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Wo
beginnt, wo endet der Monte Verità? Wo liegen seine Grenzen? Sicher ist
er
nicht gleichzusetzen mit dem Sanatorium von Oedenkoven.
Denn von dieser
Siedlungsgenossenschaft hatte sich schon 1901 die Mehrheit abgespalten,
auf
eigenen Grundstücken sich angesiedelt. Ihre Sympathisanten wie solche
der
Naturheilanstalt gesellten sich im Laufe der Jahre dazu, bauten Häuser
und pflanzten
Gärten. Sie bildeten am Ende einen Gesamtkomplex, durch ähnliche
Überzeugungen
aber durch keinerlei Gesetz oder Organisation verbunden: die
Gesinnungsgemeinschaft Monte Verità auf dem Hügel Monescia. Immerhin
schufen diese Ansiedler auch einen räumlich und baulich einigermaßen
geschlossene, wenn auch sehr lockere und durchlässige Einheit. Die
Entwicklung
und die Grenzen dieser Einheit sollen im Folgenden anhand von Bildern
nachgezeichnet werden. Die
Postkarte von Hans
Arp an Tristan Tzara vom 25. Mai 1918
zeigt einen frühen Zustand der
Besiedlung des Monte Monescia an,
vielleicht noch vor der Jahrhundertwende, möglicherweise aber auch
später. Die
Gebäude des Sanatoriums sind jedenfalls nicht zu erkennen (ob durch den
Bildrand abgeschnitten oder durch Bäume verdeckt?). Eine lange
Baumreihe,
vermutlich einen Weg säumend, zieht sich oberhalb des Bergfußes um den
Hügel.
Andere Baumreihen oder Häuserfolgen ziehen sich aufwärts dem Gipfel zu.
Ein
Gemäldeausschnitt von etwa 1907 bestätigt diesen Zustand. Hier
ist das Zentralhaus der Kuranstalt deutlich auszumachen. Von
seiner Gipfelposition zieht sich etwas wie eine weiße Mauer nach Osten.
Damit
dürften die ausgedehnten Kuranlagen im heutigen Park, wenn auch
größenmäßig
etwas übertrieben, angedeutet sein. Am seezugewandten Hang sind weiße
Flecken
zu erkennen, offenbar die beiden Häuser der Gebrüder Gräser und
vielleicht das
von Alexander de Beauclair. Ihnen gegenüber drei weitere
weiße Flecken – Häuser anderer Ansiedler. Zwischen diesen beiden
Hausreihen verläuft die Via Monescia, die heute noch vor dem ehemaligen
Grundstück der Gräsers vorbeiführt. Mit einem der weißen Tupfer in
Richtung
Sanatoriumspark könnte der Roccolo-Turm bezeichnet sein. Der größere
Weißfleck
auf halber Hanghöhe könnte die Pension ‚Heidelbeere’ meinen. Im
Januar des Jahres 1914 hat der Maler Alexander Wilhelm de Beauclair
eine
Lageskizze des Monte Verità gezeichnet. Die Abbildung bei Szeemann
(Katalog S. 13)
ist so klein, und vielleicht war schon die Vorlage so undeutlich, dass
die
beigefügten Namen nur schwer oder gar nicht zu entziffern sind. Aber Eines wird
schon beim ersten Blick auf diese karge Skizze klar:
Das Sanatorium von Oedenkoven
macht nur einen bescheidenen Bruchteil
dieses
Geländes aus. Blau:
Sanatorium Oedenkoven;
grün: Grundstück von de Beauclair; rot: Grundstück von Karl Gräser Und das auch im
geistigen Sinn. Denn während von den Gästen der
Kuranstalt kaum jemand im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt sich
erhalten hat,
finden sich außerhalb seiner Zäune jene Namen, die uns in Geschichte
und
Geschichten überliefert sind: Johannes
Nohl, Raphael Friedeberg, Anna
Fischer-Dückelmann, Emil
Ludwig, Max Kruse, Baron Wrangell, Carlo
Vester, die
Gebrüder Gräser und so fort. Kurz
und schlicht: Jener Monte Verità, der ein Stück Geschichte geschrieben
hat,
Kunst- und Geistesgeschichte, lebte außerhalb des Sanatoriums. Zwar
waren die
meisten dieser „Externen“, wie schon Grohmann, oder
„Sezessionisten“,
wie Mühsam sie nennt, ursprünglich Gäste des
Sanatoriums gewesen oder gar
Teilhaber
der ursprünglichen Genossenschaft, wie die Gräsers, im Laufe der Zeit
aber
waren sie ausgewandert, hatten sich selbständig gemacht, nicht wenige
aus
Opposition und Protest: Auszug der Intelligenz. Grundstücke wurden
gekauft,
Häuser gebaut, Wege geebnet. So legte sich, ausblutend und ausblühend,
um den Kern
Sanatorium ein breiter Schleier von Gebäuden, unter dem östlichen
Gipfel
beginnend bis hinunter zum See. Ein zweiter „Monte Verità“ entstand,
den man im
Unterschied zum „Monte Oedenkoven“ des Sanatoriums nach seinen
Pionieren den
„Monte Gräser“ nennen könnte. Gusto Gräser, dann sein Bruder Karl,
zusammen mit
Jenny Hofmann und Lotte Hattemer, waren die Ersten gewesen, die sich
von
Oedenkoven losgesagt hatten. Erich Mühsam, Raphael
Friedeberg, Johannes
Nohl, Otto
Gross, Käthe
und Max Kruse, Fritz Brupbacher und andere, auch
sie
zunächst
Gäste des Sanatoriums, waren diesem Schritt gefolgt. So wuchs auf
engstem Raum eine Kolonie von Malern, Schriftstellern,
Reformern und Ärzten. Die vier Eckpunkte dieser Landschaft der
Kreativen werden
bezeichnet von dem deutschrussischen pazifistischen Schriftsteller
Baron von
Wrangel im Nordosten, von dem ungarischen Ex-Ingenieur und Tolstoianer Vladimir
Straskraba-Czaja (Pension Heidelbeere) im Süden, von dem
deutschjüdischen Schriftsteller Emil
Ludwig im Südwesten und dem Bildhauer Max Kruse im Nordwesten.
In
der
unteren Mitte etwa die Naturärztin Anna
Fischer-Dückelmann. Planmitte:
Unmittelbar anschliessend an das
Sanatorium befinden sich, auf der Südseite des Berges, die Grundstücke
und
Häuser von Alexander Wilhelm de Beauclair und Karl Gräser. Benachbart
zu
Gräser: Siegel und der Zahnarzt Dr. Schneider. In der Richtung nach dem
See zu
stehen die Häuser von Dr. Wilhelm, Marga Liebetreu, Frau Dr. Paulus,
Frau
Steindamm und Dr. Raphael Friedeberg. Johannes Nohl besass zwar kein
Haus,
hatte aber ein Grundstück erworben.Rechts von der unteren Wegkreuzung
die Villa
Aurora von Dr. Schneider. Ihre
Motive zur Ansiedlung können stellvertretend für die meisten anderen
stehn: Widerstand
gegen Krieg, Militarismus und Despotismus (Gräser, Friedeberg, Nohl,
Wrangel,
Straskraba), Ausbruch aus liebesfeindlicher Spießermoral (Ludwig,
Kruse), lebensreformerische
und naturheilkundliche Überzeugung (Dückelmann), Liebe zum Schönen in
Natur und
Kunst (Kruse, de Beauclair), theosophisch-anthroposophische und andere
spirituelle Überzeugungen (Paulus, Steindamm, Langvara, Schneider). Die
Reformärztin Dr. Anna Fischer-Dückelmann, damals die in Deutschland
bekannteste
Naturärztin überhaupt, steht für Reform in der Heilkunde, die Gebrüder
Gräser
für Reform auf allen Gebieten des Lebens. Zwei andere Namen in der
Mitte sind
der Maler Alexander Wilhelm de Beauclair und seine Frau Friederike,
ebenfalls
Malerin. Die
Ärzte (und andere Doctores) sind stark vertreten: Dr. Raphael
Friedeberg, Dr.
Wilhelm, die anthroposophischen Ärzte Dr. Rascher und Dr. Schneider,
Frau Dr.
Paulus, Frau Dr. Anna Idona Zehnder (1877-1952) und Frau Dr. Anna
Fischer-Dückelmann
(1856-1917). Viele
Namen sind nicht entzifferbar. Aber wir dürfen annehmen, dass sie aus
denselben
Motiven sich angesiedelt haben. Es sind Sucher nach Wahrheit,
Schönheit,
Gerechtigkeit und Gesundheit zugleich. Keine Künstlerkolonie: eine
weltanschauliche Kolonie aus dem Geist der Lebensreform und einer neuen
Spiritualität. Einigendes Band und Hauptwurzel ist die „naturgemäße
Lebensweise“, im besonderen der
Vegetarismus. Von
dieser Praxis her, die im Christentum keine Stütze fand, in ihrer
Natur- und
Leibbejahung sogar einen entschiedenen Gegner, von daher die Suche nach
geistiger Grundlegung und Ausfaltung in alle Richtungen. Der Zug zur
Natur
musste die christlich geprägte Kultur in Frage stellen und nach eigenen
Symbolen suchen. Das Dorf der „Externen“ wurde so zu einem Dorf der
Weltanschauungen, von der Diätetik der Vegetarier und der Esoterik der
Theosophen über die Ekstatik der Gräsers, den Tanzkult Labans und die
Sexualrevolution von Gross bis zum Aktionismus der Sozialisten und
Anarchisten. Besonders herauszuheben ist der Weg, der vom Hause des Barons Wrangell bis zu den Häusern der Gräsers und de Beauclairs den Gipfel des Hügels wie ein Halsband umschließt. Man könnte ihn den „Weg der Intelligenz“ nennen. Rechts oben im Bild finden wir die Casa Günzel. In diesem Haus sammelten sich um den Psychiatersohn Robert Binswanger um 1919 die Schriftsteller Bruno Goetz und Friedrich Glauser, die Tänzerinnen Mary Wigman und Katja Wulff, die Malerin Elisabeth Ruckteschell und andere Malerinnen. Wenig unterhalb der Casa Günzel entdecken wir die Zuschrift „Torre“. Hier dürfte es sich um den berühmten Vogelfängerturm handeln, das „Roccolo“, in dem einige Jahre die Puppenmacherin Käthe Kruse wohnte, in dem dann die berüchtigte Franziska zu Reventlow ihre Bücher schrieb und nach 1918 dann Werner von der Schulenburg.
Etwas
weiter unten, in der Villa Aurora seines Freundes Dr. Schneider,
brachte Hesse
seinen Mäzen, den Waldorf-Astoria-Gründer Emil
Molt, unter. In den
Häusern der
Gräsers gingen er und Bloch und Mary Wigman in
der Kriegszeit ein und
aus. Auch
der Tiefsee- und Stratosphärenforscher Auguste
Piccard und die
Pianistin Elly
Ney. Mit dem benachbarten Maler de Beauclair stand Hesse lange im
Briefwechsel.
Im Laufe des Krieges siedelten sich der russische Maler Alexej
Jawlensky, die
Rilke-Freundin Lou Albert-Lasard und der rumänische Maler Arthur
Segal
in der
Nähe an. Bei de Beauclair lernten die Maler Carlo
Mense und Heinrich
Maria
Davringhausen, bei Arthur Segal lernten oder wohnten Hans Arp, Sofie
Täuber, Artur
Bryks. Bei Karl Gräser arbeiteten zeitweise Oskar Maria
Graf und Georg
Schrimpf.
Das
Gräserhaus in 2004 Auf engstem Raum,
in dörflich-nachbarlicher Nähe, trafen sich
Menschen verwandten Geistes. Der Wille zur Veränderung auf allen
Gebieten war
ihnen gemeinsam. Im Russenhaus sollen sich, der Legende nach, zeitweise
Lenin
und Trotzki aufgehalten haben. (Es entstand aber erst später; Gespräche
der
Gräserbrüder mit Lenin sind jedoch bezeugt.) In der nicht weit
entfernten Mühle
von Ronco nisteten sich die Grossianer ein. Das waren die Extremisten
der
Szene, nicht eben gern gesehen. Andere wie die Millionärsfrauen
Steindamm,
Paulus und Langvara widmeten sich dem Spiritismus und anderen okkulten
Praktiken.
In der Mitte – in übertragenem Sinn – zwischen den von Schmuggel und
Raub sich
nährenden Anarchisten und den von Aktien und Pensionen zehrenden
Großbürgern lagen
die beiden Häuser von Karl Gräser. Eine Luftaufnahme von 1929 zeigt
ihre Lage
im Gefüge des mittleren Monte Verità. (Mit Dank an den Inhaber der
Rechte
Wolfgang Wackernagel!) Foto:
ymago.net Zu dieser Zeit ist der Hotelbau durch von der Heydt schon errichtet. Auch die anderen Gebäude des ehemaligen Sanatoriums, Casa Anatta und Casa Semiramis, scheinen renoviert worden zu sein. Sie leuchten weiß aus dem Gelände. Unterhalb der hochaufragenden Casa Semiramis das bescheidene Häuschen des Malers de Beauclair. Rechts unten die beiden von Karl Gräser erbauten oder restaurierten Häuser und sein großer Garten. In der Bildmitte unten ist als weiße Raute das freikragende Wellblechdach der einstigen Weinberghausruine zu erkennen, die Karls und Jenny Gräsers erste Unterkunft war. Das Haus ist bis heute, stark verändert, als „Casa Bambu“ an der Straßenkreuzung erhalten. Um 1906 wurde dann von den Brüdern das abgestufte „Doppelhaus“ rechts unten erbaut, später „Casa Francesco“ genannt. Von diesem Haus zieht sich in schwungvollen Kehren ein Weg hinauf zum Park des Hotels. Deutlich erkennbar ist das mehrstufige Gelände: ebene Wirtschaftsflächen wechseln ab mit baumbestandenen Hängen. Auf gleicher Höhe ganz links im Bild die Casa Angolo, von 1915 bis 1920 bewohnt von dem rumänischen Maler Arthur Segal, ein Treffpunkt für Künstler wie Arp, Täuber, Jawlensky und andere.
Wo
aber sind die Kunstwerke, die an Ort und Stelle geschaffen wurden? Die
gibt es
zwar - Labans Tanzdramen und Tanzbuch, Blochs Utopie-Buch, Jawlenskijs
mystische Köpfe, Wigmans Tanzstücke, Goetzens Reich-Roman, die sexual-
und sozialrevolutionäre
Theorie von Otto Gross -, aber was schwerer wiegt: es entstand ein
Klima begeisterten
Suchens und Experimentierens. Vorstöße in die Wildnis des Unbekannten
wurden
gewagt. Spitzenleistungen stehen nie am Anfang. Den Ernsthaftesten
unter den
Ansiedlern ging es um eine Revolution der Gesamtkultur, nicht um
Hochleistung
in einem begrenzten Fach. Wer so weit zielt, darf keine Ergebnisse auf
kurze
Frist erwarten. Sein Zielgebiet ist die Zukunft, sein Feld ist die Welt. Vielleicht
das Beste, was Oedenkoven geschaffen hat, war seine Namensfindung (wenn
es denn
seine Idee war): Monte Verità – Berg der Wahrheit. Damit war ein
Anspruch
erhoben, der größtmögliche überhaupt, der das Unternehmen über alle
kurzgreifenden Versuche hinaushob in den Raum der Utopie. Es sollte ja,
nach
Oedenkovens eigener Erklärung, damit nicht ein Besitz von Wahrheit
angezeigt
werden sondern ein Suchen nach ihr. Im Unterschied zu den staatlich
gestützten
und geschützten Wahrheitsinstitutionen Universität, Wissenschaft und
Kirche
sollte hier frei, unabhängig und aus eigener Kraft Wahrheit erforscht
und
Wahrheit gelebt werden. Durch seine Umdeutung der ursprünglichen, als
autark
gedachten Genossenschaft in ein vom zahlenden Publikum abhängiges
Sanatorium
hatte Oedenkoven diesen Anspruch, nur der Wahrheit zu dienen und zu
leben,
aufgegeben. Darin, im Verlust der ideellen Perspektive und
Glaubwürdigkeit lag der tiefere Grund für den
Auszug der Sezessionisten, darin auch der Grund für das Scheitern des
Sanatoriums. Auf
dem „Monte Oedenkoven“ wurde gewirtschaftet, auf dem „Monte Gräser“
wurde
gedacht, gedichtet, gestaltet. Unter großen Leiden und Entbehrungen.
Hier aber
entstanden Deutungen, Entwürfe von Wahrheit, die weiterwirkten: Otto
Gross
entwirft sein Konzept der sexuellen Revolution, Johannes Nohl will
Psychoanalyse und Religion zusammen-führen, Hermann Hesse will die
dunkle und
die lichte Weltseite im Symbol des Abraxas vereinigen, Ernst Bloch
sieht die
Wahrheit latent im utopischen Raum der menschlichen Traumkraft, Rudolf
von
Laban findet sie im Rhythmus, will sie in kultischen Festspielen
inszenieren,
Gusto Gräser setzt dem cartesischen „Ich denke, also bin ich“ seine
eigene „Allweltordnungsfuge“
entgegen, eine Welt- und Wahrheitsformel, die das Ich ausschließt: Wir
leben nur
als Glieder des Weltenbaums, als Mitschaffende im „Baum-bin-im-baun“. Das
Denkerdorf, zugleich eine Ansammlung von Gärten, hat Früchte getragen.
Sie sind
dort gereift, wo Menschen sich den Ansprüchen des Staates, den Regeln
der
Gesellschaft und den Zwängen der Wirtschaft weitgehend entzogen haben:
im
Halsband um die Kuppe des Monte Verità. Die Maler Carlo Mense und
Heinrich Davringhausen in Ascona, 1914 Freilich
– man darf sich diese Aussteigerkolonie nicht als eine akademische
Gesellschaft
vorstellen. Das Denken und Dichten erwuchs hier aus der Lebenspraxis,
oft genug
aus dem Leiden. Gusto Gräser hatte 1901 den Fahneneid verweigert und
war dafür
in den Militärkerker gegangen. Der deutsch-russische Baron Paul von
Rechenberg-Linten hatte zwei Jahre in der Festung Gregoriowostok
verbracht,
vermutlich seiner tolstoianisch-theosophischen Überzeugung wegen.
Sicher war
dies der Fall bei dem slowakischen Arzt Dr. Albert Skarvan, der wegen
Verweigerung des Militärdienstes sein Arztpatent verlor und in
österreichisch-ungarischen
Gefängnissen seinen Widerstand zu büßen hatte. Was den ehemaligen
General und
Erzieher des letzten Zaren, Baron von Wrangel, bewogen hat, auf den
Monte
Verità zu ziehen, ist unbekannt. Da er als leidenschaftlicher Pazifist
auftrat
und schrieb, sind seine Gründe jedoch nicht schwer zu erraten.
Überhaupt fällt
auf, wie viele Russen sich auf dem Berg angesiedelt haben. Neben
Wrangel die
beiden Barone Rechenberg-Linten, der deutschbaltische Schriftsteller
Bruno
Goetz mit Schwester und Mutter, der ebenfalls als Baron bezeichnete
Russe Eduard Erdberg, die Malerinnen Zawestowska,
Mischka, Werefkin und der
Vegetarier Brempel. Zu Aufenthalten kamen zeitweise der
deutschrussische
Philosoph Dr. Otto Buek, der anarchistische Denker Peter Kropotkin und
die
Revolutionäre Lenin und Trotzky. Die Revolutionärinnen Vera Figner und Lydija
Petrovna erholen sich auf dem Monte Verità von ihren Leiden. In den
Semesterferien der Jahre 1905/6 wurde Ascona von russischen Studenten
geradezu
überschwemmt. Dass dieser Zustrom mit der gescheiterten Revolution von
1905 zu
tun hatte, kann nur vermutet werden. Gesichert ist jedenfalls, dass es
in
diesem Jahr einen Durchzug von Revolutionsflüchtlingen aus dem
Zarenreich gab.
Lotte Hattemer liest ihnen mit hohem Pathos aus Nietzsches
‚Zarathustra’ vor. „Unter
den Russen genießt der Monte Verità eine ungeheure Popularität“
schreibt ein
Historiker über diese Zeit[1].
Der Name des bis heute bestehenden „Russenhauses“ zeugt davon. Das
Denken kam hier aus dem Leiden, aus politischem und kulturellem
Widerstand. Man
fühlte sich als Schicksalsgemeinschaft, solidarisch mit allen, „denen
sich
gegen Knechtschaft und Vergewaltigung in echtem Grimme der Mensch
aufbäumte“[2].
Und darum als „Vorkämpfer einer in jeder Hinsicht besseren, freieren
und
schöneren Gesellschaft“[3]. Die Dichterin Emmy
Hennings in Ascona, 1917 Die
wenigsten dieser Zuzügler lebten, wie Wrangel, in Villen oder alten
Palazzos. Der
Russe Nicol lebte auf dem flachen Dach der Casa Angolo in einer
aufrecht
stehenden Kiste, später in den Saleggi in einer räderlosen alten
Postkutsche. Die
Baronin Rechenberg-Linten, Witwe von Paul, ging nach dem Tode ihres
Mannes ins
Collegio Papio Kartoffel schälen, um zu überleben. In Ascona hoch
geehrt wurde
der Russe Eduard Erdberg, weil er sich während der Grippe-Epidemie von
1918,
der viele Einwohner zum Opfer fielen, mutig und hingebend in den Dienst
der
Kranken stellte. „Wie andere Russen von Ascona hatte er gegen Ende der
Zarenzeit sein Vaterland, seinen Rang, seinen Besitz aufgegeben und das
Leben
eines Armen unter Armen gewählt. … Ein Mensch, der alles zu tun, alles
zu geben
bereit war … Ich erinnere mich, wie er oft zu mir kam, um für eine
Kollekte zu
sammeln oder Kalender des Roten Kreuzes zu verkaufen. So ging er von
Tür zu
Tür, immer mit kalten Händen und immer dankbar für einen Kaffee“[4].
In Ascona hieß er nur “el barön di zòcar”, „der Baron des Zaren“. 1923
wurde
ihm die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde verliehen. Die
„Straße der Intelligenz“ von der Höhe der Wrangels bis hinunter zum See
war
auch eine Straße der Leiden. Zuunterst „residierte“ Gusto
Gräser zeitweise unter einem Brückenbogen.
Ein alter Asconese erinnert sich: “Era
un povero
CHRISTO e viveva dentro l’ultima arcata, sotto la Strada che va à
Brissago. - Er
war ein armer CHRISTUS und wohnte unter dem letzten Arkadenbogen unter
der
Straße nach Brissago.“[5]
Die Bogen der
Brissagobrücke in Ascona Fussnoten: [1] Schischkin, Michail: Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer. Limmat Verlag Zürich 2003, S. 257. [2] Erich Mühsam: Ascona. Eine Broschüre. Locarno 1905, S. 59. [3] Erich Mühsam ebd., S. 58. [4] Caterina Beretta: La mia Ascona.
Bellinzona 1980, S. 17f. [5] Ferdinando
Bacchetta in GiorgioVacchini: Ascona. Verdetti popolari e documenti.
Ascona
1996, Nr. 1477 |
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