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Bildende
Künstler (1900-1920) Indem der Mensch wieder bescheiden seinen Platz bei allen Bruder- und Schwesterwesen einnimmt, indem er nicht mehr Herr, nicht mehr Krone der Schöpfung und Gottes Auserwählter sein und heissen will, überkommt ihn neu urheilige Freude. Wie er sich Ihr hingiebt, so giebt sich auch ihm: Natur. Gusto
Gräser
Ich
wollte
eine andere Ordnung, einen anderen Wert des
Menschen in der Natur finden. Er sollte nicht mehr das Maß
aller Dinge
sein und
auch nicht mehr alles auf sein Maß beziehen, sondern im
Gegenteil: Alle
Dinge
und der Mensch sollten wie die Natur sein, ohne Maß. Hans
Arp
1913
zog
ich mich für längere Zeit in eine anarchistische
Kolonie am Lago Maggiore zurück. Alles brachte mich nun zu der
Einsicht, dass
der Mensch als Ich der Mittelpunkt und der Kern alles
Geschehens ist:
ändere
ich mich zuerst selbst von Grund aus und kehre ich in mich
zurück, dann
ist
auch die Weltumänderung und die Erlösung da. Aber dazu gehört
der
Glaube; der
ist alles. Seit dieser Zeit bin ich glücklich und zufrieden,
trotz
aller Not,
die noch folgte. In jener Kolonie, in der sich's wie im
Paradies lebte,
fing
ich wieder zu zeichnen an. Georg
Schrimpf
Das Innere war das Wesentliche, und die Aufgabe des echten Anarchisten hiess: Sein Äusseres nach dem Gesetz des inneren Dranges zu formen, in grösster Freiheit. Oskar Maria Graf
Nichts
anderes lebt
als
aus innerstem Drang -
Feind alles Blühenden ist der Zwang! Gusto Gräser Man kann die Wirkung und Bedeutung, die Monte Verità - und insbesondere Gusto Gräser - für die Kunst gehabt hat, in wenigen Stichworten zusammenfassen. Inhaltlich: Natur, Selbst, Mystik, Kulturkritik, formal: Expression, Spontanismus, Primitivismus, Abstraktion. Natur war die Losung der Lebensreform, insbesondere aber von Gräsers Lehrmeister Diefenbach, der die Natur zur Göttin erhob und den Leib zum Tempel. Hinwendung zu Naturformen ist deshalb ein Kennzeichen der "asconesischen" Kunst, besonders sichtbar bei Hans Arp. Selbst ist die Leitvorstellung Gusto Gräsers: Selbstfindung, Selbstwerdung, Selbstsein. Ausgangspunkt ist der Individualismus Nietzsches und des Anarchismus, der damals die Künstler-Bohème allgemein bewegte. Bei Gräser jedoch geht das Ich, das in Expressionismus und Dadaismus sich oft schrankenlos auslebt, auf im umfassenden Ganzen: im All, in der Allvermählung, im Allselbst. Mystik, Esoterik, Spiritualität sind Kennzeichen des Monte Verità und der von dort beeinflussten Künstler. Hermetik, Theosophie, Taoismus, Sufismus, Tantrismus undsofort waren Hilfsmittel auf dem Weg zum "Geistigen" in Leben und Kunst. Jenseits gewohnter Bedeutungen sollte aus der Eigengesetzlichkeit des Menschen und der Dinge eine neue Weltdeutung entwickelt werden: aus der Spontaneität der Seele, aus den Eigenwerten der Farben und Formen, der Worte und Laute. Aus diesen Voraussetzungen ergab sich die Kulturkritik der Monteveritaner: Kritik der Technik, des Kapitalismus, des Rationalismus und der autoritären Institutionen. Ihr Widerstand richtete sich in einem Zweifrontenkampf sowohl gegen die Herrschaft veralteter Traditionen wie gegen die Übermacht der technokratischen Moderne. Positiv ausgedrückt: Sie traten ein für eine biophile, ökologische, spirituelle Moderne. Gräser hat auf sein bildnerisches Schaffen, das noch in hergebrachten Formen sich bewegte, früh verzichtet zugunsten des Worts und der symbolischen Aktion. Seine ungeschützte Lebensweise und die Notwendigkeit, sich dem einfachen Mann auf der Straße verständlich zu machen, hat ihn davor bewahrt, in unfruchtbare Experimente abzuirren. Dennoch zeigt seine sprachliche wie seine symbolische Lebenspraxis innovative Züge, die ihn mit der künstlerischen Moderne verbinden, ja möglicherweise anregend und beispielgebend auf diese gewirkt haben. Sein Weltrettungs- und Verbrüderungspathos verbindet ihn mit den Expressionisten, sein Spontanismus und seine Neigung zur Provokation mit den Dadaisten. Sein praktischer und symbolischer Primitivismus in Kleidung und Lebensstil nimmt den Primitivismuskult der zeitgenössischen Künstler vorweg, seine Sprachforschung und Wortschöpfung geht den Weg der Abstraktion. Viele
Gedichte
Gräsers beginnen mit der Anrede
"O Mensch!", seine ganze Sprechweise ist durchgehend
appellativ:
ermahnend, beschwörend, fordernd - wie die der
Expressionisten. O
Mensch, gieb dem Geheimnis
Raum
...
O Mensch, so trüb betrogen ... O Menschling du voll Wankelwut ... O Menschgesell, woran du krankst ... O Menschenkind, genug ein Mensch zu werden ... O Menschgesell, Herz blüht allein ... O Menschenbaum, in Schleim und Schlamm ... O Menschenkind, was Du auch bist ... O Menschenvolk, dein Notmund schreit ... Und so weiter und so fort. Wohl möglich, dass die O-Mensch-Manier der Expressionisten von Gräser mit angestoßen worden ist. Den menschheit-umarmenden Verbrüderungswillen hat keiner wie er gelebt. Primitivismus.
Marcel
Janco hat Masken und Gewänder geschaffen, die das
Ursprüngliche,
Wilde,
Unheimliche der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. Er und
andere
Künstler
seiner Generation haben einen festen Grund in der Kunst der
Naturvölker
gesucht: Negerplastik, Masken der Südseeinsulaner. Gräser
brauchte
keine Südsee
und kein Afrika, kein Museum und keinen Kunst-Rahmen, seine
Gewandung -
rübezahl-, tarzan-, schamanenhaft - brachte das Wilde,
Urhafte,
Ungeheure in
jedes Wohnzimmer, das er betrat, löste Erschrecken, Angst,
Schaudern,
aber auch
heimliche Lustgefühle aus. Der Ausruf "Rübezahl!" hallte immer
hinter
ihm her. Kein Chronist, der nicht auf sein schockierendes
Äußeres zu
sprechen
käme. Durch seine Naturmenschen-Tracht erzielte er die
stärkste,
unmittelbarste
Wirkung, eine Wirkung ohne Worte. Sie war Signal, Botschaft,
Symbol.
Rührte an
tiefste Erinnerungen. Zum
Tier - oh Mensch zu - Dir!
Mit Tiernatur ... allheim ins tiefgelassne UR! Halt Du's mit der Vernünftlerzunft - ich halt es mit der ewgen Früh ... und bad in Allerinnerung - hinter dem Wissgewissen - im Ur mein Leben wieder jung. Die Bildung, das Leben, des Lebenden Sinn - ich bin, wo ich innig im Bilden bin, bin Mensch wo, durchfallend durch Umheimkultur, ich urheimlich leb, ich wildadlig leb aus herzgottvollem UR! Sein Erinnern, und das heißt auch: woran er uns erinnern will - ist: Urerinnern, Allerinnern, ja, Allerinerungsrausch. Ist Rückführung zum Ursprung. Der Buchtitel seines Freundes Alfred Daniel - 'Ur oder Kultur?' - wiederholt nur Gräsers Grundentscheidungsfrage. Es ist zugleich, wenn auch unausgesprochen, die provokante Losung nicht weniger Künstler seiner Zeit. Zum Beispiel jener, die zum Dada-Lallen der Kinder zurückgehen oder zur ekstatischen Expressivität der Wilden, ihrer glühenden naiven Sinnlichkeit, ihrem primitiven aber tiefsinnigen Symbolismus. Spontanismus.
Dadaisten
und Surrealisten feiern die Spontaneität, proben das
"automatische",
das von selber sich vollziehende Schreiben und Malen. Gräser
lebt das
heilige Vonselber. "Ich wollte ja
nur das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus
wollte",
lässt
er Hermann Hesse, seinen Sprecher auf der Kunstebene, sagen.
Für Gräser liegt hier der Kern seiner Weltanschauung: Vonselber
lebt die Welt!
Juchhe - das heilge Vonselber! Das Mächtigste ist Es, das Allbewegte. ... Es - tut - von - Selbst. Vonselbst lebst Du - all-ein! Darum bescheidet in Einfalt der Weise sich - will nichts erzwingen, so zwingt ihn kein Zweck, innig lebendig, über allen Zwiespalt hinweg, lebt er in heiliger Dreifalt drein, im Wieder-Vonselbersein. Provokation. Gräser, zumal der jüngere, war nicht zimperlich, wenn es darum ging, die Menschen zu schockieren. Tut was, was die Leute entsetzt!, forderte er seine Freunde auf: Tut mir nur nit so vereist - Glut ist Geist! Ein Zeuge berichtet von einem seiner Auftritte im Münchner Künstlerlokal 'Simplizissimus'. Im
'Simplizissimus'
wurde er von mehreren Gästen, die ihn offenbar schon
kannten,
mit Hallo empfangen. Er stieg direkt auf das Vortragspodium,
sah sich
im Raum
um und sagte, er wolle eine kurze Ansprache halten. Zu seiner Tanzvorstellung, 1908 in München, lädt er auf Handzetteln mit den Worten ein: Komm! Trittit, trittit, tritt mit! Bumm! Trarah! Willkommen! Sattmatt ausgenommen! Und am Eingang des Wirtshauses in der Türkenstrasse stellt er einen umgestülpten Papierkorb auf mit einem Teller darauf und dem kurzen, kategorischen, unmissverständlichen Hinweis: Hier! Gräser, der Provo. Er will Sturm bringen, einen Brand entfachen, mit heiligen Sonndonnerwettern, mit Blitzen aus Urmutterwitz, den Allzugsetzten, hui, in ihren Sitz! O,
Ihr blutlosen Anstandspuppen! Hüllt Euch nur weiter
in Eure mit tausend hüpschen Phrasen verbrämten Mäntelchen -
Ihr "über
alle Äusserlichkeiten Erhabenen"! Macht nur weiter, Ihr
Macher!...
Geht, Ihr Memmen! ... Oder wollt Ihr hüpsch sittsam
beim Alten bleiben, beim guten alten, doch so christlichen
"Mietmenschentum"? ... Trottet also nicht mehr nach der
sittsamen
Lüge, öffentliche Meinung genannt, sonst verdient Ihr
Trottel, nicht
aber
Menschen zu heissen. - Heraus! gerade so wie Ihr geraten
seid, dann
werdet Ihr lebendige Menschengemeinschaft fördern und nicht
mehr
bloss den öden Haufen vermehren. ... Gar zu sehr bist Du an
das hold
berauschend, süss einschläfernde Gift Deiner schlechten,
Deiner
moralischen
"Freunde" gewöhnt, zu sehr sitzen Dir ihre toten Lehren im
Fleische
... Das Fieber wird Dich reinigen, wird verbrennen, was
fremd und kalt
in Dir,
und wie in einem Sonnwendfeuer der schwarze Strohpopanz,
wird der
moral-schwarze Herr in Dir in Feuer
aufgehn! (Ein
Freund ist da. Berlin 1912)
Christoph Hennig hat das grundlegende Selbstverständnis der Alternativ-kulturen seit 1900 als "romantischen Individualismus" bezeichnet. Diese Lebensform sei dadurch charakterisiert, "dass sie das 'Ich' ausschliesslich aus 'Eigenem' des Individuums bestimmen will" (Seele 10). Dies gilt für die damalige Bohème allgemein, aber für niemanden so ausdrücklich wie für Gusto Gräser, der "Eigensinn" und "Eigentlich"-sein in Wort und Tat zu seinem Leitziel gemacht hat. Gräser war zweifellos die Extrem- und Idealform des Bohème- und zugleich des Künstlertypus seiner Zeit, wie ihn Hennig und andere in ihren Analysen beschreiben. "Der Blick wendet sich nach innen. ... Das Ich sucht sich in seinen Gefühlen, Wünschen, Erregungen, Ängsten, in seinen Träumen, seiner Phantasie, seiner Kreativität, in seiner Seele und seinem Unbewussten. Irgendwo dort, im Unbestimmten der inneren Erfahrung, kommt die wahre Individualität zur Erscheinung." (Hennig 11) Dazu gehört die Ablehnung jedes Zwanges von außen, ja der Anpassung an das Außen überhaupt. "Der Einzelne soll sich nach seinen eigenen Gesetzen - gleichsam von innen heraus - entwickeln". Daher der Widerstand "gegen jede Autorität, Macht und Unterwerfung, gegen Tradition und Gewohnheit, gegen Staat und Gesetz, Familie und Ehe, Besitz und Kapital" - und logischerweise gegen die extreme Verdichtung all dieser Mächte in Militär und Krieg. (Hennig 26) Der Widerstand gegen das wilhelminische, das austriakische und das zaristische Regime war der Vereinigungspunkt der Monte Veritaner um Gräser und Gross. Er war zugleich Vereinigungspunkt der Künstler um Dada und Expressionismus. Ihr Ausdruck: politische Kritik, Sozialkritik, Kulturkritik. Die Monteveritaner suchten eine Alternative zur westlichen, autoritär und rationalistisch geprägten Kultur. Sie fanden sie in einer modernen Form von "Matriarchat". Was andere Künstler mit ihrem Rückgriff auf Ausdrucksformen der Naturvölker praktizierten, die Neufundierung im Anfänglichen, "Primitiven", das praktizierte Gräser in seiner Lebensweise: Rückkehr zum Ursprünglichen, gesehen als das Naturhafte, Weibliche, Mütterliche, kosmisch Umfangende. In Schlagworten: Matriarchat statt Patriarchat, Mütterlichkeit statt Vaterherrschaft, Bescheidenheiterkeit statt Willen zur Macht. In idealtypischer Darstellung also wäre die Kunst der Monteveritaner sozial- und kulturkritisch, biomorph-organisch und spirituell-symbolisch zu nennen. Bezeichnenderweise und im Unterschied zu anderen Künstlerkolonien kann von Landschaftsmalerei im herkömmlichen Sinne kaum die Rede sein. Erst recht nicht von einem Rückgriff auf folkloristische Motive. Wie in der Lebensweise so überschreitet "Ascona" auch in der Kunst die Denk- und Ausdrucksformen des 19. Jahrhunderts. Die Bewegung geht in Richtung "neuer Mensch", "neue Gesellschaft", "neue Religion". Die Siedlung Monte Verità war (ursprünglich) keine Künstlerkolonie. Es genügt aber auch nicht, dieses Unternehmen als eine Kolonie der Lebensreform zu bezeichnen. Eine solche Kennzeichnung trifft lediglich das Sanatorium von Oedenkoven. Die Gebrüder Gräser, und namentlich Gusto, gingen über den Rahmen der bürgerlichen Lebensreform weit hinaus. Sie trieben den Bruch mit der Altkultur bis zum Äußersten, versuchten einen radikalen Neubeginn. Gusto Gräser verweigerte jede Art von Unterwerfung unter die gesetzten Autoritäten, erst recht also den Kriegsdienst; sein Bruder Karl machte sein Anwesen zur Zuflucht für Verweigerer und Deserteure. Ihr Beispiel wirkte auf die Anarchisten aus München, Berlin und Zürich, die sich in Ascona trafen und mit den Gräsers zusammenarbeiteten. Militärflüchtlinge wurden ausgeschleust und bei Karl Gräser untergebracht. Infolgedessen war Ascona im Ersten Weltkrieg europaweit als "communauté pacifiste" bekannt. Es wurde zum Sammelpunkt der Kriegsgegner aller Länder. Unter diesem moralisch-politischen Vorzeichen, nicht unter einem ästhetischen, kamen, vermehrt ab 1914, auch die Künstler nach Ascona: Hans Arp, Hugo Ball, Sophie Taeuber, Hans Richter, Viktor Eggeling, Adya und Otto van Rees, Ivan Goll und Claire Studer, die Werefkin, Jawlensky und andere. Die Opposition von Gusto Gräser (und mehr oder weniger die der übrigen Monteveritaner) richtete sich nicht nur gegen den Militarismus, Nationalismus und Chauvinismus der damaligen Zeit, sie zielte auf Kulturrevolution. Sein Austritt aus dem Gewohnten in Kleidung, Ernährung und Lebensart allgemein sollte ein Signal sein, war ein Signal zum Abbruch und Umbau der kulturellen Fundamente. In seiner Lebenspraxis nahm Gräser vorweg, was zehn Jahre später in den Kunstformen von Expressionismus und Dadaismus in Erscheinung trat. Gräser ging weder in die Südsee noch nach Afrika oder Indien: er lebte Südsee, Afrika und Indien in der Großstadt: in Dresden, Zürich, München, Berlin. Sein Auftreten in Wort und Tat sprach ein einziges: Raus! Diese Kultur ist am Ende! Bauen wir eine neue! Damit nahm er auf seine Weise das Erneuerungspathos der Expressionisten und die Zerstörungswut der Dadaisten vorweg. Dass er, der in den Bohème- und Künstlerkreisen von München, Wien, Berlin und Zürich zuhause war, mit diesem Vorangehen (Ich geh voran, ich schlag die schwerste Bahn!) auf die Künstler seiner Zeit gewirkt hat, kann keine Frage sein. In seinem Umkreis, in Schwabing und Ascona, gediehen nicht zufällig die kulturkritischen Geschichtsdeutungen von Otto Gross und Ludwig Klages (auch die etwas andere von Oswald Spengler). Ihr Grundschema entspricht dem seinigen: Sündenfall der Menschheit durch den Einbruch von Technik und Patriarchat in die mütterlich geprägte Urkultur. Wiedergeburt der Menschheit durch die Wiedergewinnung von "Mütterlichkeit" und "Natur" auf einer höheren Stufe. Der antipatriarchale Mythos und die Idee eines neuen, spirituell und weiblich geprägten Zeitalters (New Age) hatte seinen europäischen Geburtsort in Ascona und Schwabing. Bei alledem ist nicht zu vergessen: Gräser war selbst bildender Künstler, der einzige unter den Siedlern. Er hat Malerei und Bildhauerei zwar früh aufgegeben, weil ihm die Kunst eine zu stumpfe Waffe war, aber eben nur, um durch Tat und Wort wirksamer für das von ihm Gemeinte zu kämpfen. Er brachte seinen Bruder Ernst, der ebenfalls Maler war (ein Schüler von Hölzel), auf den Berg, und hatte durch sein Herumziehen auch weiterhin Kontakt zu den Kreisen der Künstler. Seine Wirkung blieb im Verborgenen, war in Worte nicht zu fassen. Er wirkte durch sein Dasein, als ein Menetekel für die Mitlebenden. Wenn sein Zeichen überhaupt verstanden wurde, dann am ehesten von den Sensibelsten und Offensten unter den Zeitgenossen, von den Künstlern. Schon in München um 1904 begegnen wir ihm im Kreise der Künstler um 'Jugend' und 'Simplizissimus', damals trägt er sich in das Stammbuch einer Schwabinger Künstlergruppe ein. Die Freundschaft mit dem Silhouetten-schneider Ernst Moritz Engert hat sich über Jahrzehnte bis in die Nazizeit bewährt. Gräser war Gast in der Malerkolonie Grötzingen bei Karlsruhe, war befreundet mit Hans Thoma und den Gründern der Malerkolonie Runheim im Schwäbischen Wald. Er war freundschaftlich verbunden mit den Malern Georg Schrimpf und Max Schulze-Sölde und anderen. Sein bildnerischer Geschmack blieb lange konservativ, der Kunst der Jahrhundertwende verhaftet. Dagegen ging er in seiner Sprachforschung und Sprachbildung den Modernen verwandte Wege: im Rückgriff auf die Symbolik der Laute. Die bildkünstlerische Weiterführung des Anstoßes, den er durch seinen Kulturprotest gegeben hat, blieb anderen überlassen, jenen, die in den kulturellen Zentren über die Mittel verfügten, das von ihm lebenspraktisch Begonnene umzusetzen in Bilder und Zeichen. Dass rund um die Jahrhundertwende sich so viele Künstler aufs Land zurückzogen, hatte sicher mit dem Zeitgeist zu tun, einem Zeitgeist, den Gräser selbst in exemplarischer Weise verkörperte. Er und Ascona-Monte Verità waren extremer Ausdruck dieser Stimmung und Tendenz, zugleich Folge und verstärkende Ursache. Gräser und die Künstler um Monte Verità haben diesen Rückgang als einen Durchgang zu neuem Anfang verstanden: aus den Urformen und Eigengesetzlichkeiten von Farbe, Laut und Wort. Die Ausstrahlung, die von Gräser und Ascona ausging und noch immer ausgeht, besteht eben darin, die reinste Verkörperung einer kulturellen Tendenz zu sein, der Tendenz auf Ablösung und Erneuerung der gegebenen Tradition. Gräser ist Symbol, Monte Verità ist Symbol, ein Zeichen, das zuerst von den Künstlern gelesen wurde, in der Dichtung vor allem, aber auch in der bildenden Kunst. Die
Zuwanderung von Künstlern nach Ascona beginnt
mit einer Gruppe Wiener Maler, die noch von Diefenbach
beeinflusst
sind: Gustav
Schütt, Anton Faistauer und Christian Andersen. Es folgen der
vagabundiernde
Konditorgeselle Gerg Schrimpf, dann die akademischen
Maler
Carlo Mense, Richard Seewald und Heinrich
Maria Davringhausen. Aus einer christlich-anarchistischen
Kommune
Hollands kam
der Maler Otto van Rees mit Frau, und er scheint einen
Ankerpunkt
gebildet zu
haben, um den sich dann, namentlich in der Kriegszeit, andere
politisch
motivierte Künstler sammelten: Hans Arp, Sophie Täuber, Arthur
Segal.
Durch sie
und durch die Tanztruppe von Laban ergab sich die Verbindung
zu den
Zürcher
Dadaisten. Feierlicher Höhepunkt dieser Zusammenarbeit wurde
das berühmte
Sonnenfest
im August 1917, wo in den von Marcel Janco geschaffenen
Masken und
Kostümen die Tänzer um Laban vor der Höhle von Gräser ihren
orgiastischen
Mitternachtstanz vollführten – im Beisein von Arp, Ball und
anderen
Dada-Künstlern.
Carlo
Mense: Madonna mit Kind, Ascona 1914
Richard Seewald vor der Mühle von Ronco-Arcegno
Mense
und Davringhausen in Ascona, 1914
von
links hinten:
Arthur Segal,
Adya van Rees, Hans Arp,
Otto van Rees und Ludwig Rubiner in Zürich 1915
Bildende
Künstler in Ascona, 1900 - 1920
1900 Gustav Arthur Gräser begründet zusammen mit seinem Bruder Karl, den Schwestern Hofmann, Lotte Hattemer und Henri Oedenkoven die Reformsiedlung Monte Verità. Er arbeitet sehr geschickt in Eisen, Holz, Leder, Seilwerk etc., und hat (in seinem 18. bis 20. Jahre) interessante Bilder in Oel gemalt, die in der Composition einfach und gross gedacht sind. Da wirkt er mit grossen Massen, unter Vermeidung alles Kleinlichen und Konventionellen und aller Lückenbüsser. Er will Stimmungen und Ideen wiedergeben. Viel Allegorie. Die Landschaft bevölkert er mit nur wenigen Menschen oder Thieren im Mittelgrund. Das Meiste ist ernst, ruhig, abgewogen, wenig Bewegung, in einfachen Linien. (Grohmann 28) 1903 "Im Laufe des Sommers 1903 ... Maler Franzoni aus Locarno, dessen intuitives Empfinden unserer Lebensweise und unseren Anschauungen stets lauten Beifall spendet." (H-Oe 62) - "Filippo Franzoni (1857-1911) aus Locarno, der zwischen 1903 und 1906 engen Kontakt mit den Naturisten und Theosophen Asconas pflegte." (Kraft in Turicum 59) 1904 Der Bildhauer Max Kruse kommt mit seiner Geliebten Käthe Kruse auf den Monte Verità. Raphael Friedeberg, Erich Mühsam, Johannes Nohl. Frederik van Eeden besucht Karl Gräser. 1905 "Der Bildhauer Max Kruse plant auf einem benachbarten Hügel eine Künstlerkolonie." (N. und O. Birkner-Gossen in Szeemann 121) - "Nach kaum Jahresfrist wählt Kruse ein Grundstück auf Asconas Hügeln als Ausgangspunkt seiner Bestrebungen nach Gründung einer Künstlerkolonie" (Hofmann-Oe: MV 92). - Erich Mühsam, Otto Gross, Johannes Nohl, russische Revolutionäre. Leopold Wölfling wird als Gast von Karl Gräser Zeuge von Mondscheintänzen im Wald. 1906 Ernst Heinrich Gräser, Leonhard Frank, Sophie Benz in Ascona. Gemäldeausstellung von Ernst und Arthur Gräser in Locarno. 1907 Fidus auf dem Monte Verità "Eine auffällige Erscheinung unter den Mitarbeitern war der Jugendstil-Zeichner Fidus, der eigentlich Hugo Höppener hiess. Er kam in Begleitung eines Mediums, des sogenannten Kaffeemediums. Dieses sonderbare Wesen nahm nur Kaffee zu sich - zum Entsetzen der Vegetarier, denn sie hatten den Genuss von Kaffee streng verboten. Das Kaffeemedium diente Fidus als Modell für seine bekannten Lichtgestalten." (Landmann 1973, 45) Henri Oedenkoven an Fidus am 29. 12. 1908: Mein lieber Herr Fidus. ... Sehr gerne hätten wir hier das atelier bauen sehen; da es aber nicht sein konnte, freuen wir uns sehr, dass sie es doch erreichten. Wenn sie sich aber doch trennen können, zeitweilig, wird es meine frau und mich selbst freuen, sie hier zu haben. Fritz Brupbacher mit Lydia Petrowna auf Monte Verità. Ebenso Domela Nieuwenhuis. Hermann Hesse besucht Gusto Gräser. 1908 Emil Szittya besucht, von Paris kommend, erstmals den Monte Verità und die Anarchistenkolonie in der Mühle von Ronco. In Ascona gab es eine anarchistische, eine okkultistische und eine spiritistische Kolonie. Beklommen [diesen Namen gibt sich Szittya] ging in die anarchistische Kolonie. ... Langhaarige nackte Frauen und Männer spazierten durch den verwilderten Garten. Der Eine sagte: "Wir sind die Frühschicht der zukünftigen Menschheit!" ... Man machte ein grosses Feuer in dem Garten und nackte Frauen und Männer umtanzten das Feuer. (Emil Szittya: Ich bitte um ein Eintrittsbillet. Ms. in DLA Marbach) Carlo Mense erstmals in Ascona. Foto am Wasserfall. 1909 Der Maler und Bildhauer Carlo Holzer verläßt Ascona. (Literatur: Franz Josef Hamm, Engert und seine Künstlerfreunde; O. M. Graf, Mio Carletto...) Georg Schrimpf: Bis zu meinem 20. Lebensjahr durchzog ich besonders den Norden Deutschlands und kam so fast in alle größeren Städte, wo ich alle möglichen Arbeiten annahm. ... Immer nur mit mir selbst und meinen Erlebnissen, die nichts als Not waren, beschäftigt, kam ich ganz allein zur Erkenntnis, daß das Verhältnis von Mensch zu Mensch unnatürlich und falsch sei. Ich sah nur einen Ausweg: die revolutionäre Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung. 1909 kam ich nach München, wo ich in die anarchistische Bewegung geriet. Diese brachte mich oft nach Italien und in die Schweiz. (Schrimpf in Storch 18) "Aus dem befreienden Denken von Otto Gross heraus entstanden die ersten Bilder von Schrimpf - als er nach Ascona kam und dann aufbrach, Italien zu entdecken. Ascona war - gerade nach der Propagierung durch die Broschüre von Erich Mühsam 1905 - zu einem internationalen Zentrum des Anarchismus geworden. Ein Ort, um Kraft zu schöpfen, sich gegenseitig auszutauschen in den Erfahrungen, um wieder einzutauchen in das eigene Land und tätig zu sein. In Deutschland gegen einen Staat, der Schritt für Schritt auf den Krieg zuging. ... Zwischen München und Ascona bestand ein reger Austausch. Und von Ascona ging er zu Fuss bis Mailand, bereiste Genua und die ligurische Küste. Hier begann er zu malen. ... Und hilfreich war ihm das Werk von Franz Marc, die Wiedergewinnung der Malerei in der Begegnung mit dem Tier, durch eine "Animalisierung der Kunst". (Storch 8) " ... die frühe Faszination durch die mediterrane Landschaft, die ihn wiederholt nach Italien zieht: schon 1909, 1911, 1913 von Locarno oder Ascona aus, wo er zeitweilig in Anarchistenzirkeln oder Reformerkolonien lebte ..." (Wieland Schmied in Storch 10) "In Brione spülte eine zweite Reformerwelle über ihn; Sektierer, christliche Brüder, Vegetarier, Nacktkulturleute, Pfahlbauern, vorwiegend also Staatspassive diesmal. ... Hier erst setzte Schrimpf zu seinem künftigen Berufe an." (Franz Roh nach Schrimpf in Storch 26) 1910 Richard Seewald kommt nach Ascona Wir (Richard Seewald und seine Braut) taten uns zusammen, als man 1910 schrieb. Im Frühling des gleichen Jahres fuhren wir zusammen nach Ascona. Uli kannte es schon, da sie dort, mit Freunden von Procida heimkehrend, sich eine Weile aufgehalten hatte. ... Auf dem Monte Verità hausten damals die langhaarigen Lebensreformer ... Ich habe sie natürlich alle gekannt: die Ödenkoben, Gräser und Vester und wie sie alle hiessen. Aber ich habe einen grossen Bogen um sie gemacht, denn mir sind Idealisten ein Greuel. (Seewald 91f.) "Er (Seewald) hatte eine besonders enge Beziehung zur Region, kam 1910 schon mit gut zwanzig Jahren erstmals nach Ascona und fand in engem Kontakt zu den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit in der Harmonisierung extremer Möglichkeiten zu seinem gemässigt modernen Stil. 1924 kaufte er in Ronco ein Haus, konvertierte 1929 im Collegio Papio in Ascona zum Katholizismus und liess sich 1931 als frühes Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ganz in Ronco nieder." (Kraft in Turicum 63) 1911 Georg Schrimpf beginnt in Ascona zu zeichnen. Von 1911 an: Zeichnen, dann Malen, datierte Schrimpf 1931 in einem Brief an Thormaehlen. Die frühen Reisen nach Ascona lassen sich nicht ermitteln, Adamiak nennt als erstes Jahr 1909. (Storch 253) Otto Freundlich befreundet sich in Fleury mit dem niederländischen Künstlerpaar Adya und Otto van Rees, die nach seinen Entwürfen Wandteppiche ausführen. Er malt seine ersten, rein abstrakten Kompositionen. (Vgl. Leistner: Otto Freundlich 198) 1912 Otto und Adya van Rees verbringen den Sommer in Ascona. Der holländische Maler Van Dongen ... hat das Dorf Fleury entdeckt und wollte dort eine Künstler-Kolonie gründen. Es gelang ihm auch, einige Künstler dorthin zu bringen. Leute wie Cendrars, Rubiner, von Rees, Chagal, Otto Freundlich. ... Unter den ersten, die nach Fleury kamen, war der holländische Maler van Rees. Sein Vater war Universitätsprofessor in Amsterdam, ein christlicher Anarchist, der in eine holländische anarchistische Kolonie fast eine Million holländische Gulden hineinschusterte. ... Otto heiratete eine Frau, die auf einem Auge blind ist, eine merkwürdige Frau, die durch ihre Intelligenz die bedeutendsten Männer Amsterdams fesselte. ... Otto war kubistischer Maler , zerwarf sich der Frau wegen mit seinem Vater, der die Dame wegen ihrer Intelligenz zu unmoralisch fand. Sie hatten zwei Kinder, die später bei einem Eisenbahnunglück getötet wurden. Dies führte die van Rees zu einer orthodoxen katholischen Religiosität. (Szittya: K-Kabinett 105f.) Ich sehe bei van Rees: innere Harmonie der Farbe, religiös gedacht, Leitung der Formen und deren friedfreudiges Nebeneinander; leuchtende Weisheit. - Die mathematische Reinheit der Stickereien von Frau van Rees ruft die Seele in einen Springbrunnen der Unendlichkeit. (Tristan
Tzara
in Bolliger 259: Erste Dada-Ausstellung, Januar-Februar 1917. 1913 Rudolf von Laban zieht mit seiner Tanzschule auf den Monte Verità Dass in der Natur, im einfachen Leben auf dem Monte Verità, ein Ansatz für eine Lebensreform gesucht wurde, drang auch nach München und begeisterte Laban. Die Utopie einer neuen Bewegungskunst liess ihn auf dem Monte Verità mit neuen Ausdrucksformen experimentieren. ... Auf dem Monte Verità wurden Grundlagen zur Entwicklung des modernen Ausdruckstanzes geschaffen. ... Die Körper, aus denen der pythagoreische Kosmos sich zusammensetzt, beeindruckten Laban stark. Ikosaeder, Dodekaeder, Oktaeder und Tetraeder können körperliche Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten modellhaft darstellen. ... Kristallstrukturen waren für Laban eine Quelle der Inspiration. ... Die kristalline Struktur wird Laban zum Sinnbild, ja man kann sagen, zu einer kosmischen Vision, der er in zahlreichen Zeichnungen Ausdruck verleiht. In der Zeichnung 'Raum und Regel' zeigt sich die Vorstellung des von den Kanten ausstrahlenden Ikosaeders und die Wirkung, die von ihm auf den Menschen ausgeht. Ein Mensch hält den Kristall in seinen Händen und wird durchdrungen von Strahlen und Strömen formgebender Kraft. (Okkultismus und Avantgarde 613-615; Werkhinweis: Raum und Regel, um 1915; S.633 und 634. Literatur: Pia Witzmann in Okkult. 600ff.) Georg Schrimpf Ende Februar bis Mitte März 1913: Reise mit Oskar Maria Graf nach Ascona. (Storch 253) 1913 zog ich mich für längere Zeit in eine anarchistische Kolonie am Lago Maggiore zurück. Alles brachte mich nun zu der Einsicht, dass der Mensch als Ich der Mittelpunkt und der Kern alles Geschehens ist: ändere ich mich zuerst selbst von Grund aus und kehre ich in mich zurück, dann ist auch die Weltumänderung und die Erlösung da. Aber dazu gehört der Glaube; der ist alles. Seit dieser Zeit bin ich glücklich und zufrieden, trotz aller Not, die noch folgte. In jener Kolonie, in der sich's wie im Paradies lebte, fing ich wieder zu zeichnen an. (Schrimpf in Storch 18) Derjenige, der im Jahre Neunzehnhundertdreizehn nach einem Leben in Hotelkonditoreien, trostlosen Brotfabriken, nach vereinsamten Wanderungen als Handwerksbursche in Belgien, durch Deutschland und halb Italien erstmalig seine schüchternen Tuschezeichnungen - (Akte mit gekurvten Rundungen, herausblühend aus einem schäbigen Blatt Papier wie aufgetane Blume) - Freunden bescheiden zeigte, irr an sich selbst vor Not und Zerquältheit, steht heute als einer vor uns, dem wir wiederbekommene Hoffnung verdanken. ... Der Einfachste steht da: Georg Schrimpf, schlicht und innig wie sein fabelhaft entweltlichter Franziskus von Assisi. Der Frömmste und Durchdrungendste in seinen letzten drei Bildern... (O. M.Graf in Storch 21) 1914 Carlo Mense und Heinrich Maria Davringhausen in Ascona In froher Erwartung eines festlichen Beisammenseins war ich den Berg bis zum "Malerhaus" an der unteren Seestrasse [in Ascona] hinuntergelaufen. Dort hausten zwei junge deutsche Expressionisten, die sich unserem Kreis angeschlossen hatten. Mit einem von ihnen war ich besonders befreundet. ... Verschnürte Staffeleien ... "Was ist los?" .... "Krieg." (Mary Wigman in Sorell 41) Ich bin geboren in Rheine in Westfalen. Da ich in Köln a. Rh. aufwuchs und bis jetzt mein Elternhaus dort war, fühle ich mich als Kölner. ... Ascona im Tessin wurde dann meine südliche Heimat. (Carl Mense, 1920, in Storch 103) Ich bin in Aachen am 21. Oktober 1894 geboren. Am 13. Juli 1911 wurde ich zum Maler bestimmt. Wieso? Das geht Sie nichts an. Überhaupt gehe ich Sie nichts an: wo ich lerne, wie ich lerne, wie ich lebe! ... Der eine isst gerne Steckrüben - der andere Austern. (Heinrich Maria Davringhausen, 1920, in Storch 103) Arthur Segal von 1914 bis 1920 in Ascona At the outbreak of World War I, Segal went to Ascona in Switzerland, where he frequented the avant-garde Monte Verità colony. From this period date many cycles of woodcuts and linocuts on anti-war themes, and a religious mural at the entrance to Ascona's graveyard. His participation at the Dada exhibitions of the Cabaret Voltaire in Zurich and in Basle with the Neue Leben group were important for his development of 'equivalent' painting. This expressed a synthesis between the Orphic vision and certain ideas of the Hasidic Judaic tradition concerning the energetic unity of the universe and the 'cosmic symbolism' of any form of expression. In this concept the picture was not to be 'isolated' from the rest of the world. Therefore, from 1916 Segal began to extend the painting on to the frame: at the same time he eliminated the 'centralization' of the composition. (Amelia Pavel in The Dictionary of Art, N. Y. 1996, S. 352) Segal gehörte 1910 zu den Mitbegründern der "Neuen Secession" in Berlin und hatte Kontakte zum "Blauen Reiter". Als er sich, bedingt durch den Kriegsausbruch, 1914 in Ascona niederliess, entstanden neben expressionistischen Bildern ... auch Fresken für die Friedhofskapelle. Ab 1916, als sich seine künstlerischen Auffassungen vom Expressionismus entfernten, fand er auch Kontakt zu den Zürcher Dadaisten. Seine Werke wurden im "Cabaret Voltaire", in "Dada 3" und im "Zeltweg" aufgenommen. ... 1920 kehrte Segal nach Berlin zurück, wurde Mitglied der "Novembergruppe" und eröffnete eine eigene Malschule. ... ein Werkzyklus aus dem Jahr 1915 richtet sich "Gegen den Krieg". (Bolliger: Dada in Zürich 170) Friedländers Theoreme berühren sich ebenso mit Vorstellungen des rumänischen Malers Arthur Segal, der sich im Krieg in der Schweiz aufhielt und mit Züricher Anarchisten gemeinsam ausstellte. Segal strebte nach 'Gleichwertigkeit', sowohl im Gesellschaftlichen wie auch in der künstlerischen Darstellung (indem er Farben gegeneinander ausglich). Segal ging es dabei letztendlich darum, 'Autorität' zu vermeiden: 'Gleichwertige, an- und nebeneinandergeordnete Anschauung garantiert eine individuelle Entwicklung der Individualität. Stark und Schwach bestehen nicht' in seiner Konzeption der Gleichwertigkeit, wie er in einer Notiz in Der Zeltweg angab. (van den Berg: Avantgarde 354) Affinitäten mit dem Anarchismus ... bei Segal, indem er sich ausdrücklich gegen Autorität und Machtbildung, dagegen für Individualität und deren individuelle Entwicklung aussprach. (Ebd. 355) Literatur: Arthur Segal, The Life and Work 1875-1944, London 1955. - 1911/12/13: Ausstellungen von Segal in Bukarest zusammen mit Brancusi und Janco. (Ilk 8) Walter Segal wächst in Ascona auf Walter Segal ... British architect, son of Arthur Segal. He was brought up in the avant-garde community of Monte Verità at Ascona, Switzerland, where through his father's involvement with the Dadaist movement he met many celebrated painters and intellectuals. His early education was improvised within the commune, and Segal claimed that until the age of 13 he did not know what the real world was like. (The Dictionary of Art, N. Y. 1996) Eine faszinierende und ungewönliche Umgebung prägte Walter Segals frühe Jahre: Die Bewegungen des Monte Verità und des Schweizer Dada ... Zu Segals Kindheitserinnerungen gehörte das Leben am Lago Maggiore, in Ascona, zwischen dem Monte Verità, wo um 1900 eine utopische Kolonie entstanden war, und einem kleinen traditionellen Fischerdorf. Im Dorf war das Haus der Familie Segal ein Zentrum der Geselligkeit, ein Treffpunkt der verschiedensten interessanten Menschen, die der Monte Verità angezogen hatte. Zu den Freunden, die hier verkehrten, gehörten Lou-Lou Albert-Lazard [sic!] aus Paris, Hans Arp, der regelmässig aus Zürich herüberkam, ebenso wie später Tristram Tzara [sic] und Hans Richter. Hugo Ball und Emmy Hennings, die Gründer des Dada, und die Schriftsteller Leonhard Frank und Eli [Emil!] Ludwig. Zu den Freunden, die sich in Ascona angesiedelt hatten, gehörten Henri Oedenkoven (Mitbegründer des Monte Verità), Viking Eggeling (der ein Schüler Derains gewesen war und später die ersten abstrakten Filme drehte), Heinrich Goesch und sein Bruder Paul, "Tancred" in Tauts Glas-Ketten-Korrespondenz, der "sehr eigenartige" Johannes Nohl, sowie Otto und Adya van Rees aus Holland. 1917 [1918!] kam, mit seinen drei Frauen und seinem Sohn, der Maler Alexi Jawlensky, der für eine kurze Zeit mit Segals Mutter durchbrannte. ... Mit der größten Zuneigung sprach er [Walter Segal] von Hans Arp, der Klang-Gedichte produzierte, und sie zum Vergnügen der Segal-Kinder vortrug. "Meine Schwester und ich produzierten auch eines, das er versprach im Dada zu veröffentlichen", erinnert sich der Junge ... Seine Erziehung fand im Freien statt. Er baute mit Holz und Steinen und lernte, Pläne zu zeichnen. ... Oedenkovens Bauten auf dem Monte Verità prägten sich dem Jungen klar ein - Flachdächer mit weitem Überstand, Dachterrassen, grosse Schiebefenster und Schiebetüren, die Verwendung natürlicher, nicht behandelter Materialien. ... "Eine Kindheit in Ascona gab den Hintergrund, auf den ich mich in kommenden Jahren zurückbesinnen konnte." ... Als der Krieg zu Ende war, zerstreuten sich die Freunde der Eltern. ... Segals Vater schloss sich [in Berlin] der sog. Novembergruppe an ... Arthur Segals offenes Haus und der monatliche "Jour fixe" wurden als Avantgarde-Treffpunkte in der Stadt berühmt. "Da waren Gropius und Behne, Moholy und Kemeny, Mies, der niemals ein Wort sagte, und Hilberseimer, der umso mehr redete, und natürlich Maler, Bildhauer und Schriftsteller in Hülle und Fülle, einschliesslich Charaktere wie Kurt Schwitters und Raoul Hausmann. ... Alle ihre Erzählungen, besonders die Geschichten über Bauhaus-Übungen, Diät und Leben unter Johannes Itten, entlockten dem Jüngling den Kommentar: "Reinstes Ascona, germanische Version, todernst, ohne eine Spur von Humor." (John McKean: Learning from Segal 21-25) 1915 Emil Szittya und Hugo Kersten in Zürich und Ascona "Wir gründen eine Zeitschrift. Sie soll sehr jugendlich und von unerhörter Kühnheit sein. Sie ... heisst: 'Der Mistral'." Dies schreibt Hugo Kersten Ende 1913, ein gutes Jahr später kam es schliesslich durch ihn und Emil Szittya zur Herausgabe der geplanten Zeitschrift. Von Anfang an gehörten auch Walter Serner und Cohn Milo (Konrad Milo) zum "Mistral"-Kreis. Ab Nr. 3 übernahmen die beiden die Herausgabe des Blattes - ... nachdem Szittya und Kersten, "welchen es in Zürich zu heiss geworden", sich fluchtartig aus Zürich abgesetzt hatten [ - nach Ascona]. Anm.: Bevor Kersten Ende Oktober 1914 nach Zürich kam, hatte er sich dort (in Ascona) aufgehalten. (Bolliger: Dada Zürich 17 und 66) - "Am 22. März a. c. sei er dann bei Nacht und Nebel ... unbekannt wohin durchgebrannt." (ebd. 65) Emil Szittyas Kontakte zu Dada beschränkten sich jedoch nicht nur auf seine Rolle als Herausgeber des Mistral. ... Er zählte zu den Mitarbeitern des Cabarets Pantagruel, in dem pazifistische und avantgardistische Texte vermischt mit einem Unterhaltungsprogramm vorgetragen wurden, und das als ein Vorläufer des Cabarets Voltaire betrachtet werden kann. ... (Er) bezeichnete Dada als "un évènement historique": " ... Dada était le rire-crachat des poètes, des chansonniers, des peintres, des musiciens, contre la guerre. Le rire-crachat parcourait le monde à une vitesse vertigineuse, démolissant les frontières et les tranchées." (Dankl/Schrott: DADAutriche 27) Im März 1915, nachdem er das Militär verlassen hatte, ging Otto van Rees wieder nach Ascona, wo er Hans Arp kennengelernt habe. Im September 1915 kam van Rees nach Zürich. (Kneubühler in Szeemann 156) Im Mai erreichen sie (die Brüder Arp) die Schweiz, wo Arp der Mobilmachung entgeht, indem er den deutschen Konsulatsbehörden in Zürich weismacht, er sei geisteskrank. Er geht zunächst nach Ascona zu seinen Freunden Arthur Segal und den Holländern Adya und Otto van Rees. (Hancock: Arp 285) Around 1915 he (Viking Eggeling) moved to Switzerland, living first at Ascona ... In 1918 he moved to Zurich ... He did not share the nihilism of many of the Dada artists and events but was sympathetic to the movement's revolutionary fervour ... (The Dictionary of Art, N. Y. 1996) 1915 arbeitet Arp in enger Freundschaft mit den Theosophen Otto und Adya von Rees. Das Wesentliche seines damaligen künstlerischen Suchens in Zürich fasst er selbst zusammen: "Ich suchte nach neuen Konstellationen von Formen wie sie die Natur in unendlicher Fülle ständig bildet. Ich versuchte Formen wachsen zu lassen. Ich vertraute den Beispielen der Keime, Sterne, Wolken, Pflanzen, Tier, Menschen und schliesslich meinem innersten Wesen selbst... 1915 glückte mir das erste wesentliche Bild. ... " (Okkultismus 240) Im Spätsommer 1915 übersiedelte er (Arp) mit Otto van Rees - beide hatten im "Ersten Deutschen Herbstsalon ausgestellt - von dort (Ascona) aus nach Zürich. (Bolliger: Dada in Zürich 12) Richard Seewald mit Ernst Frick und Frieda Gross in der Mühle von Ronco 1915-1916. Die völlige Freistellung vom Militär erlaubte es mir (Richard Seewald), auch in diesen Jahren ins Ausland zu reisen. ... So reisten wir also ein zweitesmal nach Ascona und nahmen wieder bei Sophia (Poncini) Quartier; aber bald zogen wir in die "untere Mühle" hinauf. ... Wer uns in diese Mühle eingeladen hatte und zeitweise auch dort mit uns wohnte, das war Ernst Frick. Er lebte mit Friedl [der Frau von Otto Gross] zusammen. (Seewald 137f.) In dem kleinen halbverfallenen und nur noch von drei Familien bewohnten Dorfe Arcegno, aus dem wir Wein, Brot und Milch bezogen, hatten sich einige Wiener Maler einquartiert, deren Oberhaupt Anton Faistauer war, der später zu Ruhm gelangte; er schmückte das Festspielhaus in Salzburg mit Fresken. ... Im nächsten Jahre vertauschten wir die untere Mühle mit der oberen Mühle. (Seewald 143)
Im Mai (1915) war Schrimpf aus München nach Berlin gekommen. Die Zusammenarbeit (mit Franz Jung) begann. Sie gründeten einen Verlag, eine Zeitschrift und gaben einzelne Folgen als "Vorarbeit" heraus. Der Kreis bestand aus ihnen beiden, Otto Gross, Oskar Maria Graf, Max Herrmann-Neisse, Fritz und Richard Oehring, in ihrer Mitte Cläre Jung. Und unter den Fittichen von Franz Pfemfert, die Redaktion der "Aktion" lag ein paar Häuser weiter in der Nassauischen Strasse. Es war wie eine Auswertung und Überprüfung der Jahre in Schwabing mitten im Krieg. (Storch 9) 1916 Dadaisten zwischen Zürich und Ascona Januar: Postkarte von Gustav Gamper an Hermann Hesse in Bern. Es unterschreiben O. van Rees, A. Segal, Erna Segal, A. C. van Rees. (DLA Marbach) Die Familie van Rees zog im Mai 1916 nach Ascona, während Arp sich von dort bereits im März offiziell in Zürich angemeldet hatte. (Bolliger 121) - Erst ab dem 10. 3. 1916, aus Ascona kommend, läßt er (Arp) sich beim Einwohnermeldeamt Zürich registrieren. (Hancock: Arp 300) - Schon in Zürich liest Arp Laotse und ist mit dem Zen-Buddhismus vertraut. Er hält bestimmte seiner Werke für Mandalas. (Hancock 286) - Flake (hat) 1920 in "Nein und Ja" ... den Bildhauer und Dichter Hans Arp als einen Laotse und Jakob Böhme lesenden Einspänner bezeichnet. (Soergel II, 443) - "Uns schwebten Meditationstafeln, Mandalas, Wegweiser vor. Unsere Wegweiser sollten in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen. " (Arp in Bolliger 123) Frühjahr: Laban verlegt seine Schule des freien Tanzes von Ascona nach Zürich. Ihm folgen Mary Wigman, Suzanne Perrottet, Katja Wulff, Claire Walther. (Vgl. Bolliger 86) 5. 9. 16 Gusto Gräser kehrt nach Ascona zurück. Er arbeitet an einer Bildreihe Zeichen des Kommenden und an seiner Nachdichtung des Tao Te King von Laotse: Tao - das heilende Geheimnis. Freundschaft mit Hermann und Mia Hesse und mit Mary Wigman. Im folgenden Winter sammelt Hesse Spenden für die notleidende Familie und ermöglicht damit den Druck eines Flugblatts, das Gräser in den Zügen nach Deutschland verteilt. 1917 entsteht Demian, ein Roman über Gusto Gräser und den Monte Verità. 1918 schreibt Gräser in Zürich seine Tao-Dichtung zu Ende und schickt sie an Hesse. Dessen Antwort darauf, Zarathustras Wiederkehr, kündigt Gräsers Wiederkehr nach Deutschland an. Lou Albert-Lasard (1885-1969) Von 1916-1918 lebt sie in der Schweiz und erhält Anschluss an die Kreise um den Monte Verità. 1919 siedelt sie nach Berlin über. ... Mit Arthur Segal beginnt sie eine Atelier-Gemeinschaft. (Hamm 46) Frauen. Wie ein Magnet zieht Ascona die wenigen Frauen an, die damals in den Künsten eine Rolle spielten: Emmy Hennings und Claire Studer-Goll, Franziska zu Reventlow und Marianne von Werefkin, Else Lasker-Schüler und Sophie Taeuber, Julie Wolfthorn und Hetty Katzenstein, Frieda von Richthofen und Lou Albert-Lasard, Mary Wigman und Suzanne Perrottet, Katja Wulff und Käthe Kruse, Adya van Rees und Clotilde van Derp. Es sind seltsamerweise zumeist diejenigen Frauen, deren Namen sich über das Jahrhundert hin erhalten hat. Es war eine kleine Minderheit, die sich in München und Berlin in den einschlägigen Kaffeehäusern und Kneipen traf und hier polemisierte im Aufruhr und Abscheu gegen die Zeit. ... Die Berliner und Münchner Künstlerbohème [und die von Ascona!] war ... ein familiärer Kreis, der jede Form individueller Eigenart zuliess und förderte. Hier fand Emmy Hennings ein Milieu, das ihr die Entdeckung und Entfaltung ihrer künstlerischen Fähigkeit erst eigentlich ermöglichte. Gleiches galt beispielsweise auch für Marietta di Monaco ... Jene Schauspielerinnen, Diseusen und Künstlerinnen, die sich in den Cabarets, Cafés und Künstlerkneipen wie dem "Simplicissimus" trafen, waren nach Stefan Zweig die einzig emanzipierten Frauen jener Zeit, amphibische Wesen, die halb ausserhalb, halb innerhalb der Gesellschaft standen. Sie studierten Gesang, Tanz oder Malerei - wie Claire Goll, Franziska Stoecklin, u. a. - oder engagierten sich sozialpolitisch wie Claire Jung. Trotz grosser Begabungen blieben sie jedoch meist im Schatten der kreativen Männer ... Sophie Taeuber ist hierfür ein Beispiel. Als Tänzerin der Laban-Schule, als Textil- und Puppenkünstlerin sowie als Graphikerin zählte sie in der Zürcher Dada-Zeit zu den engeren Bekannten Emmy Hennings und Hugo Balls. ... Vom Lebensstil der Reventlow oder bürgerlicher Bohème-Frauen war eine wie Emmy Hennings jedoch weit entfernt. Und dennoch gehörte sie neben Else Lasker-Schüler und Claire Goll zu den ganz wenigen avantgardistischen Schriftstellerinnen, die sich bereits damals literarisch einen Namen gemacht haben. (Nicola Behrmann in Echte, Emmy Ball 257ff.) Ein kunstsinniger Zürcher Architekt finanzierte ihr (Sophie Taeuber) und ihrer Freundin Katja Wulff eine Ferienreise nach Morcote am Luganer See. ... Vom Morcote war es nicht weit zum "Monte Verità" ... Der "Monte Verità" war ihr eigentliches Ziel. Die Teilnahme an einem Kurs der "Individualistischen Cooperative vom Monte Verità" ... hier (trafen sie) die Dadaisten aus Zürich, vorab Hans Arp. ... Die Gäste ... wohnten im Sanatorium oder wie Sophie in einer (der) auf dem Hügel zwischen den Bäumen und Hecken verstreut liegenden primitiven Licht- und Lufthütten. ... Nun, 1916, als Sophie hierher kam, wollte man den Geist und den Körper miteinander in Einklang bringen. Sie diskutierten viel. Über Nietzsche, Goethe, Konfuzius und die Sufi-Lehren der Derwische. Sie arbeiteten regelmässig gemeinsam im Garten, lebten vegetarisch, assen das, was sie ernteten ... Sie tanzten barfuss auf dem Rasen, bewegten sich zwischen den Bäumen, um im direkten Kontakt mit der Natur zu sein. ... Frei sollten sie werden, befreit von rationalen Hemmungen und Spannungen. ... Die Rückkehr zum Elementaren, das war ein Ziel, auch für Sophie Taeuber. (Mair 60-63) Der Weg zu einer elementaren, ja kontemplativen Kunst, die keine Dogmen kannte und das Prinzip der Vereinfachung in vieldeutigen, zugleich transparenten Kompositionen erprobte, war aus der dadaistischen Selbstkritik der Kunst hervorgegangen. (Korte: Dadaisten 135) Schon in Zürich liest Arp Laotse und ist mit dem Zen-Buddhismus vertraut. Er hält bestimmte seiner Werke für Mandalas. (Hancock 286) - Flake (hat) 1920 in "Nein und Ja" ... den Bildhauer und Dichter Hans Arp als einen Laotse und Jakob Böhme lesenden Einspänner bezeichnet. (Soergel II, 443)
1917 Hans Arp und SophieTaeuber verbringen Frühling und Sommer auf dem Monte Verità Ball notiert in seinem Tagebuch am 1.April 1917: "Janco ist von Ascona zurück." Und am 8. April: "Arp und Sophie Taeuber nach Ascona". (Ball: Flucht 146 und 148) Gemeinsam fuhren sie (Hans Arp und Sophie Taeuber) im April nach Ascona, den Sommer verbrachten sie einmal mehr am "Monte Verità". ... Schier unerträglich schien dann die Hitze, der immer - auch in diesem Jahr - der große Regen folgte. Ununterbrochen mehrere Tage lang, so dass die Nässe bis in das Innere der Lufthütten eindrang, die nur für Schönwetter gebaut waren. Sophie versuchte mit Linoleum die Hütte abzudichten und mit Pappe einen kleinen Ofen zu heizen. Später bekamen sie ein wenig Petroleum für eine Lampe. Sie lebte bescheiden wie die anderen, ernährte sich nach wie vor vegetarisch, ass Tomaten, Butter und Eier, Produkte der hiesigen Gemeinschaft. Von ihrer Hütte aus führte ein kleiner zugewachsener Weg in den Garten vom "Monte Verità". Da "krieche ich jeden Morgen im Tanzkleide zu den Stunden", schrieb Sophie an ihre Freundin Lisa von Ruckteschell. ... Selbst hier am "Monte Verità" arbeitete sie emsig. Am 1. August 1917 schrieb sie an ihre Freundin: "Die Perltasche ist zur Zeit fertig geworden unter grossem Stöhnen bei der Hitze ... ". (Mair 72f.) Arp reiste während seiner ganzen Schweizer Zeit zwischen Zürich und dem Tessin hin und her. Sophie Taeuber fand in Ascona Laban und seine Tänzerinnen wieder, Arp seine Freunde Arthur Segal, Viking Eggeling, Alexej von Jawlensky sowie Otto und Adya van Reees. Er schätzte das milde Klima im Tessin, wo die Lebensbedingungen während des Krieges besser waren als in Zürich. In seinem Buch Into the Twenties erzählt Walter Segal, Arthur Segals Sohn, daß Arp ein kleines Stückchen Land erworben hatte, um Gemüse anzubauen. Sophie und er waren vorübergehend Vegetarier und sympathisierten mit der utopischen Gemeinde des Monte Verità. (Hancock: Arp 286) Im August 1917 fand auf dem Monte Verità ein tagelanges Fest statt ... im Kreise saß Hans Arp und nickte Beifall. ... Während dieses Festes stellten die Maler von Ascona zum erstenmal gemeinsam aus, wobei Hans Arp und Marianne Werefkin die Fixsterne der modernen Kunst waren. (Flach 17-19) Im selben Jahr 1917 wandte ich mich vom Problem der Symmetrie bei Holzschnitten und Stickereien ab. Kurze Zeit später fand ich die entscheidenden Formen. In Ascona malte ich mit chinesischer Tusche zerbrochene Zweige, Wurzeln, Gräser und Steine, die der See ans Ufer geworfen hatte. Schließlich vereinfachte ich diese Formen und vereinte ihr Wesentliches in fließenden Ovalen ... Es war der Anfang einer langen Reihe ... (Arp in Hancock 73) Ein kurzer Asconeser Aufenthalt von Arp und Sophie Taeuber im April 1917 könnte den entscheidenden Wandel ausgelöst haben. ... Demnach wären die organischen Formen erst während eines längeren Aufenthalts auf dem Monte Verità in Arps Schaffen manifest geworden. ... Naturformen, auch das Wechselspiel von Wachsen und Sterben wie im Relief "Pflanzenhammer" oder der "Grablegung" hat Arp als Symbole des Lebendigen seit seinen "Entdeckungen" in Ascona bis an sein Lebensende in unzähligen Variationen abgewandelt. Seine berühmte Definition aus den "Notes from a Dada Diary" (1932): "Kunst ist eine Frucht, welche im Menschen wächst wie die Frucht aus der Pflanze", oder seine Hans Richter gegebene Antwort: "Was willst du? Es wächst mir wie die Fussnägel. Ich muss es abschneiden, und es wächst mir dann immer wieder nach", verweisen auf sein vegetabilisches Lebensgefühl als Quelle seines Schaffens und als gemeinsamer Nährboden seiner gesamten Bildwelt. "Ich liebe die Natur, aber nicht ihren Einsatz", diese Maxime hat Arp weit vom Naturvorbild in die Abstraktion versetzt, um dort die Bildsymbole ihrer inneren Wesenskräfte zu gestalten. (Bolliger 122) dada ist für die natur und gegen die kunst. dada will wie die natur jedem ding seinen wesentlichen platz geben. (Arp in Hancock 73) Mit Gegenstand, Stil und Schaffensmethoden dieser abstrakten biomorphen Werke ehrte Arp die Welt der Natur, die er als zuinnerst gut und ethisch ansah, im Gegensatz zum zerstörerischen, bösen Verhalten der Menschen. (Hancock 74)
Hermann Hesse in Locarno und Ascona. Unter der Anleitung von Gustav Gamper beginnt er zu malen. Landschaftsbilder aus der Gegend um Arcegno und Losone. Heinrich und Paul Goesch in Ronco.
1917: ... Sie standen schon im Schatten der russischen Revolution. Und im Gegenzug zu Petrograd kam, was die Kunst betraf, Zürich nach Berlin. In die Redaktion der "Freien Strasse" kamen Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck, Johannes Baader. Und George Grosz. Die "Freie Strasse" mutierte zum "Club Dada". ... Schrimpf aber war mit seiner Frau geflohen vor dem Militär. Überstürzt, panikartig - schlecht vorbereitet und erfolglos. Er kam nicht über die holländische Grenze. Und so zogen sie im September 1917 nach München. (Storch 9)
1918 Arp, Eggeling, Jawlensky, Richter, Segal,Taeuber, Werefkin, Wigman... Ascona am Lago Maggiore erschien uns wirklich wie ein Ort auf einem anderen Stern. ... Wir waren im Paradies, ohne es zu wissen. Im Frühjahr 1918 waren wir ins Tessin gezogen. ... Ascona war dagegen (gegen Zürich) wie ein Kloster ... Eine Künstlerkolonie hatte sich dort schon gebildet: Eggeling, Segal, Emil Ludwig, Jawlensky mit seiner Marianne von Werefkin. Arp hatte eine Villa. Hugo Ball hatte sich mit Emmy Hennings ebenfalls dorthin zurückgezogen, und Richter tat es für vier Monate im Jahr. Wir waren also nicht vom intellektuellen Leben abgeschnitten. (Claire Goll: Ich verzeihe keinem 65) War es die Nähe der Berge um Ascona, welche die Seele zu Gott erhob? War es die chaotische Zeit, die manche trieb, in der Religiosität Zuflucht zu suchen? Jawlensky wie Hugo Ball und später Pierre-Jean Jouve spannen sich in Mystizismus, Frömmigkeit und Gebet ein. (Goll: ebd. 70f.) Was mich an Arp, Richter, Hugo Ball und Janco frappierte, war ihr bohrendes Suchen ... Arp und Richter suchten eine neue Gesellschaftsordnung, die durchsichtig und luftig-leicht sein sollte, ganz im Gegensatz zu dem Krieg, der in unseren Gedanken bedrückend allgegenwärtig war. Arp nannte sich primitiv, nicht um wieder bei den wirren Mächten der Menschheitsanfänge anzuknüpfen, sondern um das Spielerische in der Kunst wiederzufinden, einen klaren Bach aus frischer Quelle daraus zu machen. Die Rückkehr zum Elementaren war für ihn zugleich Ablehnung alles Verkrampften. Er strebte nach einer natürlich atmenden Kunst, ohne Phantasie, ohne Gewolltes. "Braucht ein Baum Phantasie, um seine Krone zu entfalten?" fragte er. - "Wir wissen viel zuviel" sagte er immer wieder. (Goll: ebd. 50f. und 60) April 1918: Gründung der Gruppe 'Neues Leben' durch die mit Ascona verbundenen Künstler Hans Arp, Viking Eggeling, Hans Richter, Sophie Taeuber u. a. 'Kunst ins Handwerk' und 'Handwerk in die Kunst' lauten die Parolen. ... So verkündet Otto Flake ... : "Die neue Bewegung will die Kunst wieder mit dem Leben verknüpfen und sie in allen ihren Formen dem einen Gedanken der Lebensbereicherung unterstellen, wie etwa die Kunst des Mittelalters durch die kirchlich-religiöse Idee geleitet und geeint worden war." (van den Berg 383)
1918 Marianne von Werefkin und Alexey von Jawlensky ziehen nach Ascona Wie ein Hinweis in Balls Tagebüchern vermuten lässt, waren sie schon 1917 einige Zeit im Tessin. (Kneubühler in SZ 156f.) Alexej von Jawlensky Wir siedelten alle anfangs April 1918 nach Ascona über. Die folgenden drei Jahre in Ascona waren die interessantesten meines Lebens, da die Natur dort so stark und geheimnisvoll ist und einen zwingt, mit ihr zusammenzuleben ... Wir hatten eine sehr schöne Wohnung mit einem Garten direkt am See. Es war das letzte Haus von Ascona. Gleich daneben fing die Campagna an, und diese Campagna war bezaubernd schön wie ein Traum. Ich bin sehr oft allein in sonnigen Tagen dahin gegangen. Und was ich dort gesehen und erlebt habe, ist kaum möglich zu sagen. ... Ja, ich habe in Ascona sehr viele starke Erlebnisse gehabt, wenn ich abends mit einer Laterne in die Berge ging, um meine Freunde zu besuchen. Man musste immer an der Madonna Nero vorbeigehen, besonders im Winter, wenn nur ein ganz kleiner Streifen Licht aus meiner Laterne auf die Erde fiel. ... Es war dunkel, es war still, es war unheimlich. ... Ganz in der Nähe davon wohnte der Maler Arthur Segal mit seiner Familie, mit welchem ich sehr befreundet war. ... Während meiner Zeit in Ascona habe ich sehr, sehr viel gearbeitet. Viele Variationen sind dort entstanden. Und dann fing ich meine Heilandsgesichter und abstrakten Köpfe an zu malen. Für mich waren es Heiligenköpfe. Wenn ich mich jetzt - 1937 - an diese Zeit erinnere, wo ich krank bin und über siebzig Jahre alt, so weint meine Seele vor Trauer und Sehnsucht. (Jawlensky in Belgin: A. v. J., Reisen Freunde Wandlungen) Die Empfindsamsten unserer Generation wollten den modernen Städter abschaffen, der wie ein Roboter gesellschaftlichen Riten unterworfen ist, um statt seiner das echte, spontane, primitive Wesen neu erstehen zu lassen. ... Für andere wurde Gott selbst die Synthese von abstrakter Kunst und Expressionismus: Jawlensky, unser Nachbar in Ascona, reduzierte die Menschengestalt auf ein Kreuz und malte unablässig dasselbe Gesicht eines symbolisch Gekreuzigten. (Claire Goll: Ich verzeihe keinem 69f.)
Hatte schon die Arbeit an der endlosen Reihe der "Variationen" an ostasiatische Meditationsübungen erinnert, sollten nun mystische Erfahrungen in den Werken selbst ihren unmittelbaren Ausdruck finden. ... Vor allem in Ascona, wohin Jawlensky 1918 umzog, bestand zusätzlich Gelegenheit, sich mit anderen Religionen und Weltanschauungen zu beschäftigen. Im Umkreis des Monte Verità hatten sich eine Vielzahl zivilisationskritischer, zum Teil auch sektiererischer Gruppierungen angesiedelt, die die verschiedensten alten und neuen Heilslehren vertraten. Mit Lotte Bara und Bernhard Mayer etwa war Jawlensky mit zwei Persönlichkeiten befreundet, die über enge Kontakte zu diesen "alternativen" Kreisen verfügten. (Eichhorn in: A.v. J. Gemälde Aquarelle Zeichnungen 30)
Während der letzten Kriegsjahre verkehrten wir viel mit Schriftstellern und Künstlern. Ich erwähnte schon Leonhard Frank, Ludwig Rubiner mit ihren Frauen, Albert Ehrenstein u. a.; auch der Maler Jawlensky, Marianne Werefkin und Arthur Segal. Diese Künstler lebten in Ascona, wo wir viele amüsante Abende mit ihnen verbrachten. Ascona war damals noch nicht 'entdeckt' und alles war sehr primitiv. Abends ging jeder mit einer Laterne auf die Collina, den Hügel oberhalb des Dorfes, wo wir ein Haus gemietet hatten und wo Familie Segal wohnte. (Bernhard Mayer 83) - Jawlensky war ein echter Russe, sprach viel von Tolstoi, war aber ein grosser Frauenjäger. ... Er malte in der Asconeser Zeit nur zwei Typen: Köpfe oder sogenannte 'Variationen'. (Ebd. 100)
Der erste dieser Köpfe mit dem Titel "Urform" entstand zu Ostern 1918 in Ascona. ... Bereits mit dem "Abstrakten Kopf: Urform" aus dem Jahre 1918 hatte Jawlensky somit endgültig ... "sein eigenes erfüllendes Thema (gefunden), das er bis zu seinem Tode unermüdlich wie die Perlen eines Rosenkranzes, mehr betend als malend, durch seine Hände gleiten lässt: das menschliche Antlitz, auf dem der ferne Abdruck eines Göttlichen zeichenhaft erkennbar ist." (Eichhorn in 1994, 30f.) Verkade und Jawlensky sind Beispiele solcher Künstler, die sich für Mystik interessieren, ohne mit dem Katholizismus zu brechen. ...Weiler weist schliesslich darauf hin, dass ein Yogi Jawlensky in seinem Atelier in Ascona aufsucht, und zwar in der Zeit vor den Heilandsgesichten. ... (Jawlensky) wollte das Grösste. Er wollte Heiligkeit ausdrücken: "... Kunst ist Sehnsucht zu Gott." (Itzhak Goldberg in: A. v. J., Reisen 67f.)
War es der Geist, der noch immer vom Monte Verità herabwehte, mit dem die Frau (Marianne von Werefkin) sich auseinandersetzen wollte...? Da waren vor und nach der Jahrhundertwende die Sucher des Dritten Weges nach Ascona gekommen. Berg der Wahrheit, so hatten sie ihn getauft. Sie brachten ein ungeheures Potential an Utopien mit und erprobten und durchlebten und durchlitten ihre neuen Lebensentwürfe. In Kapitalismus und Kommunismus sahen sie nicht ihre Zukunft. Die Lebensreformer ... Die Zukunft sahen sie nicht in der 'Entwicklung der Produktivkräfte' und nicht in der Vervollkommnung der Technik. Auch der Kommunismus erstrebte sie im Wettkampf mit dem Kapitalismus. Das Glück lag nicht in dem gerecht erscheinenden Gedanken, dass alle Menschen in den Genuss des äusserlichen Reichtums gelangen müssten. Wer diesen Weg einschlug, dessen Seele starb. Sie verkümmerte unwiederbringlich. Das hatte wenig mit Religion und Kirche zu tun. Dem Menschen war der Weg verstellt, zu der ihm innewohnenden höheren Natur zu gelangen, weil er in der Selbstherrlichkeit seines Verstandes die andere Hälfte seines Menschseins totsagte. Diese Gedanken trug die Frau bereits in sich, als sie nach Ascona gekommen war. Das hatte sie schon in Russland begriffen, das hatte bereits Tolstoi verkündet. Darin lag auch ihre Affinität zu Franz von Assisi. Diesen Gedanken versuchte sie schon seit langem über ihre Bilder ins Bewusstsein zu rücken. (Barbara Krause 128f.) Lew Nikolajewitsch Tolstoi - ein Prediger des Evangeliums und der Liebe. In ihrer Jugend war er eine moralische Macht. ... Überall war die Frau auf ihn und seine Verehrer gestossen. Vor allem in Ascona. Auf dem Monte Verità. Dort trug man die langen Blusen, im Gedenken an Tolstoi, mit einem Gürtel um die Taille geschnürt, das Haar lang, der Bart reichte bis auf die Brust. Dort oben schnitzte man sich seine Holzlöffel selber und nähte sich Dattelkerne als Knöpfe an... Als Tolstoi starb, wurde er auf dem Monte als 'Lehrer der gesamten Menschheit, als Patriarch und Prophet' verehrt. (Ebd. 19) Die Bilder [der Werefkin], vor allem aus der Zeit in Ascona, sind entweder Idylle - die Tessiner Landschaft als behaglicher, traumversponnener Bereich des Friedens - oder Hexenkessel. ... Die Berge als schwankende Bäume, die Wiesen als unruhiges Wasser, die Wege als Risse und Spalten zwischen bewegten Körpern, der Himmel als Feuerlohe, die Bäume als sich verneigende Menschen. ... Die hohen Berge um das Loch des Lago Maggiore werden zu Tentakeln, die im Himmel etwas Unsichtbares festhalten wollen, das ihnen immer wieder entgleitet. Die Wiesen werden zu brodelnden Lavaströmen, die alles mitreissen. ... also etwas "Überdrehtes" in beängstigender Intensität. ... Aus der topographischen Eigenheit des Loches des oberen Lago Maggiore mit den schroffen, manchmal fast schwarzen Felswänden, die in den See stürzen, wird eine auseinandergerissene Situation von unerreichbar ferner Höhe und ebenso dunkler Tiefe. Das ist der Hexenkessel, in dessen Innern es brodelt und tobt. Aus der sanften Traumversponnenheit wird ein giftiger Alptraum mit einer stechend violett-gelben Verrücktheit. ... Die starke Zerrissenheit, wie sie in den Bildern der Werefkin erscheint, ist, wohl gerade bei ihr, die schrieb: "Kunst ist Beobachtung und Bewusstsein", von ihrer Person nicht trennbar. Eine Zerrissenheit, die die Ursache in ihrer Biographie hatte und damit in den geschichtlichen Ereignissen. Die Unpolitische, die nicht mehr in ihre Heimat, Russland, zurück kann, die als Aristokratin mit ansehen musste, wie die Monarchien abdanken mussten. Sie rettete sich in den Traum, wie sie immer wieder betonte, und fand das Medium dafür, und das bedeutet auch eine neue soziale Integration, in der Kunst. (Kneubühler in Szeemann 157)
Vor ein paar Jahren hat sie ein gutes Bild gemalt. "Nachtschicht". Wer es denn versteht oder verstehen will, dem enthüllt sich ihre Sicht auf eine Grundfrage dieser Zeit. Was bedeutet der Gesellschaft das Individuum? ... In ihrem ureigensten Zugang zur Kunst hat sie das Orakel für die Fabrikarbeiter gemalt, die bei Nacht zur Arbeit gehen: "Tote Seelen". Fabrikhallen, die jegliche Sicht auf Berge, Bäume, See, auf Lebensraum versperren. Hochgeschossiges, kahles Mauerwerk. Was rund wie der Mond dünkt, erweist sich als Laterne. Mit eingezogenen Köpfen und gelähmten Schritten wandeln sie wie aufgezogene Marionetten in das schwarze Tor der Fabrik. Am Tag werden sie schlafen. Dafür ist die Fabrikhalle in der Nacht hell erleuchtet. Das künstliche Licht muss reichen als Lebensersatz! Das Gegenbild zu diesem wird sie noch malen. Die Minderbrüder, die unter der Sonne und dem Lerchentriller das Feld bestellen. Arm-selig. Das Wort reich-selig existiert nicht. (Barbara Krause 129f.)
Drei Hexen auf dem Monte Verità. Die eine war wirklich häßlich: gross, grobknochig mit vorstehenden grossen Zähnen, und sie malte glühend-ekstatisch, dämonisch-fromm. Die zweite dagegen war klein, schwarz und wendig, mit orientalischen Glutaugen, ein Irrwisch. Sie dichtete so glühend wild wie die erste Hexe malte. Die dritte war herb und ernst, mit breiten Backenknochen und bannendem Blick. Sie tanzte Hexentänze, Totentänze, Schamanentänze und war berühmt dafür. Sie wagten sich zeitweise wie ganz normale Menschen unter die Gäste im Speisetempel der Kuranstalt Monte Verità - und wurden doch erkannt, zumindest gewittert. "Man konnte erleben, dass die um den riesigen runden Tisch versammelten Gäste sich zur Tafelrunde Christi zählten und sich gegenseitig heilig sprachen", weiss eine von ihnen zu berichten. Und fährt dann fort: "Drei Frauen waren ein für alle Mal aus diesem illustren Kreis ausgeschlossen: Else Lasker-Schüler, die Dichterin - Marianne Werefkin, die Malerin - und Mary Wigman, die Tänzerin. Wir galten als die 'Hexen' von Endor". (Monteveritana 14/97, Zitat von Mary Wigman in Sorell 36)
In
Ascona liessen sich im Laufe der Jahre viele Künstler nieder,
so
wie früher etwa in Worpswede. Da waren vor allem die
Russen, Marianne von
Werefkin, Baron Alexey von Jawlensky
mit seiner Haushälterin Helene und deren Sohn, dessen Vater
Jawlensky war. Ferner Arthur
Segal und Familie. Wir wurden mit
dieser Gruppe sehr befreundet und halfen ihnen während des
Ersten Weltkrieges und länger. 1919 wohnten wir einen Winter
lang in einem gemieteten Haus auf der Collina und kamen
täglich
mit diesen Künstlern zusammen.
(Mayer 99) In der von Francis Picabia herausgegebenen Avantgarde-Zeitschrift '391', Nr. 8 vom Februar 1919, wird Ascona neben Paris, Zürich, Barcelona und New York als fünfter Standort von Dada genannt. ZURICH/ASCONA - A. de Jawlensky, Eggeling le plus grand peintre suédois, le Grand-duc Vladislav de Jollos. - Huelsenbeck le plus grand poète, Jwan Goll, Mc. Couch a acheté une couche ... ZURICH: ... Arthur Segal a trouvé l'égalité des valeurs, pantalon = nuage - le Dr. Jung Dadaïsme - primitivisme la psychiatrie ne rapporte plus. ... Arp fera ... une exposition de racines d'arbres de Venise ... (in Bolliger 235) Januar/April 1919: In Ascona suchte sie (Sophie Taeuber) Ruhe und Erholung, erst im Januar und dann im April. Hans Arp musste sie begleiten, weil sie zu schwach war, um allein zu reisen. (Mair 81) April 1919: Gründung der Gruppe 'Radikale Künstler' in Zürich. Führende Teilnehmer sind die von Ascona kommenden Arp, Eggeling, Janco und Richter. Unser Glaubensziel ist die brüderliche Kunst: Neue Sendung des Menschen in der Gemeinschaft. Die Kunst im Staat muss den Geist des gesamten Volkskörpers widerspiegeln. Kunst ... soll ... keiner Klasse gehören ... Wir wollen namenlos als geistige Träger des Handwerks werken. ... Wir kämpfen um dem arbeitenden Volk die Freude am selbstbewussten Schaffen wiederzugeben ... (Manifest in van den Berg 387) Im Juni 1919 ... in Zürich eine Ausstellung "Maler aus Ascona". (Flach 25) 1920 Als Paul Klee im Herbst 1920 in Ascona war, er besuchte Jawlensky und die Werefkin, da erhielt sein Son Felix, der in München zurückgeblieben war, die Nachricht von der Berufung Klees an das Staatliche Bauhaus in Weimar. (SZ 171) nach 1920 Ackermann, Bayer, Belling, Bethke, Bissier, Breuer, Camenisch, Clemens, Davringhausen, Epper, Flach, Frick, Kohler, Helbig, McCouch, Niemeyer, Oberländer, Rohlfs, Schlemmer, Schürch, Valenti, Wilkens...
... Sophie Taeuber und Hans Arp erzählten von "Monte Verità". Das Interesse war bereits erloschen, da wurde es wieder entfacht mit einer kurzen berauschenden Festzeit. Man lud zu grossen Künstlerfesten, und die Künstler bemalten das Zentralhaus [auf Monte Verità] und die einzelnen Hütten in bunten Farben. Sie waren in diesem Jahr noch einmal da gewesen, wohl ein letztes Mal, bevor die wirtschaftlichen Interessen ein für allemal die Reformbewegungen vereinnahmten. (Mair 127) 1927 Oskar Schlemmer: Der Tessin-Aufenthalt (bedeutete) für ihn Gegenwelt, und zwar im Sinne eines Ausbruchs aus dem "rechten Winkel" in etwas "Unmodernes", "Atavistisches", wie er selbst schreibt und dies zusammenfasst mit "Anti-Bauhaus". (SZ 171) 1927 Käthe Kollwitz Reise nach Ascona - Im Frühjahr 1927 reisten Käthe und Karl Kollwitz nach Ascona, um sich zu erholen und um Goeschs zu besuchen, die sich in Ronco, oberhalb von Ascona, ein kleines Weinbauernhaus mit Blick auf den Lago Maggiore gekauft hatten. Goeschs waren eng verbunden mit dem Kreis von Künstlern, Schriftstellern, Kunstsammlern, Tänzern und Lebensreformern, die sich um den Monte Verità zusammengefunden hatten. (Jutta Bohnke-Kollwitz in Käthe Kollwitz: Die Tagebücher 896) Die Zeit in Ascona durchaus schön. Die Landschaft herrlich, frei ohne Süsslichkeit. ... Die vielerlei Menschen, die wir da kennenlernten: Die Werefkin, Frick und seine Freundin, das schöne Fräulein Fellerer, Frau Frieda Gross, das Ehepaar [Bernhard] Mayer, die kleine graziöse Frau Dr. Hausenstein, Frau Bergl, [Emil] Ludwig seine Frau Schwiegermutter Söhnchen. Vor allem Friedeberg, seine junge Wirtschafterin und Freundin. Deren Freundin Frau Bachrach, ihr Sohn, der junge Frick, Wolfskehl. Brigitte Landauer, der Chauffeur Cerosa. Stietencron und Fides. Vor allem das öftere Zusammensein mit Gertrud, Heinrich, den Kindern. (Käthe Kollwitz: Die Tagebücher 626f.) 1930 Max Ackermann in Ascona Der Maler Max Ackermann (1887-1975) war ein Studienkamerad von Ernst Graeser, dem jüngeren Bruder von Gusto Gräser, an der Stuttgarter Akademie, wo beide um 1912 Meisterschüler von Hölzel waren. Ernst Graeser kam 1911 von Ascona zurück und wird die Ideale seines Bruders vermittelt haben. Baumeister und andere Stuttgarter Studenten besuchten um diese Zeit die Monte Verità-Filiale Amden am Walensee. Ackermann hat in diesen frühen Jahren viele Wandervogel- und Tanzmotive gemalt, lebte zeitweise mit Alfred Daniel zusammen in der Kommune am Grünen Weg bei Urach. Er war an der Stuttgarter Vagabundenausstellung von 1929 beteiligt und ist spätestens 1930 zum Monte Verità gereist, wo er sich längere Zeit aufhielt und mit dem Siedler Carlo Vester befreundete. 1932 hat er in einer Gemeinschaftsausstellung zusammen mit Ernst Graeser ausgestellt. >>>> Bilder Dazumal, im Jahre 1930 war das Café Verbano der Treffpunkt aller musischen Menschen. Ich war jeden Tag dort, und jeden Tag lernte ich einen verehrungswürdigen Menschen kennen. So kam es zu einer Freundschaft mit dem Pariser Bildhauer Cogan. Die Werefkin erzählte aus früheren Jahren von mit ihr befreundeten Künstlern. - Die Düsseldorfer Maler waren in großer Zahl hier und aquarellierten nach Düsseldorfer Art. Es ging ohne sonderlich gezierte "Vorstellung" der Anwesenden im Verbano ab - es war wie eine große Künstlerfamilie. Aber die "Fede", eine bewegliche junge Frau, die damals mit geradezu genialer Weise alle Künstler, Schriftsteller, Tänzer und Musiker individuell begrüßte und bewirtete, wurde von allen Gästen gefeiert. Viele Künstler, unter andern Rohlfs, Emil Ludwig, sah ich auf den Straßen und am Strand, aber ich lernte sie nicht kennen. Aber Helmut Macke, der gute Maler und Vetter von August Macke war am Lido. Eine ältere Dame erzählte mir von ihrem Helmut. Als ich sie fragte, ob er der Verwandte von August sei, rannen Tränen in Strömen. Ich verstand sie und mußte an mich halten, um nicht in Schluchzen auszubrechen. Der Naturapostel Karl Vester, der auf Monte Verità der letzte Lebende der "Rückkehrer zur Natur" war, wurde mein Freund. Immer wenn ich zu ihm hinaufstieg, brachte ich Würstchen mit, die wir miteinander verzehrten. Er hatte sich vom "reinen" Vegetarismus entfernt, genau wie ich. Was er mir von den Anfängen auf Monte Verità erzählte, fesselte mich. ... Ich malte im Freien in Ascona, Ronco, Brissago. Mein Streben dazumal? Ich machte "Formschlüssel" vor der Natur. Es folgten "Farbschlüssel". Beide "Schlüsselskizzen" heftete ich an meine Staffelei. Diese theoretischen analytischen Schlüssel brachte ich in Gegenwart der Natur zu einer mir eigenen Synthese auf die Leinwand. Bei dieser Arbeit überraschte mich die Malerin Werefkin, die von diesem komischen Vorgehen beeindruckt war. Wußten wir doch alle, daß sie sowohl wie Karl Schmidt-Rottluff >>>> Aufenthalte und Bilder und andere nur Kurznotizen machten, die sie dann in ihren Ateliers zu Hause aus der Farbe entwickelten. ... Mich verfolgte der Wahlsieg (den ich in Ascona vernahm) der Nazis im Deutschen Reichstag. - So musste ich daheim mit den Nazis mein künftiges Leben versuchen durchzustehen. Aber meine Ascona-Bilder brachten Freude ins Haus, auch Mammon, da ich verkaufte, und ich vergass den Nazirummel für einige "wenige" Jahre. (Max Ackermann in Bayer 44) 1959 Hans Arp zieht nach Locarno. Zusammenarbeit mit Hans Richter. 1965
Arp
wird Ehrenbürger von Locarno. Er stirbt am 7. Juni 1966.
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