (G 162) Karl Gräser
war also der radikalere Denker,
er suchte den absoluten Bruch mit der „alten Welt“ und ihren
Vorstellungen von
Eigentum und Kultur, blieb seinem „Willen zum bedingungslosen Austritt
aus der
normierten Kultur“ treu, orientierte sich an „kommunistischen Ideen“
und
widersetzte sich allen Kompromissen. Er und seine Lebensgefährtin Jenny
Hofmann
setzten ihren ganzen Stolz darin, alles was sie zum Leben benötigten,
selbst
herzustellen. Sie wollten sich mit den primitivsten Bedarfsmitteln
begnügen und
lehnten es prinzipiell ab, sich auch nur im mindesten
auf kapitalistische Geld- und Tauschbeziehungen einzulassen. (165f.) Die
Sezessionisten Karl Gräser, Jenny Hofmann
und Lotte Hattemer (blieben) fest
entschlossen, ihre Ursprungsideale „rein“ zu erhalten. Sie verließen
zwar das
Gelände des gemeinsam begonnenen Siedlungsprojekts, nicht aber den
Monte
Verità. Sie siedelten sich in der Nähe der Oedenkovenschen Besitzung an
und
lebten hier ihr Ideal eines einfachen, harmonischen, nur dem Augenblick
geweihten, sich selbst genügsamen Lebens absoluter Armut und
fanatischer
Kulturverachtung – Jenny und Karl gemeinsam, Lotte alleine, jeweils in
der
selbstgewählten Absonderung einfacher Erd-hütten, dafür aber im
Einklang mit
der „Natur“. … Auch „Gusto“ Gräser zog es für eine gewisse Zeit wieder
zurück
nach Ascona, wo er in einer Erdhöhle Zuflucht fand, bevor er endgültig
die
Gegend verließ, um als Wanderprediger für eine „natürliche Lebensweise“
durch
Deutschland und Europa zu ziehen. (167 f.) Gebhardt
hat einen Teil dessen aufgedeckt, was Max Weber in Ascona gegenwärtig
war, was
er nicht übersehen haben kann, auch wenn er in seinen Briefen nicht
davon
spricht. Sein Nachfolger ist allerdings über Gusto Gräser schlecht
informiert.
Er weiß nicht, dass Karl ein „Jünger“ seines Bruders Gusto war, und
zwar, in
dessen Augen, ein schwacher. Er soll ihn sogar als „Mammonknecht“
bezeichnet
haben, weil Karl nicht alle seine Güter von sich warf. Dieser wiederum
nannte
seinen Bruder einen „von Güte und Schönheit Besessenen“ (Brief an Gusto
vom Sommer
1907). Man ersieht daraus, um wieviel radikaler (und damit
„charismatischer“)
Lebens- und Denkform Gusto Gräsers war, gemessen an den von Gebhardt so
bezeichneten „säkularen Anachoreten“ vom Monte Verità (G 168). Wenn
also Gebhardt heute – aus historischer Entfernung – in den schwächeren,
weil
anpassungbereiteren Schülern und Nachfolgern Gustos das Beispiel einer
charismatischen Gesellschaft entdeckt, die er mit dem urchristlichen
Eremiten-tum
gleichstellt, um wieviel mehr muss Max Weber seinerzeit, sowohl im
Anblick der
Gräserfreunde auf dem Berg wie erst recht in der anzunehmenden
Begegnung mit
Gusto selbst, von Ethos und Ausstrahlung dieses Mannes berührt, ja,
ergriffen
worden sein! Sein bohrendes Nachdenken über den Ideenkomplex, den er in
den
‚Zwischenbetrachtungen’ und anderswo ausbreitet, gibt davon beredes,
vielsagendes Zeugnis. Bekannt
ist seine Alternative: „Entweder – oder! Entweder dem Uebel nirgends mit Gewalt
widerstehen, dann aber: - so leben wie
der heilige Franziskus und die heilige Klara, oder ein indischer Mönch,
oder
ein russischer Narodnik (?). Alles andere ist Schwindel oder
Selbstbetrug. Es
gibt für diese absolute
Forderung nur den absoluten
Weg: den des Heiligen.“
(MW in
Hanke 188) Weber hatte ein Beispiel dafür vor Augen.
|
||||||
War
Weber auf
dem Monte Verità?
Max
Weber war in Ascona, aber war er auch auf dem Monte Verità? Weder in
seinen
Briefen aus Ascona noch, meines Wissens, irgendwo sonst erwähnt er ihn.
Sollte
er ihn, obwohl am Ort, ignoriert haben? Stieg er nie hinauf auf den
Berg der
Reformer, der Aussteiger, der Naturmenschen? Aber
gewiss war er dort! Auch wenn wir das ohnehin als selbstverständlich
voraussetzen müssen – wir haben dafür einen ausdrücklichen und
aussagekräftigen
Beleg. Und zwar im von Marianne Weber verfassten ‚Lebensbild’ ihres
Mannes. Dort
heißt es: Frühjahr 1913
und 14 verbringt Weber in einem
Oertchen an einem der ober-italienischen Seen, das mancherlei seltsamen
Menschen Zuflucht gewährt, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft
geschieden
haben: Anarchisten, Naturmenschen, Vegetariern und anderen modernen
Sektierern,
die hier ihre Ideale verwirklichen und dadurch die Zelle einer neuen
Weltordnung bilden wollen. Auch Anhänger des Freudjüngers haben sich
dorthin
zurückgezogen, Anarchisten und Kommunisten. Sie stellen hier ihr Dasein
ganz
auf ihre Ideale: vor allem Freiheit von jeder überlieferten Norm –
leben in
Armut und Ungeborgenheit und tauschen dafür Außeralltägliches ein, das
seelische Abenteuer, den Kampf um Selbstbehauptung in einer Existenz
voll
Bedrängnis aller Art (L 494). Ein
erstaunliches Dokument! Erstaunlich deshalb, weil es in der Zeit um
1925, als
diese Zeilen niedergeschrieben wurden, noch keine Literatur über den
Monte
Verità gegeben hat (abgesehen von den sehr persönlichen Auslassungen in
den
Broschüren von Erich Mühsam und Ida Hofmann). Erstaunlich zum zweiten,
weil
Marianne Weber die Bewohner des Berges in einer Differenzierung
beschreibt, die
noch heute als gültig angesehen werden kann. Sie bietet ein Bild, das
nicht nur
gute Beobachtung sondern auch gründliches Nachdenken voraussetzt. Auch
Sympathie spricht aus ihrem Bericht. Tatsächlich
hat Frau Weber ihren Mann in Ascona besucht. Gemeinsam werden sie auf
den Berg
gestiegen sein. Max Weber allein gewiss nicht nur einmal. Wenn aber
schon seine
Frau nach einem Kurzbesuch so gut Bescheid wusste, wieviel mehr ihr
Mann? Und
um wieviel mehr, als Denker aus Leidenschaft und Beruf, muss der
Kulturforscher
Weber sich Gedanken gemacht haben! Vom
bloßen Augenschein bei einem einmaligen Besuch war ein solcher
Überblick, wie
ihn Marianne Weber bietet, nicht zu gewinnen. Woher bezieht sie ihre
Kenntnisse? Hat Weber an Ort und Stelle sich informiert? Ist er durch
Kenner
des Orts wie Carlo Philips direkt oder indirekt - etwa über Hans
Ehrenberg –
unterrichtet worden? Hat er die Richtungskämpfe in der SPD um 1905
beobachtet,
an denen Raphael Friedeberg auslösend mitbeteiligt war?
Wurde er durch Robert Michels auf das Thema
hingelenkt, der politisch in der Nähe Friedebergs stand? Michels hat diese Kämpfe später in einem Aufsatz dargestellt
(Robert
Michels, Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen
Sozialismus
(1903-1907), in: Festschrift für Carl Grünberg zum 70. Geburtstag,
Leipzig 1932).
Dass Bebel, Kautsky und Singer 1905 den Monte Verità bestiegen haben,
zeigt zur
Genüge, dass der Berg schon zu dieser Zeit in den Focus politischer
Interessen
gelangt war. Zum
andern hatten sich die Webers, wie bekannt, mit der Theorie und Praxis
von Otto
Gross schon um 1907 energisch auseinandergesetzt. Dass die Grossianer
in Ascona
ihren Ursprung und Stützpunkt hatten, war ihnen gewiss nicht unbekannt.
Auch
musste Max Weber schon aus seinen diätetischen und allgemein
gesundheitlichen
Problemen heraus einen suchenden Blick auf die Naturheiler werfen.
Nicht zu
reden von der „freien Liebe“, dem Genossenschaftsexperiment und anderen
Reformansätzen, die dem Berg eine erregte Aufmerksamkeit sicherten. Es
gab also
Gründe und Anlässe genug, sich mit dem Monte Verità intensiv zu
befassen. Die
einzigen, möglicherweise noch greifbaren literarischen Quellen dafür
waren die
Broschüren ‚Ascona’ von Erich Mühsam (1905) und ‚Monte Verità’ von Ida
Hofmann-Oedenkoven (1906). Aus ihnen ließ sich zur Not ein ungefähres
Bild der
verschiedenen Gruppierungen auf dem Berg herausdestillieren. Weber wird
sich
diese kleinen Schriften besorgt, wird sich mit den Ideen der Siedler
beschäftigt haben. Warum
ist davon in seinen Briefen aus Ascona nichts zu lesen? Warum füllt er
sie mit
Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten, die einem Bierbauchphilister
bestens
anstünden? Liest man sie oder die Darstellung etwa eines Sam Whimster,
dann
gewinnt man den Eindruck, dass sich der Herr Professor am Lago Maggiore
einem
stumpfsinnig-gedankenlosen Faulenzerleben ergeben hat, hauptsächlich
mit
Magen-, Darm-, und Schlafproblemen beschäftigt war. Warum
fällt das Wort „Monte Verità“ nicht ein einziges Mal? Wer
sich diese Frage stellt, dem muss auffallen, dass auch Marianne weder
den Namen
„Ascona“ nennt noch gar das Wort „Monte Verità“ über die Lippen bringt.
Das
Wort ist für sie offenbar unaussprechbar. Schon der Hinweis „Ascona“
wäre
zuviel für sie gewesen. Genauso und erst recht war die berüchtigte
Vokabel
offenbar für Weber selbst ein Unaussprechliches, war ein Tabu. Er
schweigt
brieflich gegenüber seiner Frau auch in der Sache über das Thema. Dass
sie aber
darüber geredet haben müssen, das geht aus dem oben zitierten Passus
einwandfrei hervor. Marianne
unterscheidet geradezu wissenschaftlich exakt: „Anarchisten,
Naturmenschen,
Vegetarier“. Eine solch klare Unterscheidung hat noch nicht einmal der
grundlegende Katalog von Harald Szeemann ein halbes Jahrhundert später
durchgehalten!
Bis heute werden die drei klassischen Typen der Ansiedler in bunter
Mischung
durcheinander geworfen oder öfter noch über einen Leisten
geschlagen. Die
Vegetarier – das waren in erster Linie die Gründer und Bewohner der
Naturheilanstalt von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann. Die Anarchisten
dagegen
waren keine Vegetarier sondern aus Berlin zugezogene linke
Intellektuelle wie
Raphael Friedeberg, Erich Mühsam und Johannes Nohl. Als „Naturmenschen“
wiederum wurden ausschließlich die Brüder Gräser und ihre Freunde
bezeichnet,
in polemischer Abgrenzung durch speziell die bürgerlichen Reformer um
Oedenkoven, die mit den „Naturmenschen“ partout nicht verwechselt
werden
wollten, in ihnen einen schweren Schaden für den Ruf ihres
geschäftlichen
Unternehmens sahen. Die Anarchisten wollten erst recht keine
Naturmenschen
sein, auch keine Vegetarier, wollten weder auf Fleisch, Alkohol und
Nikotin
noch auf Schlips, Kragen und Bügelfalte verzichten. Diese
Radikalrevolutionäre
redeten sich untereinander in der Sie-Form an! Frau
Weber hat also die Differenzen mit einer Klarheit erfasst, die auf
soziologische Schulung hindeutet – oder eben auf „Schulung“ durch einen
Soziologen. Auch unter den Anarchisten wird von ihr noch einmal
differenziert:
Es gibt da die Anhänger des namentlich nicht genannten Freudjüngers
Otto Gross,
im Unterschied zu anderen wie Raphael Friedeberg oder Fritz Brupbacher,
die nicht
zu den Jüngern des Freudjüngers zählten. Unter diesen wiederum gab es
einen
Flügel mit bakunistischer Tendenz – hauptsächlich die Zürcher
Anarchisten wie Franz
Blazek und die Gebrüder Scheidegger – und einen Flügel mit
kommunistischen
Neigungen, so vor allem bei Erich Mühsam. Auch
weiß Frau Weber, dass die Siedler nichts Geringeres vorhatten, als „die
Zelle
einer neuen Weltordnung“ zu bilden. Das traf in erster Linie auf Gusto
Gräser
zu, dessen Lehrmeister, der Maler Karl Wilhelm Diefenbach, über die
gewöhnliche
Lebensreform mit ihren hygienischen Forderungen hinaus eine allgemeine
und
umstürzende Kulturreform anstrebte. Von ausgeprägten Vorstellungen für
eine
„neue Weltordnung“ konnte weder bei den Sanatoriums-Vegetariern noch
bei den
Anarchisten die Rede sein, wohl aber bei Karl und Gusto Gräser. Der
Gedanke
einer vorbildhaften sozialen Zellbildung geht auch
auf die utopischen Sozialisten und auf Gustav
Landauer zurück. Die
Dreiheit Diefenbach-Fourier-Landauer war maßgeblich für die
Siedlungsvorstellung
der Gräserbrüder. Ungenau
ist Frau Weber, wenn sie den Bergbewohnern pauschal „Freiheit von jeder
überlieferten Norm“ zuschreibt. Davon konnte, wie schon angedeutet, bei
den
Anarchisten und Vegetariern nur in Maßen die Rede sein, im vollen und
radikalen
Sinn aber bei Gusto Gräser. Auch „Armut und Ungeborgenheit“ treffen auf
den
besitzlosen Wanderer weit mehr zu als auf alle andern, und
selbstverständlich
auch der „Kampf um Selbstbehauptung in einer Existenz von Bedrängnis
aller
Art“. Man muss also annehmen, dass Marianne mit diesen letzten
Charakterisierungen vor allem Gusto Gräser und dessen Bruder Karl im
Auge
hatte, umsomehr, als sie hier das Wort „Außeralltägliches“ verwendet,
eine
Prägung ihres Mannes, die dieser sehr wahrscheinlich im Hinblick auf
die
Gräsers, namentlich aber Gusto, geschaffen hat und die man als sein
Codewort
für diesen „seltsamen Heiligen“ verstehen kann. Warum,
noch einmal, spricht Max Weber nicht über den Monte Verità? Er befindet
sich
damit in „guter“ Gesellschaft. Denn weder ein Hermann Hesse noch ein
Gerhart
Hauptmann, weder ein Hugo Ball noch ein Ernst Bloch, kein Bruno Goetz
oder Hans
Arp und kaum irgendein anderer von den vielen Künstlern und
Intellektuellen,
die den Monte Verità besuchten, haben sich öffentlich und ausdrücklich
dazu
bekannt. Der Ort war berüchtigt als der Ort einer Avantgarde, wo
ungeheuerliche
Dinge geschahen oder möglich waren,
insofern
faszinierend und abstoßend zugleich, aber gewiss keine Empfehlung im
bürgerlichen, literarischen oder wissenschaftlichen Milieu. Monte
Verità war
ein Tabu. Dort gewesen zu sein, konnte eine bürgerliche Existenz
ruinieren. Darum
schweigt Weber zu diesem Thema. Ein
anderes, tieferes Moment spielt mit. Wer sich zu einem Gusto Gräser
bekannte
oder ihn auch nur irgendwie gut fand, der musste sich die Frage
gefallen lassen
(und sich selbst stellen): „Und Du? Was tust Du in seiner Nachfolge
oder was
nur halbwegs vergleichbar wäre? Wer bist Du neben ihm?“ – Es ist die
Scham der
Beschämten im letzten Grunde, die seine Zeitgenossen zum Schweigen
verurteilte.
Wenige hatten den Mut, offen auszusprechen, was sie empfanden, so wie
die
Dichterin, Pfarrfrau und Vorfrau der Bekennenden Kirche Esther von
Kirchbach:
„Diesem Manne müsste man eigentlich nachfolgen, was uns aber
überfordert.“ Auch darum schweigt Weber zu
diesem Thema. Dass er seine Briefe mit
Banalitäten vollstopft, die einem spießbürgerlichen Klatsch bedenklich
nahekommen, darf als eine Wand verstanden werden, hinter der der Denker
Weber
verbirgt, was eigentlich in ihm vorgeht, was ihn im Stillen – und
vielfach noch
unbewusst – beschäftigt. Auch sein juristischer Beistand für die
Ex-Frau von
Otto Gross war hervorragend geeignet, als Schirm und Ablenkung von
Anderem,
Tiefergehendem zu dienen. Eben sein Schweigen über einen Ort, der als
extreme
Herausforderung an seine gewohnten Überzeugungen gelten muss, eben
dieses
Schweigen spricht. Nicht in seinen Briefen, wohl aber in seinem Werk,
namentlich in den oft genannten ‚Zwischenbetrachtungen’ und in der Rede
über ‚Politik
als Beruf’, haben wir die Spur des Monte Verità zu suchen. Die ehemalige Casa
Abbondio, jetzt Via Moscia 14, an der
Seeuferstraße nach Brissago, steht oberhalb der Brücke, unter deren
Torbogen
Gusto Gräser zeitweilig schlief und von wo er mit seinem Einbaum-Boot
in den
See stach. Es handelt sich vermutlich um den hässlich modernisierten
hellen
Kastenbau am Ende der Brücke.
Von
der Casa Abbondio aus konnte Weber den Monte Verità über einen Fußweg
in
fünfzehn Minuten erreichen. War der „Berg“ auch nur ein Hügel, so war
der Weg
zum Gipfel doch steil und steinig, nicht viel mehr als ein
ausgewaschenes
trockenes Bachbett. Eine Fahrstraße vom Ort hinauf zum Sanatorium gab
es damals
noch nicht, die Zufahrt wurde auf der Rückseite des Berges, von Losone
her,
erschlossen. Um die selbe
Zeit wie Weber, 1914, hat auch der Münchner
Schriftsteller Hans Brandenburg den Berg besucht. Von ihm stammt eine
poetische
Beschreibung des Weges, den auch die Webers gegangen sein müssen.
Brandenburg
„klimmt die rohen Steinstufen eines Fußpfades hinan“. „Dieser führte
auf eine ausgedehnte, vielfach zerklüftete, ehemals fast nackte
Felskuppe, die
über dem Ort und dem See in breiter Welle den Hintergrund der höheren
Berge
schlug und auf der sich allerhand Siedler ansässig gemacht hatten,
Leute aus
aller Herren Länder, zum Teil Naturmenschen und Pflanzenesser,
angelockt durch
den mehr als billigen Preis des Bodens, auf welchem, so steinig er war,
doch
ein beinahe tropisches Wachstum sich entfaltete, wenn man ihm eine
Schicht
guter Erde auflegte. Von und nach den verschiedensten Seiten liefen
ähnliche
Steige, geröllig wie die Betten reißender Gebirgsbäche, in die sie sich
bei
Regen auch in der Tat verwandelten, so dass man dankbar sein musste,
wenn man
über die herausragenden Steine ziemlich trockenen Fußes durch die
Fluten
gelangen konnte. An diesen Steigen lagen, weit sichtbar oder
halbversteckt,
größere oder kleinere Häuschen aus Stein oder Holz, meist inmitten von
Obst-,
Gemüse- und Baumpflanzungen, Bambus-gehegen und Weingärten, und Reben
spannen,
an granitenen Säulen emporkletternd, an vielen Stellen grüne Dächer
über den
Weg, den überall niedrig geschichtete Cyklopenmauern säumten, aus
welchen große
Smaragd-eidechsen wie grüne Blitze durch die Sonne sprühten. Schon auf
halber
Höhe dieses Berges hatte man das Städtchen unter sich, es lag einem mit
seinen
gestreckten Dächern und der ragenden Säule seines Kirchturms zu Füßen,
als wäre
es droben aus den Felsen herausgebrochen und dann hinabgeworfen worden,
und
dahinter entbreitete sich in langem Flusse der blaue See mit zwei
kleinen
Inseln und dem Rahmen der Berge. … Überall,
wo kein Garten war, wucherte allsogleich wieder die Wildnis über den
nackten
Fels, Farren und Moose, Krüppelbirken, Brombeersträucher und
Preißelbeerkraut
und immer wieder Edelkastanien. Diese bildeten schließlich zur Rechten
wie zur
Linken, wo sie den See und jeden Ausblick verdeckten, einen Hain, ganze
Pfeilerbündel ihrer Stämme schossen zwischen den moosigen Blöcken des
Felsens
auf, und durch die gefiederten Laubmassen zog der Steig mit seinen
beiden
Mäuerchen eine tiefe, lauschige Gasse, die am Ende gegen ein
Muttergotteshäuschen lief. Vielmehr war dies nur ein steinerner Sockel
mit
einem Dach, unter dem das Relief einer schwarzen Madonna, in
leuchtendgelbem Kleide,
den Jesusknaben hielt“ (Hans Brandenburg: Das Zimmer der Jugend. Roman.
Stuttgart Heilbronn 1920, S. 307f.). Der Fußsteig
führte und führt geradewegs auf das Haus von Karl Gräser zu, das also
kein
Bergbesucher übersehen konnte, auch deshalb nicht, weil es den Anblick
eines
originellen Eigenbaus bot, durchweg handgemacht, von Zyklopenmäuerchen
eingerahmt. Auf einer flachen Schwelle unterhalb des eigentlichen
Gipfels
liegend, stellte es so etwas wie die Torwache zum Sanatorium dar. Jedem
aufmerksamen Beobachter musste klar sein: Aha, hier wohnt ein
„Naturmensch“.
Unterschied sich Karl in Kleidung, Gebaren und Behausung doch deutlich
von den
bürgerlichen Reformern auf dem Berg, den wohlbetuchten Kurgästen und
den
dienstbeflissenen Angestellten der Naturheilanstalt. In seinem
Falle konnte mit Recht die Rede sein von „Armut und Ungeborgenheit“ und
vom
„Kampf um Selbstbehauptung in einer Existenz voll Bedrängnis aller Art“
(L 494)
- und in diesem Sinne von „Askese“. So hatte schon Erich Mühsam ihn
beschrieben: „Auf ihn (Karl Gräser) sind die Faust-Verse anzuwenden: Nur
der erwirbt sich Freiheit und das Leben,
der täglich es erobern muss.“ (Ascona, S. 55) Wenn Weber sich tatsächlich die
Broschüre von Mühsam besorgt hat,
muss er auch diese Zeilen gelesen haben. Luftaufnahme
des Berges von 1929. Links von der Mitte des unteren Bildrands führt
der Weg
vom Ort Ascona kommend auf das erste Haus von Karl Gräser zu, dessen
Blechdach
als weißer Rhombus zwischen den Bäumen zu erkennen ist. Im rechten
unteren
Bildviertel schließt sich sein Garten an und das von ihm und seinem
Bruder um
1906 erbaute Zweithaus, das sogenannte „Demianhaus“. Darüber die
Gebäude und
der Park der Naturheilanstalt von Oedenkoven.
(Foto:
mit Dank an Wolfgang Wackernagel aus www.ymago.net)
Karl Gräser
glich vom Äußeren her einem Tolstoianer, in seinen Anschauungen nur bis
zu
einem gewissen Grad. Es gab aber auch bekennende Tolstoianer, wie den
ungarischen Ingenieur Wladimir
Straskraba
(1869-1934), der auf halber Höhe des
Berges das vegetarische Restaurant ‚Zur Heidelbeere’ betrieb, in das
auch Weber
gelegentlich eingekehrt sein dürfte. Straskraba gab eine eigene
Zeitschrift
heraus, in der selbstverständlich sein großes Vorbild gewürdigt wurde.
Ein anderer
Tolstoianer war der Deutschrusse Paul von Rechenberg-Linten
(geb. 1871), ein Bruder jenes anderen Rechenberg, der pro forma der
Ehemann von
Franziska von Reventlow geworden war. Dieser fromme Rechenberg, der für
seine
Überzeugung zwei Jahre in der Festung Neogeorgiowsk gelitten hatte, war
mit den
Gräsers befreundet. Als eine der Pflegetöchter von Gusto erkrankt war,
nahm er
sie für fast ein Jahr bei sich auf. Auch die Lebensweise des Schwaben Carlo Vester
hatte stark tolstoianische Züge. Und schon von
allem Anfang an, noch bevor der Monte Monescia gekauft wurde, hatten
die Brüder
Gräser mit dem slowakischen Arzt Albert Skarvan
(1869-1926) Freundschaft geschlossen, einem Freund und Mitarbeiter von
Tolstoi
und Übersetzer seiner Schriften. Skarvan war ebenfalls wegen
Kriegsdienstverweigerung in Festungshaft gekommen und hatte sein
Arztpatent
verloren. Eine Ansammlung, ja eine ganze Kolonie von
„Gesinnungsethikern“ hatte
sich auf dem Weinberg von Ascona
angesiedelt. Der ungarische
Ingenieur Wladimir Straskraba-Czaja, Inhaber
der vegetarischen Gaststätte ’Heidelbeere’, mit seiner Familie. Bei seinen
wochenlangen Aufenthalten am Ort kann Weber diese Menschen nicht
übersehen
haben. Er spricht aber nicht von ihnen sondern nur von Ernst Frick,
weil er mit
diesem als Beistand von Frieda Gross sozusagen beruflich zu tun hatte.
Frieda
gehörte in einem freundschaftlichen Sinn zur Weberschen Familie – und
mit ihr
auch Frick. Und obwohl dieser weit weniger als Andere in Ascona als
„Tolstoianer“ anzusprechen war, exemplifiziert er an ihm, den er
juristisch zu
begutachten hat, seine tolstoianisch-erotische Aporie. An Marianne
schreibt er: „Im übrigen
möchte er eben Güte und Nächstenliebe durch Akosmistik der Erotik zur Vollendung bringen. Ich
hatte
Dora schon gesagt, warum das nicht geht, und sie gibt zu, daß die
eigentliche
Konsequenz die Tolstoische Askese sei, zu der er ja auch immer wieder
hinneigt“
(in Lebensbild 497). Hier fassen
wir eine erste Formulierung der Konfliktfrage, die Weber zu dieser Zeit
und in
den folgenden Jahren aus persönlichen Gründen beschäftigt und die er
hier noch
negativ beantwortet. Eine Heiligung der Erotik, ihre Steigerung zu Güte
und
Nächstenliebe könne es nicht geben, meint er. Heiligung sei nur möglich
auf dem
Weg der Askese. Einige Jahre später wird er die Frage anders
beantworten. Aus seinen
Berichten über Frick wird aber spürbar, wie sehr
Weber von diesem „Gläubigen“ beeindruckt ist. Wie
Rüdiger Safranski
schreibt: „Der lebendige Glaube, der nicht von dieser Welt ist,
faszinierte Max
Weber so, wie man von einem Künstler oder Virtuosen fasziniert ist.
Solche
Menschen nennt er ‚Religionsvirtuosen’“ (Ein Meister aus Deutschland,
S. 115). Wie sollte Weber,
wenn schon der terroristisch angehauchte Anarchist Ernst Frick ihm
imponieren konnte, wie sollte er nicht
von den echten und radikalen Tolstoianern beeindruckt worden sein, wie
sie ihm
in Ascona vor Augen kamen? Und wieviel mehr von jenem Einzigen, der das
Kunststück vollbrachte, jenes Kunststück, das Weber 1914 noch für
unmöglich erklärte:
nämlich tolstoianische Radikalität und freie Erotik ineins zu bringen.
Den Eros
durch Ethos zu heiligen, das strenge Ethos durch Eros zu mildern. Gusto Gräser
musste Weber wie ein Antwort auf Otto Gross
erscheinen. Beide verkündeten die Freiheit und Freizügigkeit der Liebe,
beide
feierten – im Prinzip gleich – den orgiastischen Rausch. Gross
allerdings, ohne
religiöses Ethos, entfesselte den Eros zur Libertinage. In Gräser
dagegen war
das Ethos stark genug, den Eros zu bändigen, ohne ihm Fesseln
anzulegen.
Praktisch gesprochen: Wer sich auf der Straße mit Bekennergedichten
durchbringen will, wer gar eine große Familie auf diese Weise
durchbringen muss
– und dies im Kampf für seine religiös-philosophischen Einsichten,
gegen den
harten Widerstand der Welt! - , der wird
weder Zeit
noch Kraft noch Bedarf für erotische Exzesse haben. Nicht der Eros,
wohl aber
das Ethos steigert sich bei Gräser in Kampf
und Not zu
Augenblicken einer Ekstase, die auch den Eros reinigt und erhöht.
„REinigung“
ist das große Losungswort Gräsers. Und darin schwingt mit, dass Eros
mit Ethos
sich einigt und dadurch reinigt. „Heilflammende
Begeisterung ist Erdsternnotbemeisterung“, ist „REinigung“. So muss ein rrreinigender Brand loh durch die Völker brennen, bis von dem Ichwahn, knechtsneidstumpf, samt seinem öden Herrschgetrumpf, geläutert, wir - erkennen! Also uns warmbeherzten Haupts nimmer mit Wissgier spalten, denn, unsrem Hochzeitsgeist gesellt, weise vermählend alle Welt, als Gärtner in ihr walten. * Paarung ist Wahrung der Welt! |
||||||
|
||||||
Quellen:
|
||||||
Zurück |