Zurück | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Die Tänzerin Zarathustras Mary Wigman Wie ich diese Landschaft liebe, und wie vertraut sie mir ist! Unten breitet sich der im Licht schimmernde See, von den sich ihm sanft zuneigenden Bergketten wie in eine zärtliche Umarmung gebettet. Und dahinter öffnen sich die Gebirgstäler, wild und unberührt. - Als viele Jahre später Harald Kreutzberg dort zum ersten Mal tanzte, rief er aus: "Aber, Mary, das ist die Landschaft eines Tänzers!" Ich habe das von allem Anfang an gefühlt und das war der Grund, warum ich dieses Stück Erde so liebe. (Wigman in Sorell 34 und 28) Nicht wenige haben auf Monte Verità ihre zweite, ihre geistige Geburt erlebt. Aber niemand hat dies so unumwunden ausgesprochen wie Marie Wiegmann aus Hannover, die sich seit damals Mary Wigman nannte. In ihren letzten Jahren, als sie, fast schon blind, gebrechlich, auf Stöcke gestützt, immer wieder auf den Berg zurückkehrt, sagt sie auf der Terrasse des Hotels zu einem Freund: "Wie schwer war es doch, mich selbst zu finden, zu wissen, was ich wollte, ... ich selbst zu werden. Wann immer ich hier oben bin, muß ich diese Jahre wieder erleben, in denen ich wurde und wuchs. Es ist wunderbar, Grenzen zu überschreiten, ja, es war wunderbar." (Z. n. Sorell 11) Noch wenige Wochen vor ihrem Tod, am 28. August 1973, schreibt die Siebenundachtzigjährige hoffnungsvoll an ihren Biographen Walter Sorell: "Lieber Walter! Ganz schnell: Wir kommen am 2. September nach Zürich und fahren am 4. oder 5. September weiter nach Ascona. Dort: Hotel Monte Verità." (Z. n. Sorell 16) Einige Tage später stürzt sie und bricht sich den Arm, kommt ins Krankenhaus. Sie hat es nicht mehr lebend verlassen. Zuende der Tanz. "1913 bin ich zum ersten Mal zu dem schönen Hügel gepilgert, den man den Monte Verità nennt. Was es damit für eine Bewandtnis hatte, wußte ich nicht, wußte nur, daß ich dort dem Mann begegnen würde, von dem Emil Nolde mir gesagt hatte: 'Er bewegt sich wie Sie und tanzt wie Sie - ohne jede Musik.' Das war Rudolf Laban. Er wurde mein Lehrer." (Z. n. Sorell 34f.) "Aus der bürgerlichen Enge in die Weite der künstlerischen Freiheit - das Schöne gegen das Zweckmäßige", so beschreibt ihre Biographin den Absprung der Marie Wiegmann aus der Beschütztheit einer großbürgerlichen Familie in Hannover. Er führt die Dreiundzwanzigjährige zunächst nach Dresden-Hellerau, in die 'Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik' von Emile Jaques-Dalcroze. Dalcrozes rhythmische Gymnastik war eine Methode der Musikerziehung. Jedem musikalischen Notenwert wurde eine bestimmte Bewegung zugeordnet. Musik sollte sichtbar werden. Ein kompliziertes System war zu erlernen, in dem Viertel- oder Achtelnoten den Körperrhythmus dirigierten. Marie Wiegman folgte lieber ihrer Intuition. "Alles was mit der Musikalität und mit der musikalisch-rhythmischen Erziehung bei Jaques Dalcroze in seiner Methode zu tun hatte, interessierte mich auch einen Dreck! Was mich interessierte, war nur die Tatsache, daß einem gesagt wurde: Nun sagen Sie das einmal mit Ihrem Körper." (Z. n. Müller 30) Sie tanzt lieber zu Hause, in ihrem Zimmer, und weil sie kein Geld hat, Musiker zu bezahlen, macht sie es ohne - und tut so die ersten Schritte des musiklosen Tanzes. Sie hat in Dresden die jungen "Wilden" von damals kennengelernt, die Maler der "Brücke". Sie wünscht sich die Urwüchsigkeit, die die Expressionisten in ihren Bildern zeigen, tanzt sich in ihre Ekstasen. In ihr Häuschen "am grünen Zipfel" kommt der Maler Emil Nolde, der immer wieder Tänzerinnen gemalt hat. "Es gaben die Tänzerinnen Anregungen zu meinen Bildern, und diese wohl auch einiges den Tänzerinnen wieder", wird er später schreiben (z. n. Müller 31). Ein Druck seiner 'Tänzerin' von 1911, den er Mary Wigman schenkt, hat sie ein Leben lang begleitet. Sie will frei dem Bewegungsdrang ihres Körpers folgen und steht damit in Hellerau allein. Sie komponiert jetzt Tänze ohne Musik und führt sie auch Emil und Ada Nolde vor. Der Maler macht sie auf einen Mann namens Laban aufmerksam, der ähnliche Ideen vertritt. Hinzu kommt, daß Suzanne Perrottet, die Assistentin von Dalcroze, Hellerau ebenfalls den Rücken kehren will. "Und die sagt, sie verläßt Dalcroze und geht zu einem Mann, der tolle Sachen macht, der ganz ohne Musik, seine Schüler ganz ohne Musik tanzen läßt. Das tat ich selber." (Z. n. Müller 36) Im Sommer 1913 zieht Mary Wigman auf den Monte Verità. "Ja. Und ich fuhr also unten runter, in den Süden, dritter Klasse, Köfferchen als Kopfkissen, schmerzende Glieder nach der langen Fahrt, stieg in Locarno aus bei glühender Sommerhitze, mittags. Köfferchen in die rechte Hand und zu Fuß den staubigen Weg von Locarno nach Ascona. Mindestens 'ne Stunde zu Fuß. Dort angekommen: 'Wo ist der Monte Verità?' 'Da oben!' Allmächtiger! dacht' ich, jetzt sollst du da noch rauf! (...) Landete also schließlich da oben. Irgendwo eine verzauberte Gegend, bildschön! Verwahrlost, verwilderte Parks, kleine Häuschen da drin verstreut, wo scheinbar Sommergäste wohnen. Es war mir ja alles noch gar kein Begriff, hatte keine Ahnung, was mir da bevorstand." (Z. n. Müller 38f.) Sie sucht die Schule des Herrn von Laban. Der unterrichte gerade im Damenluftbad, wird ihr gesagt. Das Luftbad liege etwas unterhalb der Kuppe des waldigen Berghügels, auf der Nordseite. "Also ging ich den Weg da runter, kam also noch nicht mal ans Damenluftbad, da hörte ich von weitem schon eine Trommel. Dacht': 'Aha, eine Trommel. Das könnte Laban sein.' Folgte dem Ton der Trommel, kam auf eine Wiese, und am anderen Ende der Wiese stand also ein Mann mit kurzen Hosen und einem weißen Hemd, eine Trommel in der Hand, und ein paar Mädchen und ein kleiner Zwerg, die sich da bewegten. Ich war fasziniert, stand und starrte, und Laban guckte mal um die Ecke und sagte: 'Was woll'n Sie denn da?' 'Ich möchte mitmachen.' 'Na ja, da zieh'n Sie sich da hinterm Busch aus und kommen Sie her!' Tat ich. Und es war, als käme ich nach Hause! Ist mir unvergeßlich geblieben, dies wunderbare Gefühl, mit dem ich da stand und plötzlich unter der Diktatur eines Trommelrhythmus glücklich und selig war." (Z. n. Müller 39) So begann es. Was weiter folgte, ist bekannt. Marie Wiegmann wurde die Musterschülerin des Meisters, seine Assistentin, überflügelte ihn bald als Tänzerin. Als Mary Wigman begeisterte sie auf den Bühnen der Welt. Man weiß, daß sie sich auf Monte Verità viel mit Nietzsche beschäftigt hat, mit dessen 'Zarathustra', sicher auch im Gespräch mit Gusto Gräser. Wie sehr das nietzscheanische Element und zugleich die Lebensheiligung Gräsers ihr Denken und ihren Tanz bestimmt haben, geht aus einer Besprechung in der Zeitschrift 'Schönheit' hervor, eine unter so vielen enthusiastischen: Komm, Zarathustra! Trunkener Tänzer! Sieh, fühle und höre: Aber horch nicht nur mit den Zehen, die, wie du sagst, das Ohr der Tänzer sind. Horch, sieh und fühl mit deinem Blute! Denn starke Rhythmen heißen, roten Blutes werden uns hier entgegengetragen, entgegengeschleudert. Du, der, wie wir jetzt, das Leben zu meistern und im Tanz die Weisheit zu verstehen suchtest, - höre es hier: Leben wird hier gelebt, geliebt, in Gefühle geformt, in Formen erfühlt. Dem Leben wirft sich hier, wie einem ihm tragenden Meere, ein Vollmensch entgegen und reißt es erkennend an sich. Hüllt sich ein in dieses Leben wie in einen köstlichen Mantel. Königsfarben trug er eben noch. Abendliche Milde scheint er jetzt. Leben eward Form. Sahen wir nicht eben in Tempel, und streifte nicht jetzt wieder aus heißduftendem Wein ekstatisch ein Bacchanal dicht uns vorüber? Geist der Schwere! Wo bist du geblieben? (Tea Giradelli in 'Die Schönheit', Heft 10, 17. Jg., S, 445f.) Tempel und Bacchanal - das ist die Zweiheit, die weit ausschwingende Doppelheit der monteveritanischen Bewegung. Wem aber Obiges zuviel scheint an überschwänglicher Rhetorik, aus Erlebnisnähe befeuert, der halte sich an Bloch, der noch Jahrzehnte nach seiner zu vermutendenden ersten Begegnung mit der Wigman auf Monte Verità die folgende, ebenfalls Hell und Dunkel verbindende Bilanz zieht: So ist die Wigman-Welt, als freilich einzige und echteste aus der expressionistischenTanzzeit, noch in ihrer Nachtseite frei von Blut und eine Figurenbildung gewesen, die aus dem ihr zugefügten wie ihrem eigenen Dunkel phantasiereich ins Helle strebt. (Hoffnung 462). Wenn man den Blochschen Sätzen glauben darf, dann wäre im Tanz dieser Gräserfreundin die dunkle dionysische Dämonik doch noch ins Lichte gekommen.
Nüchterner und genauer, aus der Sicht des Choreographen, hat Laban selbst den Gang seiner Sonnen-Zeremonie beschrieben. Noch nüchterner berichtet ein Zeitungsaufsatz von Hugo Ball über den O.T.O. und seinen Kongreß. "In den einfachen, aber eleganten Landhäusern auf dem Monte Verità ... brachte der Kongreß des "Ordo Templi Orientalis' im August ... eine Reihe Veranstaltungen der Zürcher Kunstschule des Herrn von Laban, die dem kleinen Ascona alle Ehre machten" (Zeit 54). Er entflammt sich aber, wenn er auf Mary Wigman zu sprechen kommt. Sie habe die Tanzkunst "zu einer tiefen Verinnerlichung geführt. ... Sie beherrscht eine Skala der Leidenschaften von sich selbst verzehrender Glaubensglut bis zu den Delirien alttoledanischer Feste". (Zeit 55f.) An der Kunst und der Person Mary Wigmans scheint sich auch Ernst Bloch schon damals entzündet zu haben. Noch in seinem 'Prinzip Hoffnung', drei Jahrzehnte später geschrieben, muß er sie rühmen und verteidigen. Gegenüber allen kunstgewerblich-mythisch dekorierten, an Exotik orientierten Kopie-Tänzen bleibe "die Wigman oder echter Expressionismus im Tanzbild, mit dem Bisherigen, als irrationalem Spießertum, unvergleichbar .... Die Landschaft, die sich im Gongschlag um den neuen Tanz dehnt, schien hier mit einem bezeichnenden Ineinander von Niflheim und Bagdad gefüllt". Zwar sei auch die Wigmanschule einem Dionysischen im mehrdeutigen Sinn zugehörig gewesen, "wie es denn ohne Nietzsche nie zu dieser Art neuer Tanz gekommen wäre. Da ist der Dionysos, der nach unten hin zum Tanz der Mörder rief ... Da ist der andere Dionysos, der den Tanz gegen den Geist der Schwere pries, gegen die Mechanei der Verkleinerung und Denaturierung" (Hoffnung 461f.). Ohne das Pathos des Lebensgottes jedoch und seine wilde Weisheit, die auf Bergen geboren ist, wäre der expressionistische Tanz nicht in seine Ekstase geraten. Wenn man den Blochschen Sätzen glauben darf, dann wäre im Tanz dieser Gräserfreundin die dunkle dionysische Dämonik doch noch ins Lichte gekommen. So ist die Wigman-Welt, als freilich einzige und echteste aus der expressionistischen Tanzzeit, noch in ihrer Nachtseite frei von Blut und eine Figurenbildung gewesen, die aus dem ihr zugefügten wie ihrem eigenen Dunkel phantasiereich ins Helle strebt. (Hoffnung 462). |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Weiterführender Text in englisch | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
My teacher Laban (Mary Wigman) | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Die Anfänge des Modern Dance |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Mary Wigman: Die Seele des Tanzes.Videodokumentation, arte (Deutschland, USA, 2007, 51mn) | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Zurück | Zum Seitenanfang |