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Einstein in Ascona

Mit Otto Buek gegen den Krieg



Albert Einstein war kein Münchner.
Aber er ist in München zur Schule gegangen und vor dem verpreußten
"Leutnantscharakter" seiner Lehrer ins Ausland geflüchtet.
Die Abstoßung vom wilhelminischen Militarismus und Chauvinismus
hat ihn zu dem gemacht, was er politisch geworden ist:
der Antiautoritäre, der Pazifist, der Internationalist.

Er ist nach München zurückgekommen, wenn auch in anderer Gestalt.
Sein Freund und Mitkämpfer, der Philosoph Otto Buek, gehörte,
mit Erich Mühsam und Otto Groß, Karl Otten und Oskar Maria Graf,
dem 'Tat'-Kreis des Sozialistischen Bundes an.
Er gehörte zu jenem Gegen-München, das Schwabing hieß
und aus Ascona kam.

Einstein ist in Princeton gestorben,
Otto Buek in Paris,
Ernst Toller in New York,
Oskar Maria Graf in New York,
Karl Otten in Locarno,
Erich Mühsam in Oranienburg.



Zwei Ausreißer in Zürich
Gusto Gräser und Albert Einstein


Albert Einstein schreibt einmal, jede Lebensgemeinschaft bilde "eine weitgehend einheitliche Mentalität und Wertskala" aus. Diese einheitliche Mentalität habe in Deutschland seit Bismarck und Treitschke der Militarismus geprägt: "Wenn einer es fertigbringt, sich davon loszulösen und seine eigenen Maßstäbe zu bilden, so ist er eine große Ausnahme, einer unter 1000 oder 10 000." (Einstein, z. n. AH 477)

Einstein wurde eine solche große Ausnahme. Schon als kleiner Junge in München soll er der Militärmusik und den hinter ihr marschierenden Soldaten aus dem Weg gegangen sein. "Wenn ich einmal groß bin, dann will ich nicht zu diesen armen Leuten gehören", soll er gesagt haben (z. n. Wickert 109). Er mag gespürt haben, daß in solchen Aufzügen jene Macht sich darstellte, die mit Fingen auf ihn, den Juden, wies - und morgen vielleicht mit ihren Waffen auf ihn zielte.

In München mußte er, obwohl mosaischer Religion, am katholischen Religionsunterricht teilnehmen. Eines Tages kam der Religionslehrer in die Klasse und brachte einen großen Nagel mit. Mit solchen Nägeln sei Christus von den Juden ans Kreuz geschlagen worden. Alle blickten auf Einstein, den einzigen Juden in der Klasse. Es entstand eine beklemmende Situation. Einstein hat diese Szene sein Leben lang nicht vergessen.

Als die Familie 1894 nach Italien zog, mußte Albert in München zurückbleiben, um weiterhin das ungeliebte Luitpold-Gymnasium zu besuchen. Der militärische Ton in der Schule, die Erziehung zur Verehrung der Autoritäten, mit der bereits die Schüler an die militärische Zucht gewöhnt werden sollten, der "Leutnants-charakter" der meisten Lehrer (Einstein z. n. CPE XIII) - das alles stieß ihn ab. Mit Grauen dachte er an die nicht allzuferne Zeit, wo er selbst in den grauen Rock würde schlüpfen müssen. Der Sechzehnjährige muß schon damals durch Witz und Juxerei die Autoritäten gereizt haben, denn eines Tages,

"als ich in der 7. Klasse des Luitpoldgymnasiums war, liess mich der Klassenlehrer kommen und äusserte den Wunsch, ich möchte die Schule verlassen. Auf meine Bemerkung, dass ich mir doch nichts hätte zuschulden kommen lassen, antwortete er nur: Ihre blosse Anwesenheit verdirbt mir den Respekt in der Klasse." (Einstein, z. n. CPE XIII)

Der Ton des Klassenlehrers, der ihm prophezeite, daß nie etwas Rechtes aus ihm werden würde, wurde schärfer. Seelisch bedrückt und nervös geworden suchte Einstein nach einem Ausweg. Er ließ sich krankschreiben. Im Vorfrühling 1895 verließ er fast fluchtartig München und reiste ohne Paß und mit geringem Gepäck zu seinen Eltern nach Mailand.

Ein neuer Anfang mußte gesucht werden. Kein Zurück nach Deutschland. In Zürich wußten die Eltern einen Freund, den sie noch von Ulm her kannten, einen weltgewandten Kaufmann und Bankier: Gustav Maier.

Auch er hatte Deutschland verlassen, bewußter schon an den politischen Verhältnissen leidend und sie durchschauend. Als sechsjähriger Junge hatte er die schwarz-rot-goldene Kokarde der Revolutionäre von 1848 getragen und war tief enttäuscht gewesen, als er dieses Hoffnungszeichen wieder abnehmen mußte. In den Sechzigerjahren hatte er sich der demokratischen Bewegung in Württemberg angeschlossen, die "durch Freiheit zur [großdeutschen] Einheit" wollte und im Preußen Bismarcks den bösen Feind sah. Als Direktor der Reichsbank in Ulm war er sich nicht zu schade, mit den verfemten Sozialdemokraten in Kontakt zu treten. Früh erkannte er die Gefahr des "semi-offiziell" gewordenen Antisemitismus. Schon 1881 veröffentlichte er in Ulm seine Mahnschrift 'Mehr Licht! Ein Wort zur "Judenfrage" an unsere christlichen Mitbürger'. Er treibt sozialpolitische Studien, liest Marx und Henry George, wählt sozialdemokratisch, wird aber nicht Mitglied der Partei, weil er den Klassenkampf ablehnt. In dem durch den Sieg von 1871 übermäßig aufgeblähten deutschen Nationalbewußtsein, in der Unterdrückung des Arbeiterstandes und im einseitigen Vertrauen auf militärische Stärke erblickt er die größten Gefahren für das nunmehr geeinte deutsche Reich.

Wir stehen vor einer Krankheit der Zeit und leider vor einer spezifisch deutschen, um nicht zu sagen preussischen Krankheit, und wenn es auch da und dort schmerzt, so ziemt es sich, den Finger in die Wunde zu legen und zum Heil der Zukunft unseres Vaterlandes endlich der Richtung eines ungesunden, volksverderbenden Militarismus auch in höherem Sinne ein kräftiges Halt zu gebieten. (Erinnerungen und Gedanken 29)

Er schließt sich den Freimaurern an in der Hoffnung, die reformierten Logen zu einem Werkzeug seiner politischen Bestrebungen zu machen. Eine andere Plattform sucht er in der 'Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur', in deren Vorstand er gewählt wird. Auf dem internationalen Kongreß der Friedens-bewegung zu London im Juli 1890 vertritt Gustav Maier die Frankfurter Friedensgesellschaft. Seine Warnung vor übertriebener Aufrüstung in einem Leitartikel von 1893 hat sich im Rückblick als prophetisch erwiesen:

Wir meinen, dass es dem deutschen Volke vor allem ansteht, sich zu besinnen und Einhalt zu tun dem wahnsinnigen Treiben, das in einer gegenseitigen Überspannung der Kräfte, in einer Schraube ohne Ende zur Erschöpfung führen muss im Frieden und zur allgemeinen Vernichtung in einem zukünftigen Kriege. (Erinnerungen und Gedanken 29)

Solche Worte eines Humanisten und Pazifisten, der zugleich, wie maßvoll und besonnen auch immer, für die Rechte der Arbeiter eintrat, mußte ihm im Reiche Wilhelms alle Sympathien kosten. Nachdem er während der Reichstagswahl von 1893 als Redakteur eines Ulmer Blattes vergeblich gegen den Kandidaten der Großgrundbesitzer-Fraktion angekämpft hatte, verließ Maier das kaiserliche Deutschland und begab sich in die republikanische und demokratische Schweiz. Das Land, das schon den verfolgten deutschen Demokraten von 1848 Zuflucht geboten hatte, wurde ihm zur zweiten Heimat.

Nicht etwa daß Maier resigniert hätte und untätig geworden wäre. Vielmehr widmet er sich, von beruflichen Verpflichtungen zeitweise entlastet, jetzt noch leidenschaftlicher dem Einsatz für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Als im Jahre 1897 der Dreyfus-Prozeß die Gemüter bewegt und erregt, da wohnt Maier von der ersten bis zur letzten Stunde den Verhandlungen bei, um dann in einer eigenen Schrift der Öffentlichkeit kritischen Bericht zu geben.

Dies ist der Mann, dem im Jahre 1895 der sechzehnjährige Albert Einstein gegenübertritt. Maier wird ihm Förderer und Freund, sein geistiger Mentor. Der Antimilitarist, Freidenker und Philanthrop Gustav Maier hat die Neigungen des jungen Mannes in einer entscheidenden Entwicklungsphase bestätigt und auf Dauer geprägt.

Die Lebenserinnerungen von Gustav Maier
Typoskript im Züricher Stadtarchiv

Zunächst aber bemüht sich Maier, der sich in Zürich rasch eine angesehene Position als Direktor einer Bank und eines Warenhauses geschaffen hat, seinem Schützling einen vorzeitigen Eintritt ins akademische Studium zu verschaffen. Er scheint die Begabung des jungen Mannes früh erkannt zu haben, denn er empfiehlt ihn als "Wunderkind" dem Rektor des Polytechnikums, obwohl Einstein weder einen Schulabschluß noch das erforderliche Mindestalter vorzuweisen hatte. Der Prüfling fällt durch, und wiederum ist es Maier, der für sein Weiterkommen sorgt. Er empfiehlt ihn an einen Freund und Gesinnungsgenossen, den Rektor der Kantonsschule in Aarau, Jost Winteler. In dessen Schule und Haus fand Einstein eine zweite Heimat und in Winteler selbst ein väterliches Vorbild, das ihn wie Maier in seinen demokratischen Überzeugungen und in seiner Abneigung gegen den deutschen Militarismus bestärkte. Im liberal-freisinnigen Milieu der Häuser Winteler und Maier, in den glücklichen fünfzehn Jahren seines (ersten) Aufenthalts in der Schweiz, wurden jene Anschauungen grundgelegt, die Einstein für immer immun machten gegen jede Art von nationalistischem Wahn. Am 28. Januar 1896 entledigt er sich der württembergischen Staatsangehörigkeit und bleibt für die nächsten fünf Jahre staatenlos. Damit entkommt er der deutschen Militärpflicht ebenso wie der schweizerischen. Als er dann 1901 aus beruflichen Gründen sich um die schweizerische Staatsangehörigkeit bewirbt, ist es wiederum Maier, der die finanzielle Kaution für ihn übernimmt.




Einstein (vordere Reihe, links) mit seiner Maturklasse in Aarau

Nach bestandener Abschlußprüfung in Aarau kehrt Einstein im Sommer 1900 nach Zürich zurück. Schon während seiner Schulzeit war er des öfteren zu den Maiers herübergekommen, denn nach wie vor stand ihm das Haus seines Landsmanns offen. "Dieser ebenso vermögende wie liberale Mann hatte gerade mit einigen Gesinnungsfreunden eine 'Schweizerische Gesellschaft für ethische Kultur' gegründet, in der ähnlich wie im seit 1892 bestehenden deutschen Vorbild soziale Reformen, Bildungsprobleme und die Gefährdung des Friedens durch Militarismus und Chauvinismus diskutiert wurden" (Fölsing 67). Zu den Gründungsmitgliedern gehörte auch sein Freund Jost Winteler.

Wie wohl sich Albert Einstein im Hause dieses Menschenfreundes gefühlt hat, geht aus den Zeilen hervor, die er zur goldenen Hochzeit des Ehepaaares Maier nach Zürich sandte:

Einstein 1896 in AarauSie waren meinen Eltern in Ulm liebe Freunde, als der Storch sich erst anschickte, mich aus seiner unerschöpflichen Vorratskammer zu holen. Sie haben mich liebreich gestützt, als ich im Herbst 1895 in Zürich ankam und durchs Examen plumpste. Ihr gastliches Haus stand mir stets offen während meiner Studienzeit, auch wenn ich mit schmutzigen Stiefeln vom Uetliberg herunterkam. (Seelig: AE 7)

Eine Porträtzeichnung seiner selbst mit persönlicher Widmung schickt der inzwischen schon Weltberühmte noch anno 1922 an Gustav Maier, ein Jahr vor dessen Tod. (ETH-Bibl.)

"Was ein Mensch für seine Gemeinschaft wert ist", so wird Einstein später schreiben, "hängt in erster Linie davon ab, inwieweit sein Fühlen, Denken und Handeln auf die Förderung des Daseins anderer Menschen gerichtet ist" (z. n. Schützeichel 103). Und an anderer Stelle: "Zahlreich sind die Lehrkanzeln, aber selten die weisen und edlen Lehrer" (z. n. ebd. 149). Jost Winteler und Gustav Maier waren für Einstein solche Lehrer gewesen.

In der Zeit seines Verkehrs mit Maier erschienen von diesem u. a. die Schriften 'Der Kampf um Arbeit' (1896), 'Der Prozess Zola' (1898) und vor allem seine in der Folge weitverbreitete und immer wieder neu aufgelegte Darstellung der 'Soziale(n) Bewegungen und Theorien bis zur modernen Arbeiterbewegung' (1898). Maier stellt nicht nur den seltenen Fall eines Unternehmers dar, der für Arbeiterschutz und Arbeiterrechte allgemein sich einsetzt. Es fällt auch auf, was damals und bis heute ein noch seltenerer Fall sein dürfte, daß für ihn neben Kapitalismus und Sozialismus der sonst so verachtete Anarchismus eine dritte Kraft und soziale Bewegung bedeutet, die er ernst nimmt und hoch zu achten scheint. Wohl nicht von ungefähr sind es vor allem die frühen Sozialisten, deren genossenschaftliche Utopien ihn beschäftigen. Mit Wärme behandelt er die Ideen von Saint-Simon, Cabet und Owen, besonders aber die von Fourier, den er "eine schwärmerisch-poetische Prophetennatur mit einem außerordentlich praktischen Blick" nennt, einen "Schöpfer des modernen Sozialismus". (Soz. Bew. 106)

Drei gesunde Ideen sind es, die aus Fouriers Schriften besonders in die Augen springen: die enge Verbindung des Gesellschaftslebens mit der Freiheit aller einzelnen Glieder, die ständige Verknüpfung dieses Lebens mit der Natur und der hohe Wert der Arbeit an sich, auch abgesehen von ihrem materiellen Ertrage. Ein Geschlecht, so sagt Fourier, das mit dem Trachten nach persönlichem Glücke ein starkes Streben nach Gemeinsamkeit verbindet, das in der höchsten Leistung für die Gesellschaft auch das Ziel des Einzellebens sucht, - ein solches Geschlecht wird erst würdig sein, den Namen einer menschlichen Gesellschaft mit Ehren zu tragen. (Soziale Bewegungen 105)

Albert Einstein muß mit diesen Vorstellungen vertraut geworden sein. Es sind die selben Vorstellungen, die auch die Gebrüder Gräser bei der Gründung der Siedlung Monte Verità geleitet haben (Hofmann-Oedenkoven 22). Aber mehr noch: Einstein könnte im Hause Maier einem Gleichaltrigen in seltsamem Aufzug begegnet sein, einem Wanderer und Reformer, der wenige Monate später nach Ascona zog, um dort eine Kolonie im Geiste Fouriers zu begründen.

"Fouriers ganze Gedankenwelt", so schreibt Maier, "bewegt sich in Richtung zur Natur, nach dem Reize des Landlebens, nach dem Ackerbau. ... So entsteht der Plan seines Gemeindekontors, des Vorbildes der landwirtschaftlichen Genossenschaft. Gemeinsamkeit der Scheunen und Keller, des Handels und Verkehrs soll die selbständigen Kleinen vereinigen und zu wirtschaftlicher Macht erheben. ... Fouriers berühmtes Phalansterium ist der Wohnpalast einer landwirtschaftlich-gewerblichen Bevölkerung. Dort sind 300 Familien verschiedener Berufe und Bildungsgrade vereinigt, bilden eine große Familie, führen einen Haushalt und arbeiten doch nach freier Wahl, in Serien eingeteilt, zum gemeinsamen Besten wetteifernd." (Soz. Bewegungen 105)

Nach Ida Hofmann sahen die Gebrüder Gräser "stets nur kolonialistisches Leben von uns 5 Personen, denen sich noch Andere in der Art des 'Phalanstère' von Fourier zugesellen sollten," als ihr Ziel (Hofmann 22). Und ganz wie Fourier nach Maier, so wird Gusto "zwar zum Sozialisten, denn er erstrebt den höchsten Glückszustand der Gesamtheit, aber er bleibt dabei Individualist, indem er diesen Zustand nur durch die Entfaltung des einzelnen zu seinem eigenen höchsten Glücke für erreichbar hält". (Soz. Bewegungen 105)

Ist Gräser etwa durch Maier auf Fourier hingewiesen worden? Das dürfen wir als sicher annehmen. Denn Maier beschreibt Gräser als einen, der sich als „Reformator der Gesellschaft“ fühle. Wie sollte er, der eben die aktuellen Reformatoren der Gesellschaft in seinem Buch behandelt hatte, der selbst in Wort und Tat auf Reform der Gesellschaft in mannigfacher Hinsicht drängte, wie sollte er sich mit dem jungen Mann nicht über die großen Reformer und Utopisten unterhalten haben? Sein Gast war ihm immerhin wichtig genug, um brieflich nähere Informationen über ihn bei seinem ehemaligen Meister einzuholen. Er wird seine Bücher dem noch suchenden jungen Mann in die Hand gelegt haben. Auch die 1888 erschienene Monographie von August Bebel über Fourier, die Maier in seiner Literaturliste aufführt (Soz. Bew. 109), dürfte er an Gräser weitergegeben haben.

Der war im Herbst 1899 nach Zürich gekommen. Am 12. Januar 1900 schreibt Maier an den Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach:

Seit ein paar Monaten hält sich hier ein junger Mann, Namens Gustav Gräser, angeblich aus Siebenbürgen stammend auf, geht in einer Tracht einher, die der von Ihnen gewählten ziemlich entsprechen dürfte, und giebt sich als eine Art Reformator der Gesellschaft aus. Er ist ein hübscher, grosser Mensch von etwa 25 Jahren und behauptet, in Pest Kunstschlosserei getrieben zu haben und dann zur Malerei übergegangen zu sein. Er malt auch an einem allegorischen Bilde, über dessen Skizze ich indes kein Urteil habe. Sonst arbeitet er nichts, scheint vielmehr von den Spenden und Unterstützungen zu leben, die ihm von Leuten zukommen, die sich infolge seines eigenartigen Auftretens für ihn interessieren. ... Ich habe Grund anzunehmen, dass Sie den jungen Mann kennen, und ich wäre Ihnen daher zu besonderem Dank verpflichtet, wenn Sie die Güte haben wollten, mir einige Auskunft über ihn zu geben ... (Diefenbach-Archiv, Dorfen)

Maier kennt den jungen Mann seit Monaten, er hat sich von ihm über sein Leben berichten lassen, er kennt seine Bildentwürfe, er weiß, daß Gräser von hochgeachteten Leuten wie dem Professor Forel und dem Arbeitstherapeuten Grohmann unterstützt wird. Er scheint auch Diefenbach zu kennen und zu schätzen, sonst würde er wohl nicht eine Referenz von ihm erbitten. Der junge Mann hat ihn, den "Vorstand der hiesigen Gesellschaft für ethische Kultur", in seinem Hause aufgesucht und sich vorgestellt als einer, der sich als "eine Art Reformator der Gesellschaft" fühlt. Maier hat den seltsamen Fremdling nicht hinausgeworfen, sondern möchte von Diefenbach Näheres über seine "künstlerische oder sonstige Befähigung" wissen.

Kurz: Gräser hat, gleichzeitig mit Einstein, im Hause Maier verkehrt, wurde möglicherweise von Maier unterstützt, da er Vorstellungen vertrat, die dem Sozialreformer am Herzen lagen. (Dieser hat sich, um nur ein Beispiel zu nennen, für eine Aufteilung des Großgrundbesitzes und seine Umwandlung in Genossenschaftsbetriebe eingesetzt.) Einstein kann Gräser schwerlich übersehen haben, zumal dieser überall wo er auftrat Aufsehen erregte und zum Gegenstand des öffentlichen Gesprächs wurde. Sie waren gleichaltrig, junge Männer von einundzwanzig Jahren, empfänglich für alles Neue, aufmüpfig gegen verkrustete Traditionen, der eine mit subversivem Witz, der andere mit dem ganzen Einsatz seiner Person. Der Mutigere und Konsequentere dürfte dem Kompromiß-bereiteren mächtig imponiert haben.

Einsteins unkonventionelle Lebensart, seine schwejkischen Ironien gegen alles Offiziöse und steif Bürgerliche sind bekannt und geradezu legendär. Jeder engstirnigen Korrektheit hat er im wörtlichen Sinne die Zunge gezeigt. Gern behauptete er, mehr für seine Sockenlosigkeit berühmt zu sein als durch seine Theorie. Er liebte das einfache Leben, das Schweifen in der freien Natur und die Genüsse im kleinen Kreis. An Elsa Löwenthal, die ihm Schwammerl gekocht hatte, schreibt er am 16. Oktober 1913:

Wie hübsch wäre es, wenn wir einmal zusammen eine kleine Zigeunerwirtschaft betreiben könnten. Du hast keine Ahnung, wie reizend so ein Leben mit winzigen Bedürfnissen und ohne Grandezza ist! Wer weiss, ob wirs nicht einmal zur Ausführung bringen werden? (The Collected Papers of AE, Volume 5, Correspondence 1902-1914, Princeton 1993, S.561)

Zigeunerwirtschaft, Bedürfnislosigkeit, Antibürgerlichkeit, Pazifismus, parteiloser Gefühlssozialismus und hoher Gerechtigkeitssinn... Man könnte mit guten Gründen auf den Gedanken kommen, daß der franziskanische Wanderer Gusto Gräser ein heimliches Vorbild für den Menschen Einstein gewesen sei. Geistes- und Seelenverwandte waren sie gewiß.

Und diese Geistesverwandtschaft bezeugte und bewährte sich durch die Tat. Es kam der Augenblick, wo Einstein allein gegen die Meinung von Millionen stand und nur noch zwei oder drei Gesinnungsgenossen fand. Einer von diesen Wenigen, der Deutschrusse Otto Buek, gehörte zu den Trabanten des Monte Verità. Im Herbst 1914 unterzeichnete Einstein gemeinsam mit dem Tolstoianer Buek ein Manifest gegen den deutschen Chauvinismus. Weil er außer dem Philosophen Buek und dem Biologen Friedrich Nicolai keine weiteren Mitstreiter unter der deutschen Professorenschaft fand, blieb dieser Aufruf unveröffentlicht. Die wenigen echten Kriegsgegner, die es damals gab, hatten sich auf den Monte Verità geflüchtet.


Mit Otto Buek gegen den Krieg


Gegen jedes Völkerrecht hatte Deutschland im August 1914 das neutrale Belgien überfallen. "Mit großer Härte gingen die Truppen gegen die Bevölkerung vor. Die Häuser, aus denen - wirklich oder vermeintlich - Schüsse gefallen waren, wurden gestürmt und die Bewohner, auch Frauen und Halbwüchsige, mit dem Bajonett niedergemacht" (AH 26). In der Stadt Löwen wurden über 200 Belgier getötet und 1100 Häuser zerstört. Spätere Untersuchungen ergaben, daß die Deutschen nicht von Belgiern sondern versehentlich von eigenen Einheiten angegriffen worden waren. Die "Tragödie von Löwen" löste in der ganzen Welt leidenschaftliche Proteste gegen die Brutalität der deutschen "Hunnen" aus.

Dagegen wiederum verwahrten sich in einem 'Aufruf an die Kulturwelt' dreiundneunzig der prominentesten Vertreter des deutschen Geisteslebens - darunter Gerhart Hauptmann, Wilhelm Röntgen, Max Planck - mit der ebenso feierlichen wie wahrheitswidrigen Behauptung:

Es ist nicht wahr, daß eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum von unseren Soldaten angetastet worden ist, ohne daß die bitterste Notwehr es gebot. (AH 27)

In der Liste der Unterzeichner, einer Walhalla der "großen Deutschen", fehlt der Name von Albert Einstein.

Sein Name steht stattdessen auf einem Gegenmanifest, das auf seine Anregung hin von dem Physiologen und Pazifisten Georg Friedrich Nicolai verfaßt wurde. Dieser 'Aufruf an die Europäer' appellierte an die Wissenschaftler Europas, sich mit ihrer ganzen Autorität für die rasche Beendigung des Krieges einzusetzen. Zur Unterzeichnung fanden sich freilich nur ganze vier Männer bereit: neben Einstein und Nicolai der emeritierte Direktor der Berliner Sternwarte Wilhelm Förster und der Doktor der Philosophie Otto Buek.

Einstein, Nicolai und Förster waren Professoren und hervorragende Vertreter ihrer Wissenschaft. Aber wer war dieser Buek?

In seinem autobiographischen Roman 'Links wo das Herz ist' erzählt Leonhard Frank:

Am 4. September 1914 kamen die paar kriegsgegnerischen Männer, die es in Berlin gab, in Michaels [Leonhard Franks] Wohnung, darunter der Dichter René Schickele, der Philosoph Otto Buek, Max Brod und Alvarez del Vayo, ein spanischer Journalist. Sie fragten vergebens in den Blutdunst ... Auch die Sozialdemokraten hatten die Kriegskredite für den Angriffskrieg bewilligt. (Links 62f.)

Und der Dichter Johannes R. Becher schreibt am 18. Dezember 1916 an seine Verlegerin Katharina Kippenberg:

Liebe gnädige Frau: Sie sind so gut zu mir. Außer Ihnen habe ich nur noch wenige Menschen: Däubler, Frau Hadwiger, Kessler, Herzfelde, Dr. Buek, Dr. Gumbel: gerade sieben Menschen. Sieben Menschen die ich liebe. (Becher 39)

Er widmet ihm sein Gedicht 'Gebet im Winter 1915/16' und nennt ihn in einem Brief "ein(en) wahrhaft großartige(n) Freund". (Becher 403)

Noch einmal: Wer ist dieser Otto Buek?

Ein Deutschrusse, 1873 in Petersburg geboren. Er muß aus vermögendem Hause gekommen sein, denn er ist in seiner Jugend mit Lou Salomé, der Tochter eines Generals, befreundet und kann es sich leisten, nach dem Studium der Mathematik und Chemie in seiner Geburtsstadt nach Deutschland überzusiedeln, um dort seine Ausbildung fortzusetzen. Schon in seiner Heimat hatte er das in Rußland verbotene 'Kapital' von Marx gelesen, hatte an dem Streit zwischen den Narodniki und den Marxisten leidenschaftlichen Anteil genommen. In Marburg wechselt er zur Philosophie, wird Schüler des Neukantianers Hermann Cohen und beteiligt sich an der Wahlkampagne seines Studienkollegen Robert Michels, der als Vertreter des syndikalistischen Flügels der Sozialdemokratie für den Reichstag kandidiert. Um Cohen in Marburg hatte sich eine kantianisch-sozialistische Gruppe gebildet, die dem Syndikalismus und Anarchismus, vor allem aber Tolstoi nahestand. Zu ihr gehörten: Robert Michels, Kurt Eisner und Otto Buek. (Hanke 130)

Michels trat später in engen Austausch mit Max Weber; seine tolstoianische Ablehnung der Gewalt hat zu dessen begrifflicher Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik wesentlich beigetragen. In einem Brief an Michels formuliert Weber seine Alternative:

Entweder: 1) 'mein Reich ist nicht von dieser Welt' (Tolstoj, oder der zu Ende gedachte Syndikalismus ... ) - oder: 2) Cultur-(... )Bejahung unter Anpassung an die soziologischen Bedingungen aller 'Technik' ... (Z. n. Hanke 186)

Buek entschied sich für Tolstoi und damit gegen die Anpassung an die kulturellen Gegebenheiten. Von der verbürgerlichten Sozialdemokratie enttäuscht, propagiert er unter Berliner Arbeitern ein Programm des gewaltlosen Widerstands. Er finanziert, zusammen mit Benedict Friedländer, die Zeitschrift 'Kampf' seines Freundes Johannes Holzmann und schreibt darin am 25. Februar 1905 über sein Vorbild Tolstoi:

Er gehört zu den ganz freien Geistern. ... Er hat jene erhabene Einfalt des Genies, jene herrliche Naivität, hinwegzusehen über das Gemeine, Beschränkte und Begrenzte, all jene niedrigen und kleinen Rücksichten nicht zu kennen, nicht zu bemerken, die uns und unser Leben umgarnen und in ein unentrinnbares Netz verstricken. (Kampf 539)

Zwar bemängelt Buek das Festhalten Tolstois "an jener zweischneidigen widerspruchsvollen Christenlehre".

Aber was er ihr entnimmt, ist das ewig Revolutionäre - ist der reinste Anarchismus, es sind kaum mehr als 5 kurze Sätze, die er aus dem vielen Gehalt dieses Grundbuches unserer abergläubischen Rückständigkeit entnimmt. ... Er hat in ihnen die revolutionären Grundgesetze der Menschheit entdeckt. (K 540)

Und dann kommt Buek auf jene Grundeinstellung zu sprechen, die zugleich für Gräser und den Asconeser Kreis um ihn bezeichnend ist:

Man wittert in der Lehre vom Nichtwiderstreben die reaktionäre Tendenz. ... Man vermißt den Stachel, die gefährliche Agressivität, die revolutionäre Spannkraft in dieser Lehre des Nichtwiderstrebens, und man flieht ihre politische Mattigkeit. Und doch ist Tolstois Gedankenbau ... das revolutionäre Prinzip schlechthin, ohne alle Abzüge und Konzessionen, nicht ein romantischer Putschismus freilich, kein Kokettieren mit blutigen Verschwörerphantasien, sondern die Revolution in Permanenz erklärt als das Wesen des Menschen selbst, die Revolution als Methode.

Daher ist auch nicht schwächlicher Feminismus der Gedanke vom Nichtwiderstreben, sondern gewaltigstes Aufgebot heroischer Kraftentfaltung, lebendigste Aktivität. Sagen wir es nur, es ist die einzig zureichende Definition für ein echtes, wahrhaftes Handeln, es ist die Form der Aktivität, die eine Energie und Konzentration des Willens, eine ursprüngliche Spontanität erfordert, für welche unser Geschlecht noch nicht die Mittel und Fähigkeit zu besitzen scheint. (Ebd.)

Ursprüngliche Spontaneität und heroische Kraftentfaltung wird Buek noch im selben Jahr in Ascona verwirklicht finden. Im Sommer 1905 kommt er an den Lago Maggiore, vermutlich hergelockt von Erich Mühsam, der um diese Zeit an seiner Ascona-Broschüre schreibt. "Spontanität und Unmittelbarkeit im Handeln", heißt es darin, sei für Karl Gräser "gleichbedeutend mit naturgemässem Handeln" (Ascona 31). Gräsers Sonderart und "Prinzip der Prinzipienlosigkeit" (ebd. 32) sei für ihn "vorbildlich". Karls Bruder Gusto vermeidet in seinen Schriften zwar einen so mißdeutbaren Begriff wie "Revolution", sagt aber in anderen Worten das selbe wie Buek. Wenn ein immerwährendes "Werden" und "Sichwandeln" im Wesen des Menschen wie alles Lebendigen liege, dann müßten auch die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft einem stetigen Wandel unterworfen werden. "Wenn schon Gesetz, Staat, Moral, dann höchstens Walasatz, Fluostaat, Humoral!"

Umbau ziemt uns, nit Verharren -
freih gehorch ich dieser Not,
dass mir nit der Umsturz droht
wie den Habenarren.

Darum zieht er durchs Land, das ist der Sinn seines Wanderns: die Menschen an den unaufhaltsamen Wandel aller Dinge zu erinnern und sie damit zu Umbau und Aufbruch bereit zu machen. Er verschleudert nicht seine Kraft im Kampf gegen das sogenannte "Böse", sondern:

Willst das Eine du vernichten,
musst das Andre du errichten.

Ein scheinbar harmloser Satz, die aber eine wahrhaft "revolutionäre" Umkehr enthält (und positiver beschreibt als das Wort vom "Nichtwiderstreben"), nämlich die Umwendung des Willens von aller Negation zu aufbauender, bejahender, schöpferischer Aktivität. Albert Einstein hat das hier Gemeinte mit den Namen Moses, Jesus und Gandhi umschrieben. Sein eigener unermüdlicher Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, für Flüchtlinge und andere Notleidende - auch für seinen Gesinnungsgenossen Otto Buek - liegt ganz auf dieser Linie1.

Buek fährt fort mit Sätzen, die Einstein sicher unterschrieben hätte, die er selbst hundertmal so oder anders ausgesprochen hat:

Es gibt eine Stufe, unter die ein Mensch unserer Zeit nicht hinabsinken darf - das ist der Mord. Der Brudermord als Vergewaltigungsmittel zur Befestigung und Verewigung der Sklaverei - das ist die Skorpionengeißel, die der moderne Staat sich gewunden hat im modernen Militarismus, im organisierten Heer, in einer stehenden Armee von Mordbrennern. (K 542)

Wir verstehen, daß Buek und Einstein sich zusammenfinden mußten - und halten uns zugleich im Bewußtsein, daß solche Aussagen angesichts des zaristischen und wilhelminischen Chauvinismus gemacht worden sind. Wir verstehen auch, daß Bueks Wege in die tolstoianische Kolonie Asconas führen mußten, wo er allerdings nicht Gräser sondern Otto Groß nahe kam und damit einer aggressiveren Politisierung, der Gräser sich entzog2.

Der Ernstfall kam mit dem Weltkrieg. Leonhard Frank, auch er ein "Asconese" aus der Gruppe um Groß, auch er ein Kriegsgegner und damals in die Schweiz emigriert, Leonhard Frank, der sich hier Michael nennt, erinnert sich:

Um diese Zeit [März 1918] kam Michaels Freund, der Philosoph Doktor Otto Buek, von Berlin nach Zürich. Er wohnte bei Michael. Nach dem Essen schilderte er die Zustände in Berlin. Hunger, Hunger, und man sehe nur noch Frauen, alte Männer und Kriegskrüppel. Kein Mensch glaube mehr an den deutschen Sieg. Tausende kriegsmüde Soldaten auf Urlaub hielten sich versteckt und riskierten, statt an die Front zurückzukehren, entdeckt und erschossen zu werden. In diese düstere Massenstimmung habe Michaels Buch [die Antikriegserzählung 'Der Mensch ist gut'] hineingeleuchtet wie ein Himmelskörper. ...

Doktor Buek sagte, Gymnasiasten hektographierten das Buch. Gymnasiasten-Klassen verteilten die einzelnen Blätter untereinander, jeder schreibe eine Anzahl Seiten mit der Hand ab. Das Buch gehe von Hand zu Hand. Jeder, den man spräche, kenne es. Die sozialistische Partei habe fünfhunderttausend Exemplare auf Zeitungspapier drucken lassen und sie an die Front geschickt. ... Wenn ein Buch den Krieg verkürzen könne, sei es 'Der Mensch ist gut'. (Links 73)

Warum ging Buek in die Schweiz? Er hatte schon an der 'Biologie des Krieges' seines Freundes Nicolai mitgearbeitet, ein Buch, das, in Deutschland verboten, 1917 in Zürich erschienen war. Nicolai, als Physiologie-Professor ein Kollege von Einstein an der Berliner Universität, kam aus einer Familie, die noch in der Tradition der 1848er stand und mit Landauer, Oppenheimer, Dehmel und anderen Friedrichshagenern eng befreundet war. In Paris war er unter den Einfluß der utopischen Sozialisten Fourier, Saint-Simon und Proudhon geraten. (Auch hier also die selbe Traditionslinie wie bei Gustav Maier in Zürich, wie bei den Gräsers in Ascona!) Er hatte sich geweigert, eine Waffe in die Hand zu nehmen, wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, zum einfachen Soldaten degradiert und schließlich gefangen gesetzt. Er hatte einen eigenen Verlag für seine Antikriegsschriften gründen wollen, dessen Vorstand Buek und Einstein angehören sollten (Zuelzer 192). Das Vorhaben war an der Absage Einsteins gescheitert. 1918 floh Nicolai in einem Flugzeug nach Dänemark, wo er mit Romain Rolland, zu dem Einstein schon früher Verbindung aufgenommen hatte, eine Zeitschrift für 'Das Werdende Europa' gründete. Auch Einstein wäre am liebsten geflohen, schon Ende 1914:

Man begreift es schwer beim Erleben dieser "grossen Zeit", dass man dieser verrückten, verkommenen Spezies angehört, die sich Willensfreiheit zuschreibt. Wenn es doch irgendwo eine Insel für die Wohlwollenden und Besonnenen gäbe! Da wollte ich glühender Patriot sein. (Z. n. Fölsing 393)

Hermann Hesse, Romain Rolland, Ernst Bloch und andere Kriegsgegner hatten diese Insel während des Krieges gefunden - in Ascona, das in dieser Zeit zum "Hort der pazifistischen Bewegung" wurde. (Szittya 104)

Ob auch Buek wieder nach Ascona kam, wo er schon 1905 und 1906 sich aufgehalten hatte? Was war seine Mission in der Schweiz, wo er bis zum Ende des Krieges geblieben ist? Wir wissen nichts Näheres darüber. Wahrscheinlich ging es um die zweite Ausgabe der 'Biologie des Krieges', deren Manuskript dem Schweizer Pazifisten Nippold in Thun übergeben wurde, von Leonhard Frank - oder von Otto Buek. Jedenfalls war es eine Mission im Dienste des Friedens.

Auch Einstein war 1917 in der Schweiz gewesen. "Dies Land [Deutschland] ist durch den Waffenerfolg von 1870, durch Erfolge auf dem Gebiet des Handels und der Industrie zu einer Machtreligion gekommen", schrieb er damals an Romain Rolland - und gab damit eine Deutschland-Analyse wieder, die sein Mentor Gustav Maier schon seit Jahrzehnten vertreten hatte.

Diese Religion beherrscht fast alle Gebildeten; sie hat die Ideale der Goethe-Schiller-Zeit fast vollkommen verdrängt ... Menschen wie Nicolai werden mit ehrlicher Überzeugung als 'Utopisten' bezeichnet. Nur Tatsachen können die Masse der Irregeleiteten von ihrem Wahn abbringen, wir lebten für den Staat, und dessen Selbstzweck sei grösstmöglichste Macht um jeden Preis. (Z. n. Fölsing 464f.)

Hier spricht jener Widerstandswille gegen den staatlichen und privaten "Willen zur Macht", der ureigenstes Lebensmotiv war für Gusto Gräser wie für Otto Groß und Otto Buek. In einer Parallelaktion zu den Unternehmungen von Nicolai und Buek entschließt sich Einstein im April 1918 noch einmal zu einem Versuch, der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen. Er verschickt an eine ausgewählte Schar deutscher Professoren ein Rundschreiben, in dem er zur konkreten Aktion auffordert, gegen die herrschende Feigheit und Resignation:

Das Geschrei engherziger Priester und Knechte des öden Machtprinzips erhebt sich laut, und die öffentliche Meinung ist durch zielbewußte Knebelung des ganzen Publikationswesens derart irregeführt, daß die Besser-Gesinnten im Gefühl trostloser Verirrung ihre Stimme nicht zu erheben wagen ... (Z. n. Fölsing 465f.)

Er sollte recht behalten. Auch die Besser-Gesinnten wagten ihre Stimme nicht zu erheben, Einsteins Initiative blieb ohne Echo.

Auch nach dem Kriege blieben Einstein, Buek und Nicolai verbunden. Ein Film über die Relativitätstheorie sollte durch Vorträge von Buek begleitet werden. Offensichtlich war der naturwissenschaftlich gebildete Philosoph, der gelegentlich mit den Mathematikern Gromer und Münz, Mitarbeitern Einsteins, in Kontakt kam, auch in dieser Hinsicht ein kompetenter Partner. Buek wurde dann Korrespondent der argentinischen Zeitung 'La Nacion', wo er an die Stelle seines Freundes del Vayo trat. (Del Vayo wurde später Außenminister der spanischen Republik.) Daneben war er als Herausgeber und Übersetzer tätig: achtbändige deutsche Gogol-Ausgabe (1909-1912), zwölfbändige deutsche Turgenjew-Ausgabe (1910-1931), Tolstoi-Ausgabe (1925), Herausgabe der naturphilosophischen Schriften von Immanuel Kant und der Gesammelten Werke von Miguel de Unamuno, Übersetzung der Memoiren von Alexander Herzen (1916) und anderes mehr.

Sein Weg nach 1933 ging dem von Einstein parallel. "Avènement de Hitler", schreibt er in seinem Lebensabriß. "Einstein et moi passons le même an 1933 à l'étranger, moi - en France, lui en Amérique". - "Einstein und ich gehen im selben Jahr 1933 ins Ausland, ich nach Frankreich, er nach Amerika."

Einstein freilich wurde vom Ruhm begleitet, Buek von der Armut. Als die Not am größten ist, in den Jahren nach dem Krieg, wendet sich sein Schicksalskamerad Emil Szittya um Unterstützung an Einstein. Der war sofort bereit zu helfen. Am 18.7.1953 schreibt Einstein an Szittya: "Er [Buek] ist ein vortrefflicher Charakter und zuverlässiger Mensch mit einem sozialen Gewissen". (Nachlaß Emil Szittya, z. n. Weinek)

Die sogenannte "Ascona-Bohème" von einst, so arm und machtlos sie war und was immer man ihr nachsagen mag, sie hatte eines: soziales Bewußtsein, soziales Gewissen. Von der Besatzung dieses untergegangenen Schiffleins, zu der in gewissem Sinn auch der große Physiker zählte, standen die meisten im Schatten, wenige im Licht. Tief unter Deck ein Otto Buek, ein Gusto Gräser; Einstein im Ruderhaus, weithin sichtbar. Die im Dunkeln... - "sieht man nicht".


Nachsatz:
War Einstein je in Ascona? Wir wissen es nicht. Doch im Geiste gewiß.




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1 So hat er sich auch um den nach der Revolution von 1919 inhaftierten Erich Mühsam gekümmert. Der schreibt am 31. Juli 1922 in der Festung Niederschönenfeld in sein Tagebuch: "Erfreut war ich von der Frage, die mir Professor Einstein stellen ließ, ob er sich in irgendeiner Form, bzw. in welcher, unserer annehmen kann. ... Einstein (ist) ... trotz seines Weltruhms, der ihm Einladungen in alle Weltgegenden einträgt, im eigenen 'Vaterland' seines Lebens nicht sicher. Er ist Jude und Pazifist - infolgedessen droht ihm in dieser glorreichen Republik auf Schritt und Tritt der Tod." (Tagebücher 300)

2 Über das Verhältnis Gräsers zu Buek und seinen Freunden sind mir keine näheren Angaben bekannt. Immerhin aber erinnert sich Franz Jung noch nach einem halben Jahrhundert an die "Filiale der Schwabinger in Ascona", die er selber gar nicht mehr mitbekommen habe: "aber [Leonhard] Frank und [Karl] Otten waren da mittendrin und die Graesers". (Briefe 1913-1963, S. 602)

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